Janos Plesch: Begegnung auf Capri

Der Ungar János Plesch (1878 - 1957) war zu seiner Zeit ein berühmter Arzt und Weltmann, befreundet mit Künstlern, Politikern, Wissenschaftlern wie Max Slevogt, Walter Rathenau, Albert Einstein. In seinen Lebenserinnerungen erzählt er von seinem Besuch, der zwischen 1903 und 1912, am ehesten wohl um 1910 stattgefunden haben muss:  

Ich wanderte eines Morgens in Capri herum, um einen Katzenjammer ausrauchen zu lassen, den ich mir mit dem „letzten Bohemien“ Otto Erich Hartleben in seinem Stammlokal, dem „Kater Hidigeigei“ angetrunken hatte. Da stand ich plötzlich wie gebannt vor einem einsamen, weißgekalkten Haus, das eine herrliche Friessilhouette trug. Der Fries ging in der Höhe der ersten Etage um das Haus herum und stellte tanzende, bacchantisch fröhliche Jünglinge dar, die mit einem Zug wilder und zahmer Tiere im friedlichen Verein in ein heiteres Himmelreich zogen. Eine köstliche Symbolisierung von Glück und Ruhe. Es mußte ein Werk eines echten Künstlers sein. Von dem Fries unwiderstehlich angezogen, trat ich durch eine kleine Tür ein, wo ich in einem langen dunklen Korridor von einem etwas verschrumpften Weiblein nach meinem Wunsch gefragt wurde.

Ich antwortete mit einer Gegenfrage: wo und bei wem ich mich eigentlich befinde. Ich wurde sofort aufgeklärt, es sei das Haus und das Studio von Meister Dieffenbach. Und schon stand ich vor einem Mann, der in einem aschgrauen langen Kittel und in Sandalen, mit grauer Mähne und langem Bart wie ein lebendiggewordener Heiliger aus dem Evangelium aussah. Ohne viel umständliche Fragen wurde ich in das große Oberlicht-Atelier geführt, wo ein halbes Dutzend Jünglinge versammelt waren, jeder im kurzen griechischen „Chiton“, den Kopf mit einem farbigen Band geschmückt. Jeder sah aus wie der selige Orestes, und jeder Orestes stand an einer Staffelei und malte. Die Wände waren voll von frisch vollendeten Bildern, die Zeugnis ablegten von einer besonderen Technik, einer bemerkenswerten Plastizität. Das Sujet war meistens etwas mit Tieren; aber dann gab es auch das Thema der Zwillingsfelsen von Capri, der sogenannten Faraglioni.

Auffallend war mir ein herrlicher Rehbock mit einem Heiligenschein, den die aufgehende Sonne um sein Haupt strahlte. Und rings um dieses Haupt standen in Flammenschrift die Worte: „Du sollst nicht töten.“ Das Tier sollte nicht leiden.

Ich wurde in meiner ersten Betrachtung und meinem Staunen von niemand gestört. Erst als ich langsam zu mir kam, wurde mir klar, daß ich mich bei dem Schöpfer des “betenden Jünglings“ befand – jener Gestalt, die ich in Miramare, bei Triest, im Schloß der Kaiserin Elisabeth bewundern dufte. Was mich bei diesem Bild am meisten faszinierte, war  die Tatsache, daß der Künstler, um der starren, klassischen Skulptur eines betenden Jünglings mit zum Himmel gerichteten Augen und Armen Leben einzuhauchen, Wogen und Palmen zeigte, die vom tobenden Sturm ihm entgegengepeitscht wurden. Nun wurde ich gewahr, wo ich mich befand. Das war ja der verfolgte Dieffenbach, dem wir Mediziner eigentlich die Anregung des Stoffwechsel-studiums verdanken. …

Das Natürlichste, das er, meinem Empfinden nach, geschaffen hatte, waren Abbilder der Faraglioni – von allen Seiten und Sichten. Diese herrlichen Naturgebilde hatten seine Phantasie auch vom architektonischen Gesichtspunkt stark angeregt. Er sah in ihnen die von Gott geschaffenen Tragsäulen eines „Templum Humanitatis“ – eines Menschheitstempels, den er um sie herum errichten wollte. Die großartigsten Projekte hatte er ausgearbeitet für dieses Bethaus, zu dem die Menschheit hinansteigen sollte, um edler, gütiger, kultivierter zu werden. Das Schicksal hat es verhütet, daß etwa dieses Projekt im schreienden Widerspruch zu unserer Zeit verwirklicht worden wäre.

Jedenfalls hatte ich genügend Grund, vor Dieffenbach zu verheimlichen, daß ich Arzt bin; sonst hätte ich a limine alles bei ihm verscherzt. So aber schlossen wir Freundschaft, und ich durfte etwa zwei Wochen in seiner reinen Atmosphäre leben. Wir hatten gemeinsame Mahlzeiten, die mir unvergeßlich bleiben, weil Dieffenbach zu ihrer Besorgung vorher auf die Weide ging. Ja, er hat richtig dafür gegrast. Dieffenbach war die schärfere Form eines Vegetariers, nämlich ein Vegetabilianer; ein Rohkostler im strengsten Sinne desWorts …

Bis zum ersten Weltkrieg blieb ich mit Dieffenbach in enger Korrespondenz und hörte stets zu meiner größten Freude, daß es nicht nur ihm körperlich gut ging, sondern auch der Schwägerin. Vivat Knoblauch!

Aus: János Plesch: János. Ein Arzt erzählt sein Leben.
München, Leipzig, Freiburg i.Br.: List 1949, S. 285ff.
 

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