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Der Heiland im Kornfeld

In seinen späten Jahren macht Hesse im Gespräch mit einem Bekannten, der gerade vom Monte Verita kommt, eine mündliche Aussage über Gräser. Es ist die einzige bekannt gewordene Aussage des Schriftstellers über seinen Freund gegen Ende seines Lebens. Und was sagt er da?
Uli Münzel berichtet:


1952 besuchten meine Frau und ich Hermann Hesse in Montagnola. Wir kamen vom Monte Verita in Ascona, wo meine Frau aufgewachsen war. ...
Hesse erinnerte sich dabei an Gusto Gräser ... Er erzählte von ihm in seiner langsamen Sprechweise folgende Anekdote: Gräser sei mit seinen langen Haaren, dem wallenden weißen Gewand und den Heilandssandalen mit schwingenden Armen durch das hohe Kornfeld eines Bauern geschritten. Der Bauer sei ihm wutentbrannt nachgelaufen und habe ihn von hinten her beschimpft. Gräser habe sich hoheitsvoll umgewandt und gesagt: „Was willst du, mein Sohn?“ Da sei der Bauer zitternd in die Knie gesunken, habe die Hände gefaltet und gestammelt: „Das ist ja unser Herr und Heiland!“
Uli Münzel in: Hermann Hesse in Augenzeugenberichten. Hg. von Volker Michels.
Frankfurt am Main 1987, S. 283f.

Scheinbar eine Anekdote, in Wirklichkeit ein Gleichnis, eine Parabel. Er kleidet die Quintessenz einer fünfzigjährigen Beschäftigung mit seinem Guru in ein symbolisches Bild.
Was sagt Hesse? - Gräser sei mit schwingenden Schritten durch das Kornfeld eines Bauern gegangen. Der Bauer habe ihn von hinten beschimpft. Als aber Gräser sich umgedreht habe, sei er in die Knie gesunken, habe die Hände gefaltet und gestammelt: „Das ist ja unser Herr und Heiland“.
Was wollte Hesse uns mit diesem Gleichnis sagen? - Ganz klar doch dies: Ihr seid wütend auf Gräser, weil er Eure ausgetretenen Gedankenbeete zerstört. Ihr seht ihn wie der Bauer nur von hinten. Würdet Ihr ihn sehen, wie ich ihn sehe, nämlich von vorn, von Angesicht zu Angesicht - Ihr würdet zu Boden sinken und reden wie der Bauer.