Siddharta



Die Weisheit des Siddharta

In der Pagangrott von Arcegno lasen Gräser und Hesse
 im Frühjahr 1907 gemeinsam die hl. indischen Schriften

In keiner seiner anderen Schriften gestaltet Hesse so unmittelbar  - wenn auch in indischer Verkleidung - die Erkenntnisse, die ihm durch seine Begegnung mit Gusto Gräser geworden sind, wie in seiner Erzählung ‚Siddharta’. Wie schon oft beobachtet worden ist, überliefert er in diesem Buch jedoch weniger indisch-buddhistisches Denken als vielmehr chinesisch-taoistisches. Der Chinese Laotse war ihm nach 1918 zum geistigen Führer geworden, und dies gewiss vor allem durch die Nachdichtung Gräsers, die ihn im Januar 1919 erreichte. Neben einer Vielzahl kleinerer Motive, die auch in anderen Werken wiederkehren, sind es vor allem folgende Hauptmotive des 'Siddharta', die sich aus Hesses Begegnung mit Gräser und dessen Werk herleiten oder doch von dorther wesentlich gefördert wurden: 

 

Vignette von Gräser

I Biographische Hauptmotive:

1. Eine kleine Gruppe von Samanas, wandernden Bettelmönchen, ziehen durch die Stadt des jungen Siddharta.

Einst waren Samanas durch Siddhartas Stadt gezogen, pilgernde Asketen, drei dürre, erloschene Männer, nicht alt noch jung, mit staubigen und blutigen Schultern, nahezu nackt, von der Sonne versengt, von Einsamkeit umgeben ... (V, 360)

Eine kleine Gruppe von wandernden "Sonnenbrüdern" war im Frühjahr 1907 durch Gaienhofen gezogen.

Ein neuer Sommer zog herauf. Und einmal stapften vier wunderliche Gestalten durchs Dorf, mit langen Haaren, Sandalen und nackten Waden. Sonnenbrüder aus Ascona ...  (Ludwig Finckh: Himmel und Erde, S. 41f.)

2. Siddharta wird ein Samana – wie Hesse 1907, als er mit Gräser in Wald und Höhle zusammenlebte.

Ich hatte es nötig, buddhistisch am Nirwana hinzustreifen. Die „Welt der Gestaltungen“ interessierte mich nimmer. Also war ich jenseits … (HH: 30.12.1907 an Jakob Schaffner)

Als junger Mann aber zog ich den Büßern nach, lebte im Walde, litt Hitze und Frost, lernte hungern, lehrte meinen Leib absterben. (GW V, 427)

Das konnte auch Hesse von sich sagen.

Die Pagangrott im Wald von Arcegno

3. Siddharta lebt mit Vasudeva in einer Laubhütte zusammen – wahrscheinlich eine Erinnerung Hesses an sein Zusammenleben mit Gräser in dessen Laub-hütte bei der Höhle von Arcegno; ein Motiv, das mehrmals wiederkehrt: auch in 'Die Zuflucht', auch im 'Glasperlenspiel'.

(Vasudeva): "Einst hast du in meiner Hütte geschlafen, lange ist es her, wohl mehr als zwanzig Jahre mag das her sein ... " (V, 433)

Lang war es her, nicht zwanzig aber immerhin vierzehn Jahre, dass Hesse in Gräsers Hütte geschlafen hatte.

Mühsam und gebrochen erreichte ich die Hütte wieder ... legte mich vorsichtig auf die Laubstreu und hatte keinen Wunsch, als nun zu schlafen oder zu sterben. (HH: In den Felsen. In: Mat. Siddh. II, 341)

Im ‚Glasperlenspiel’ beschreibt Hesse diese Hütte näher: Sie ist aus Farnkraut geflochten, wie es auf den Felsen von Arcegno heute noch waldartig und in Mannshöhe wächst.

Zwischen hohen Farnen, welche wie ein dichter kleiner Wald im großen Walde standen … entdeckte er unter einem vielstämmigen Baume eine kleine Hütte, eine Art von spitzem Zelt, aus Farnen gebaut und geflochten.“ (GW IX, 572)

Gusto Gräsers Laubhütte im Wald von Arcegno:
Neben einem Baum eine Art von spitzem Zelt.

4. Siddharta trennt sich von seinem Lehrer (Buddha) – wie Hesse 1909 und dann wieder 1919, als er Gräser jedenfalls die äußere Nachfolge verweigerte. (Man vergleiche dazu die Vorbild- und Imitatio Jesu-Thematik in den Tagebüchern von 1918 und 1920/21!) Zitat:

(Siddharta): "Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, den  ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu sterben." (V, 381)

Er stellte fest, daß eines ihn verlassen hatte ... der Wunsch, Lehrer zu haben und Lehren zu hören. (V, 383)

Hesse ist nicht zu seinem Lehrer zurückgekehrt. Er hat dessen "Lehre" zu seiner eigenen gemacht und sie an die Menschheit weitergegeben.

GG: Noch viel weniger will Ich Dir Lehren geben, die magst Du Dir Selber ziehen, soviel Du sie brauchst, auf daß Du Mir ja kein Anhänger werdest, vielleicht aber ein Freund!

                                                       (Gräser: Ein Freund ist da! Berlin 1912, S.3)

II  Das Bild und Beispiel des Freundes

Die Charakterzüge und Verhaltensweisen, die Hesse seinem Buddha bzw. Vasudeva zuschreibt, sind zugleich diejenigen von Gusto Gräser:

Hauslosigkeit, Wandern, Armut, Fasten, Meditieren, Leben von Wasser und Brot, innere Ruhe, Lächeln, Wartenkönnen, Zuhören, Schweigen... undsofort.

War er nicht ein Samana, ein Heimloser, ein Pilger? (V, 419)

Gräser war ein Samana, ein Heimloser, ein Pilger.

III Gedankliche Hauptmotive

1. Nicht-Lehren

Es gibt keine Lehre, die Wahrheit kann nur gelebt werden.

GG: Hah – hochwohlweisliches Tugendgelehr – gelehrt ist die Taugliche tüchtig nit mehr! (TAO).
Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Wahrhaftigkeit. Bi ba lehren – lerne zu leben!

HH: (Siddharta): "Keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre!" (V,381)

 

2. Ziellosigkeit

Es gibt kein Ziel, Leben geschieht im Hier und Jetzt.

GG: Wandern – wohin? Nirgendhin. Hier wandelwohnen!

Hier wo ich tief walleweil, hier treffen sich alle die Zonen! (TAO)

HH: "Wohin gehst du, o Freund?" – "Nirgendhin gehe ich. ..." – Sprach Siddharta: "Auch mit mir steht es so, Freund, wie mit dir. Ich gehe nirgendhin. Ich bin nur unterwegs." (V, 424)

GG: Und bist genesen Du vom Ziel, ist Dir der Ring gelungen, so komm, Gesell, zum großen Spiel bist Du dann wohlgelungen! (TAO)

HH: Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben. (V, 461)

 

Was Ziel? - Allhier das Lebespiel!

3. Selbstsein

Es gibt nicht den einen Weg, jeder muss seinen eigenen Weg finden.

GG: Hüt Dich vor Mir – Du, komm zu Dir!

HH: "Bei mir selbst will ich lernen, will ich Schüler sein, will mich kennenlernen, das Geheimnis Siddharta." (V, 384)

     

Flugblatt, Ascona 1917

4. Im Fluss sein, mit dem Strom fließen

Der Fluss als Symbol des Wandels und der Einheit im Wandel.

GG: Mit dem Strom – wallen, walten voll Stillgewalth.

HH: Liebe dies Wasser! Bleibe bei ihm! Lerne von ihm! (V, 431) - Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens ... das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens. (V, 459)

GG: Wer wahrhaft Strom, der wird strömen und also sein Strombett auch finden. Tief und tiefer fallen und wallen wird er, nit hoch, höher sich stellen. (TAO)

HH: (Vasudeva): "Sieh, auch das hast du schon vom Wasser gelernt, daß es gut ist, nach unten zu streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen." (V, 435)

5. Sich fallen lassen

GG: Lass dich nur fallen, lass dich los! – Hah, ich folge ihm, ich fall, mächtig angezogen, bummle mit dem Erdenball ein dreisten Bogen.

HH: Siddharta tut nichts ... er geht durch die Dinge der Welt hindurch wie der Stein durchs Wasser ... er wird gezogen, er läßt sich fallen.(V, 401)

 6. Lauschen, Hören

GG: Beginnen, also aufhören! – Beschaulich hören, gehörig schaun. – Wer hören kann, gedeiht. – Ihm kreist urschön Alllebens heitrer Fluss, weil hörn er kann, aufhören kann mit all dem Stuss – wahrnehmen kann voll Urvernunft, drum nimmer stören kann Allwelt-Zusammenkunft.

HH: Vor allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem Herzen, mit wartender, geöffneter Seele. (V, 436)

7. In die Einheit gehen

GG: Hör auf – es ist Alles Eins! (TAO) – Lebt doch nur Eins –  ein Lebensleib überall in uns!

HH: Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele ... jeden Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können. (V, 454)


8. Torheiterkeit

GG: Rund ist der Weg, den der Edle beschreibt, gleich einer Null, nichts will er scheinen. Krumm ist sein Weg, doch geht er ihn grad. ... Wäre sein Weg nicht null, nichtig wär er! (TAO)

HH: Närrisch ist er, dieser Weg, er geht in Schleifen, er geht vielleicht im Kreise. Mag er gehen, wie er will, ich will ihn gehen. (V,428)

GG: Hüll tiefer mich in dein Dunkel, mein härener Mantel, vor dem Verstandenwerden o hüt mich, du, der Weisheit, der "Narrheit" Gewand. (TAO)  

HH: (Siddharta): "Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen sucht, klingt immer wie Narrheit." (V, 462)

GG: Er wagte es, ein Narr zu heißen und war – ein Tor.

HH: Ich habe ein Tor werden müssen, um Atman wieder in mir zu finden. (V, 428)


9. Lachen

GG: Den Menschen zu erringen, ihr Redlichen, heran, auf dass wir höher bringen, was lachend leben kann! – Herzmann schlägt an, schlägt vor, schlägt ein mit Donnerwetterlachen! – Ein Vorschlag – so schlagt mit, lacht mit!

HH: Der Fluß floß sanft und leise ... aber seine Stimme klang sonderbar: sie lachte! Sie lachte deutlich. Der Fluß lachte, er lachte hell und klar den alten Fährmann aus. ... Siddharta aber ... (war) ... geneigt, über sich und die ganze Welt laut mitzulachen.  (V, 454f.)

GG: Hört – lacht das nit? Hah, lachet mit!

Ein Großteil der Zitate von Gräser stammt aus seinem TAO-Buch, das er im Januar 1919 an Hesse übersandt hatte. Die Übereinstimmungen mit den Aussagen in 'Siddharta' sind offenkundig. Wir sehen geradezu, wie Hesse sich abmüht, Gräsers Worte in eigene Formulierungen zu übertragen. Was er in 'Demian', in 'Zarathustras Wiederkehr' und in 'Klein und Wagner' schon versucht hatte, das Umsetzen der Erkenntnisse seines Freundes in seine eigene Sprache, das erreicht in dem Weisheitsbuch 'Siddharta' in indischer Ver-kleidung seinen äußersten – und gelungensten – Höhepunkt.

 
IV Der Entstehungsprozess

Der Bruch und die lange Pause nach der Niederschrift des ersten Teils von 'Siddharta' erklärt sich aus dem Umstand, dass mit dem "Gang zu den Samanas" und dem "Abschied von Buddha" das von Hesse selbst Erlebte erschöpft war. Zur Darstellung des zweiten Teils, der Siddharta als Sieger und Jasager zeigen sollte (als der, ganz im Gegensatz zu Hesse, Gräser sich immer fühlte und aussprach), musste Hesse die Weltschau seines Freundes sich erst meditativ zu eigen machen.

Dass die im 'Siddharta' in meditierend-phantasierendem Nachvollzug erreichte Höhe, da nicht selbst errungen, auch nicht lange zu halten war, zeigte sich sehr bald in dem Absturz zur Steppenwolf-Krise.

Die Erzählung 'Siddharta' stellt Hesses ausgeprägtesten Versuch dar, sich aus der seelischen und geistigen Abhängigkeit von seinem Freund und Meister zu befreien und zugleich dessen "Denkerschauungen" als seine eigene Lehre zu vermitteln.

V Abschied

Wenn ‚Siddharta’ ein Meditationsbild des Freundes und Meisters enthält, und zwar ein doppeltes: als Buddha und Vasudeva, wenn das Buch die „Lehren“ dieses Meisters wiedergibt, so ist es zugleich doch ein Abschied, der Versuch einer Loslösung. Siddhartas Abschiedsworte an Buddha sind zugleich Abschiedsworte Hesses an Gusto Gräser. Er ist sich bewusst, dass er eigene Erfahrungen sammeln muss, um der Weisheit, die er vermitteln will, gerecht zu werden.

„Vieles enthält die Lehre des erleuchteten Buddha, viele lehrt sie rechtschaffen zu leben, Böses zu meiden. Eines aber enthält die so klare, die so ehrwürdige Lehre nicht: sie enthält nicht das Geheimnis dessen, was der Erhabene selbst erlebt hat, er allein unter Hunderttausenden. Dies ist es, was ich gedacht und erkannt habe, als ich die Lehre hörte. Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu sterben.“ (GW V, 381)

 

Schriftzug von Gusto Gräser

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