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Siddharta |
Die Weisheit des Siddharta
In der Pagangrott von
Arcegno lasen Gräser und Hesse
im Frühjahr 1907 gemeinsam die hl. indischen Schriften
Vignette von Gräser
I Biographische Hauptmotive: 1. Eine kleine Gruppe von Samanas, wandernden Bettelmönchen, ziehen durch die Stadt des jungen Siddharta. Einst waren Samanas durch Siddhartas Stadt gezogen, pilgernde Asketen,
drei dürre, erloschene Männer, nicht alt noch jung, mit staubigen und blutigen
Schultern, nahezu nackt, von der Sonne versengt, von Einsamkeit umgeben ... (V,
360) Eine kleine Gruppe von wandernden "Sonnenbrüdern" war im Frühjahr 1907 durch Gaienhofen gezogen. Ein neuer Sommer zog herauf. Und einmal stapften vier wunderliche
Gestalten durchs Dorf, mit langen Haaren, Sandalen und nackten Waden.
Sonnenbrüder aus Ascona ... (Ludwig
Finckh: Himmel und Erde, S. 41f.) 2. Siddharta wird ein Samana – wie Hesse 1907, als er mit Gräser in Wald und Höhle zusammenlebte. Ich hatte es nötig, buddhistisch am Nirwana hinzustreifen. Die „Welt
der Gestaltungen“ interessierte mich nimmer. Also war ich jenseits … (HH: 30.12.1907
an Jakob Schaffner) Als junger
Mann aber zog ich den Büßern nach, lebte im Walde, litt Hitze und Frost, lernte
hungern, lehrte meinen Leib absterben. (GW V, 427) Das konnte auch Hesse von sich sagen.
Die Pagangrott im Wald von Arcegno 3. Siddharta lebt mit Vasudeva in einer Laubhütte zusammen – wahrscheinlich eine Erinnerung Hesses an sein Zusammenleben mit Gräser in dessen Laub-hütte bei der Höhle von Arcegno; ein Motiv, das mehrmals wiederkehrt: auch in 'Die Zuflucht', auch im 'Glasperlenspiel'. (Vasudeva): "Einst hast du in meiner Hütte geschlafen, lange ist
es her, wohl mehr als zwanzig Jahre mag das her sein ... " (V, 433) Lang war es her, nicht zwanzig aber immerhin vierzehn Jahre, dass Hesse in Gräsers Hütte geschlafen hatte. Mühsam und gebrochen erreichte ich die Hütte wieder ... legte mich
vorsichtig auf die Laubstreu und hatte keinen Wunsch, als nun zu schlafen oder
zu sterben. (HH: In den Felsen. In:
Mat. Siddh. II, 341) Im ‚Glasperlenspiel’ beschreibt Hesse diese Hütte näher: Sie ist aus Farnkraut geflochten, wie es auf den Felsen von Arcegno heute noch waldartig und in Mannshöhe wächst. Zwischen hohen Farnen, welche wie ein dichter kleiner Wald im großen
Walde standen … entdeckte er unter einem vielstämmigen Baume eine kleine Hütte,
eine Art von spitzem Zelt, aus Farnen gebaut und geflochten.“ (GW IX, 572) Gusto Gräsers Laubhütte im Wald von Arcegno:
Neben einem Baum eine Art von spitzem Zelt. 4. Siddharta trennt sich von seinem Lehrer (Buddha) – wie Hesse 1909 und dann wieder 1919, als er Gräser jedenfalls die äußere Nachfolge verweigerte. (Man vergleiche dazu die Vorbild- und Imitatio Jesu-Thematik in den Tagebüchern von 1918 und 1920/21!) Zitat: (Siddharta): "Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft
fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, den ich weiß, es gibt keine, sondern um alle
Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu
sterben." (V, 381) Er stellte fest, daß eines ihn verlassen hatte ... der Wunsch, Lehrer
zu haben und Lehren zu hören. (V, 383) Hesse ist nicht zu seinem Lehrer zurückgekehrt. Er hat dessen "Lehre" zu seiner eigenen gemacht und sie an die Menschheit weitergegeben. GG: Noch viel weniger will Ich Dir Lehren geben, die magst Du Dir
Selber ziehen, soviel Du sie brauchst, auf daß Du Mir ja kein Anhänger werdest,
vielleicht aber ein Freund!
(Gräser: Ein Freund ist da! Berlin 1912, S.3) II Das Bild und Beispiel des Freundes Die Charakterzüge und Verhaltensweisen, die Hesse seinem Buddha bzw. Vasudeva zuschreibt, sind zugleich diejenigen von Gusto Gräser: Hauslosigkeit, Wandern, Armut, Fasten, Meditieren, Leben von Wasser und Brot, innere Ruhe, Lächeln, Wartenkönnen, Zuhören, Schweigen... undsofort. War er nicht ein Samana, ein Heimloser, ein Pilger? (V, 419) Gräser war ein Samana, ein Heimloser, ein Pilger. III Gedankliche Hauptmotive 1.
Nicht-Lehren Es gibt keine Lehre, die Wahrheit kann nur gelebt werden. GG:
Hah – hochwohlweisliches Tugendgelehr – HH: (Siddharta): "Keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre!"
(V,381) 2.
Ziellosigkeit Es gibt kein Ziel, Leben geschieht im Hier und Jetzt. GG:
Wandern – wohin? Nirgendhin. Hier wandelwohnen! Hier wo ich tief walleweil, hier treffen sich alle die Zonen! (TAO) HH: "Wohin gehst du, o Freund?" – "Nirgendhin gehe ich.
..." – Sprach Siddharta: "Auch mit mir steht es so, Freund, wie mit
dir. Ich gehe nirgendhin. Ich bin nur unterwegs." (V, 424) GG: Und bist genesen Du vom Ziel, ist Dir der Ring gelungen, so komm,
Gesell, zum großen Spiel bist Du dann wohlgelungen! (TAO) HH: Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen
stehen, kein Ziel haben. (V, 461) Was Ziel? - Allhier das Lebespiel! 3.
Selbstsein Es gibt nicht den einen Weg, jeder muss seinen eigenen Weg finden. GG: Hüt Dich vor Mir – Du, komm zu Dir! HH: "Bei mir selbst will ich lernen, will ich Schüler sein, will
mich kennenlernen, das Geheimnis Siddharta." (V, 384) Flugblatt, Ascona 1917 4. Im Fluss sein, mit dem Strom fließen Der Fluss als Symbol des Wandels und der Einheit im Wandel. GG: Mit dem Strom – wallen, walten voll Stillgewalth. HH: Liebe dies Wasser! Bleibe bei ihm! Lerne von ihm! (V, 431) - Auf
seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens ... das einverstanden ist mit
dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens. (V, 459) GG: Wer wahrhaft Strom, der wird strömen und also sein Strombett auch
finden. Tief und tiefer fallen und wallen wird er, nit hoch, höher sich
stellen. (TAO) HH: (Vasudeva): "Sieh, auch das hast du schon vom Wasser gelernt,
daß es gut ist, nach unten zu streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen."
(V, 435) 5. Sich fallen lassen GG: Lass dich nur fallen, lass dich los! – Hah, ich folge ihm, ich
fall, mächtig angezogen, bummle mit dem Erdenball ein dreisten Bogen. HH: Siddharta tut nichts ... er geht durch die Dinge der Welt hindurch
wie der Stein durchs Wasser ... er wird gezogen, er läßt sich fallen.(V, 401) GG: Beginnen, also aufhören! – Beschaulich hören, gehörig schaun. – Wer
hören kann, gedeiht. – Ihm kreist urschön Alllebens heitrer Fluss, weil hörn er
kann, aufhören kann mit all dem Stuss – wahrnehmen kann voll Urvernunft, drum
nimmer stören kann Allwelt-Zusammenkunft. HH: Vor allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem
Herzen, mit wartender, geöffneter Seele. (V, 436) 7. In die Einheit gehen GG: Hör auf – es ist Alles Eins! (TAO) – Lebt doch nur Eins – ein
Lebensleib überall in uns! HH: Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele ... jeden Augenblick,
mitten im Leben, den Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und
einatmen zu können. (V, 454)
GG: Rund ist der Weg, den der Edle beschreibt, gleich einer Null,
nichts will er scheinen. Krumm ist sein Weg, doch geht er ihn grad. ... Wäre
sein Weg nicht null, nichtig wär er! (TAO) HH: Närrisch ist er, dieser Weg, er geht in Schleifen, er geht
vielleicht im Kreise. Mag er gehen, wie er will, ich will ihn gehen. (V,428) GG: Hüll tiefer mich in dein Dunkel, mein härener Mantel, vor dem
Verstandenwerden o hüt mich, du, der Weisheit, der "Narrheit" Gewand.
(TAO) HH: (Siddharta): "Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche
ein Weiser mitzuteilen sucht, klingt immer wie Narrheit." (V, 462) GG: Er wagte es, ein Narr zu heißen und war – ein Tor. HH: Ich habe ein Tor werden müssen, um Atman wieder in mir zu finden.
(V, 428)
9. Lachen GG: Den Menschen zu erringen, ihr Redlichen, heran, auf dass wir höher
bringen, was lachend leben kann! – Herzmann schlägt an, schlägt vor, schlägt
ein mit Donnerwetterlachen! – Ein Vorschlag – so schlagt mit, lacht mit! HH: Der Fluß floß sanft und leise ... aber seine Stimme klang
sonderbar: sie lachte! Sie lachte deutlich. Der Fluß lachte, er lachte hell und
klar den alten Fährmann aus. ... Siddharta aber ... (war) ... geneigt, über
sich und die ganze Welt laut mitzulachen.
(V, 454f.) GG: Hört – lacht das nit? Hah, lachet mit! Ein Großteil der Zitate von Gräser stammt aus seinem TAO-Buch, das er im Januar 1919 an Hesse übersandt hatte. Die Übereinstimmungen mit den Aussagen in 'Siddharta' sind offenkundig. Wir sehen geradezu, wie Hesse sich abmüht, Gräsers Worte in eigene Formulierungen zu übertragen. Was er in 'Demian', in 'Zarathustras Wiederkehr' und in 'Klein und Wagner' schon versucht hatte, das Umsetzen der Erkenntnisse seines Freundes in seine eigene Sprache, das erreicht in dem Weisheitsbuch 'Siddharta' in indischer Ver-kleidung seinen äußersten – und gelungensten – Höhepunkt.
Der Bruch und die lange Pause nach der Niederschrift des ersten Teils von 'Siddharta' erklärt sich aus dem Umstand, dass mit dem "Gang zu den Samanas" und dem "Abschied von Buddha" das von Hesse selbst Erlebte erschöpft war. Zur Darstellung des zweiten Teils, der Siddharta als Sieger und Jasager zeigen sollte (als der, ganz im Gegensatz zu Hesse, Gräser sich immer fühlte und aussprach), musste Hesse die Weltschau seines Freundes sich erst meditativ zu eigen machen. Dass die im 'Siddharta' in meditierend-phantasierendem Nachvollzug erreichte Höhe, da nicht selbst errungen, auch nicht lange zu halten war, zeigte sich sehr bald in dem Absturz zur Steppenwolf-Krise. Die Erzählung 'Siddharta' stellt Hesses ausgeprägtesten Versuch dar, sich aus der seelischen und geistigen Abhängigkeit von seinem Freund und Meister zu befreien und zugleich dessen "Denkerschauungen" als seine eigene Lehre zu vermitteln. V Abschied Wenn ‚Siddharta’ ein Meditationsbild des Freundes und Meisters enthält, und zwar ein doppeltes: als Buddha und Vasudeva, wenn das Buch die „Lehren“ dieses Meisters wiedergibt, so ist es zugleich doch ein Abschied, der Versuch einer Loslösung. Siddhartas Abschiedsworte an Buddha sind zugleich Abschiedsworte Hesses an Gusto Gräser. Er ist sich bewusst, dass er eigene Erfahrungen sammeln muss, um der Weisheit, die er vermitteln will, gerecht zu werden. „Vieles enthält die Lehre des erleuchteten Buddha,
viele lehrt sie rechtschaffen zu leben, Böses zu meiden. Eines aber enthält die
so klare, die so ehrwürdige Lehre nicht: sie enthält nicht das Geheimnis dessen,
was der Erhabene selbst erlebt hat, er allein unter Hunderttausenden. Dies ist
es, was ich gedacht und erkannt habe, als ich die Lehre hörte. Dies ist es,
weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere
Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle
Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu sterben.“ (GW V,
381)
Schriftzug von Gusto Gräser
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