Der  Sprung,  der  Meister  und  der  Tod

Wanderungen und Wandlungen im 'Glasperlenspiel'  

Drei Wanderungen: Der junge Knecht wandert von Eschholz nach Monteport, um dort seine Berufung durch den Meister zu erfahren. Der amtsmüde Knecht verläßt das Ordensland und wird dienender Begleiter des Wanderers Tito. Der ebenso amtsmüde Joseph Famulus wandert zu dem Eremiten Dion Pugil nach Askalon.

Drei Wanderungen, die eine einzige widerspiegeln: Hesses Weg von Gaienhofen zu seinem Freund und Meister nach Ascona, seinen Weg zu Gusto Gräser.

Die Ortsnamen sind nur leicht verschlüsselt, leicht zu entziffern: Eschholz = Haus am Erlenloh; Monteport = Monte Verità; Askalon = Askona. Loh bedeutet Holz, Wald; Esche und Erle sind zwei nah verwandte Baumarten, 'Haus am Erlenloh' hieß Hesses Villa in Gaienhofen. Von Eschholz nach Monteport zu wandern heißt also nichts anderes als: vom Haus am Erlenloh, das Hesse im Jahre 1907 bezog, zum Monte Verità nach Ascona zu wandern. Wie in eben jenem Jahr geschehen. Erste und zweite Wanderung verbindet zudem das Motiv der Flöte: Gräser war ein Flötenspieler. In dem Askona-Roman von Bruno Götz erscheint er als flötenspielender Buddha. Knecht zieht seine Blockflöte, die er seit seiner Eschholzer Zeit nicht mehr gespielt hatte, in dem Augenblick wieder hervor, als er Kastalien verlässt und das wiedergewonnene "Glück der Freiheit und Selbstbestimmung" (GW IX, 449) ihn durchflutet.

Die Flöte - Symbol für Freiheit, Zauber und Poesie - gehört zur Wanderschaft; sie steht für den Anhauch der Freiheit, die Gräser in Hesses Dasein, in sein Schriftsteller-Mönchtum gebracht hat. In der 'Morgenlandfahrt' ist es ein anderes Musikinstrument, die Geige, die jene selbe Berufung symbolisiert - und die der vom Bunde abgefallene H.H. verkauft hat.

Als der junge Knecht nach Monteport kommt, wird ihm vom Altmusikmeister ein Glas Milch angeboten, außerdem steht ein Tischchen mit Obst und Brot bereit. Damit wiederholt er nur, was Heinrich Wirth in 'Freunde' tat, als ihn sein Bewunderer Hans Calwer besuchte. Oder vielmehr: er wiederholt jene Szene, da der dreißigjährige Hermann Hesse vom Hause am Erlenloh auf dem Monte Verità eintrifft und von Gusto Gräser bewirtet wird. "Wirth schenkte ihm Milch ein und schnitt ihm ein Stück Brot vom Laib ... brachte eine prächtige Birne und bot sie an" (Erz. I, 338). Kein beliebiges oder zufälliges Geschehnis. Denn als Wirth von Calwer gefragt wird, wie er es anfangen solle, seinen (nämlich: Wirths) Weg zu gehen, da antwortet der: "Leben Sie, wie ich lebe ... Leben Sie von Brot, Milch und Früchten. Das ist der Anfang" (Erz. I, 365). Es war der Anfang von Hesses (vielfach gebrochenem) Weg mit Gusto Gräser, und es prägt noch dessen erzählerisches Ende im 'Glasperlenspiel'.

Die Parallelen erschöpfen sich nicht im Äußerlichen. Was der Altmusikmeister seinen Zögling schon in den ersten Stunden lehrt, das sind jene Einsichten, die Gräser wieder und wieder in seinen Gedichten und Reden ausspricht und die seit 'Freunde' und erst recht seit 'Demian' auch Hesses Werk durchziehen. Die Einsicht in die Einheit hinter den Gegensätzen, die Erkenntnis, dass es eine vollkommene Lehre nicht geben kann, und die Schlussfolgerung daraus: dass die Wahrheit nur gelebt, nicht doziert werden könne. Es sind Einsichten, die auf Hesse tiefen Eindruck machten, nicht weil sie so ungewöhnlich sind, sondern weil sie vorgelebt wurden.

Erst recht trifft dies zu auf die Kunst der Meditation, in die der junge Knecht vom Altmusikmeister eingeführt wird. Auch das Motiv der Meditation tritt erstmals seit 1907 in Hesses Schriften auf. In der 'Legende vom indischen König' (1907) wird zum erstenmal das Motiv entfaltet, das dann in vielen Schriften Hesses und eben auch in der Gestalt des Altmusikmeisters wiederkehrt: das eines still in Versenkung Sitzenden, der von seinem Schüler beobachtet wird.

"Knecht beobachtete, wie sein Meister oft so alt und mitgenommen aussah, wie er dann, mit halbgeschlossenen Augen, in sich versank, danach wieder so still, so kräftig heiter und freundlich zu blicken vermochte – nichts hätte ich inniger vom Weg zu den Quellen, vom Weg aus der Unruhe in die Ruhe überzeugen können." (GW IX, 86)

Der Altmusikmeister bietet keine Technik oder Theorie der Meditation – so wenig wie Gräser -, er lebt sie vor.[1]

Ein  letztes Motiv, das ebenfalls nur vorgelebt werden kann, ist von zentraler Bedeutung für den Roman: das des Sprungs. In dem Augenblick, als der junge Knecht sein geliebtes Eschholz verlässt, um sich auf den Weg nach Monteport zu begeben, räsonniert er, selbstkritisch, mit einem Freund:

" ... Aber wenn wir auch von hier fortgehen werden, eigentlich und richtig verlassen wir Eschholz doch nicht. Richtig verlassen haben es nur jene, die für immer fortgegangen sind ... Die haben wirklich Abschied genommen und sich losgelöst ... Sie haben etwas getan, sie haben etwas vollzogen, sie haben einen Sprung gewagt ..."

"... Was meinst du denn mit dem Springen?"

"Damit meine ich das Loslassenkönnen, das Ernstmachen, nun eben - das Springen! ... Ich wünsche mir, einmal, wenn die Stunde kommt, mich auch losmachen und springen zu können..." (GW IX, 77 f.)

Damit spricht Hesse die Wunde seines Lebens an. Gräser nämlich

... ruft uns zum Sprung ...
... hilft uns zum Sprung ...

Zum Sprung in die Freiheit, in "den freien wilden Weltraum” (GW VII, 237). Zum Selbstsein ruft sein tausendfaches "Raus, raus, raus!", das er auch noch auf die Wände seines Planwagens gemalt hat. "Lass springen! So kann's gelingen", fordert er uns auf.

Ich blase meine Flöte:
mach Dich zum Sprung bereit
in neue Morgenröte!
Brich auf! Zerbrich die Zeit!

So sah ihn und so erfuhr es, mit Hesse, sein Jünger-Bruder Bruno Goetz ('Der Gefangene und der Flötenbläser'). Und im Bilde des Sprungs in den Weltraum taucht dieser Anruf, diese Selbstforderung in Hesses Schriften seit dem ‚Demian’ in fortlaufender Steigerung auf. Schon Klein fühlte sich plötzlich “nackt im Weltraum … fühlte die Luft um sich dünn und eisig” (GW V, 215). Und er meinte damit “das Sichfallenlassen, den Schritt in das Ungewisse hinaus, den kleinen Schritt hinweg über all die Versicherungen, die es gab” (V, 288). Der Steppenwolf aber macht sich zum Vorwurf, daß er “aus irgendeiner Schwäche oder Trägheit heraus den Schwung in den freien wilden Weltraum nicht nehmen konnte” (VII, 237), daß ihm die “zum Durchbruch in den Sternenraum erforderliche Wucht versagt ist” (ebd.), daß er “ein Zwangshäftling des Bürgertums” geblieben ist (VII, 236). Nur die “Unsterblichen” können in diesem Sternenraum atmen. Sie tun es in lachender Heiterkeit.

Wohl bekannt ist, daß das ‚Glasperlenspiel’ mit einem Sprung endet. Es ist ein Sprung in den Tod. Es ist jener selbe, den nicht getan zu haben der Steppenwolf H.H. sich anklagt. Jener "Bruch mit Heimat, Stellung, Familie, Namen", den Hesse erwägt, als er Gräser während des Weltkriegs wieder begegnet war (GB I, 343), den er dann doch nicht leisten kann, und den er nun, ins Negative verkehrt, spät und reuig nachvollzieht - als einen Sprung in den Tod.

Selbstmord oder Opfer? Beides zugleich. Und beides sinnvoll allein durch seine Beziehung auf den Menschen, dem dieses Selbstopfer gilt: dem Naturburschen und Tänzer, dem Ringer und Wanderer Tito, einem dichterisch verklärten Gräserbild.

Drei Wanderungen - ein Ziel.


[1]  Nach Volker Michels "beginnt Hermann Hesse ab 1907 [d. h. während und nach seinem Aufenthalt bei Gräser im Wald von Arcegno; H.M.] mit Yoga, Askese und Selbstkasteiung zu experimentieren". (Volker Michels in: "Höllenreise durch mich selbst". Hermann Hesse: Siddharta, Steppenwolf. Hg. von Regina Bucher, Andreas Furger und Felix Graf. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 2002, S. 191)