Der Waldmensch


Mord am Meister

Nachdem im Jahre 1907 sein „Noviziat“ bei Gräser in Ascona gescheitert ist, kehrt Hesse zu seiner Familie zurück. Für einige Zeit behält er seinen alternativen Lebensstil noch bei, verzichtet auf Alkohol und Nikotin, zeigt sich mit Vollbart, Kniehosen, nackten Waden und Sandalen. Klettert nackt in den Felsen von Amden. Von seinen Künstlergenossen wird er als "Waldmensch" und "Kohlrabi-Apostel" verspottet.

Etwa 1909 vollzieht er die Wendung nach rückwärts. Am Schluss von ‚Der Weltverbesserer’ schildert er seine Wandlung. Die Gesellschaft der „Naturburschen“ und „langhaarigen Barfüßer“ ist ihm jetzt peinlich; er legt sein asketisches Lodenzeug ab, kauft sich modische Kleidung. Demonstrativ und provozierend lässt er sich mit den Insignien des anständigen Bürgers fotografieren: glattrasiert und kurzgeschoren, mit Bügelfalte, Krawatte, mit erhobenem Weinglas und qualmender Zigarre. Um sich vollends vor seinen Künstlerfreunden zu rehabilitieren, verspottet er seinen einstigen Meister als in den Bäumen hangelnden Affen in der Satire 'Doktor Knölges Ende', die in der Münchner ‚Jugend’ erscheint. In der Erzählung 'Der Waldmensch' schließlich wird der heilige Einsiedler mit dem dritten Auge von seinem Schüler Kubu erschlagen. Kubu flieht aus dem Wald, flieht vor dem Meister, der das heilige Waldlied gedichtet hat, der seine Schüler im Kreise tanzen lässt, bis sie umfallen.


Hesse flieht vor Gräser. Er versucht sich von ihm zu befreien in einem Kampf auf Leben und Tod. Als "Doktor Knölge" in der gleichnamigen Satire wird er von Jonas dem Vollendeten, dem Wald-Gorilla, erwürgt.

Hesse wird zwar jetzt als ehrbarer Bürger von der Gesellschaft wieder akzeptiert, aber die Heimkehr macht ihn nicht glücklich. Die folgenden Jahre sind ein einziger Abstieg in Resignation, Krankheit und zunehmende Verzweiflung. Er zeichnet nun am Leben Gescheiterte, er greift eine Sage auf von mittelalterlichen Baumeistern, die ihr Kind lebend in die Fundamente ihrer Bauten eingemauert haben. Seine Ehe ist ein langsames Ersticken, er muss sich wiederholt in psychiatrische Behandlung begeben. In einem Offenen Brief klagt er sich an, dem Teufel die Hand gereicht zu haben. 1916 ist er körperlich, seelisch und moralisch am Ende. Der Tod seines Vaters und die Angriffe der Presse sind nicht Ursache, sind nur letzte Anstöße für seinen Zusammenbruch.

Wir würden freilich der Wirklichkeit nicht gerecht, wenn wir in Hesses Rückzug und seinen Angriffen auf den einstigen Meister schlicht ein moralisches Versagen sehen würden. Mit seinem Gang in die Einsamkeit der Felsen und des Waldes hatte er einen Weg beschritten, den religiöse Menschen - Einsiedler, Yogis, Propheten, Schamanen - seit Urzeiten gegangen sind und heute noch gehen. Der Bruch mit der gewohnten Umwelt und die Reduktion der Außenreize in Höhlen und Wüsten wirft den Menschen auf sich selbst zurück: er hat es nur noch mit sich selbst, mit seinem Unbewussten zu tun. Dass Hesse wegen eines unstillbaren Bedürfnisses nach weichem Bett, nach Braten, Wein und Zigarre sein Experiment abgebrochen habe, isteine zu oberflächliche Erklärung. Die Geschichten vom mörderischen Gorilla und vom finsteren Alten im Wald verraten das eigentliche Geschehen, sind Symbole seiner Auseinandersetzung mit dem inneren Meister, dem "Alten im Berg", dem verdrängten oder unerkannten Tiefenselbst. Was zunächst Angst und Grauen und Abwehr erregt, das erweist sich nach einem Wandlungsprozess von rund sieben Jahren als das heilende und leitende Daimonion. In mehreren Märchen hat sich diese Entwicklung schon vor 1916 angekündigt. Als Hesse für seinen Daimon reif und offen ist, begegnet ihm Gusto Gräser zum zweiten Mal – und wird zu "Demian".


Der Waldmensch (Auszug)

Es lebte ein alter Waldmann ... eine Art Priester und Heiliger und hieß mata dalam (der das Auge inwendig hat); er hatte das heilige Waldlied gedichtet ... Daß er die Sonne mit Augen gesehen hatte, ohne daran zu sterben, das war sein Ruhm und sein Geheimnis. ...
Zu jenem Stamme von Waldleuten, welchem der blinde mata dalam vorstand, gehörte auch der Jüngling Kubu, und er war der Führer und Vertreter der Jungen und Unzufriedenen. Es gab nämlich Unzufriedene, seit mata dalam älter und herrschsüchtiger geworden war. Bisher war es sein Vorrecht gewesen, daß er, der Blinde, von den andern mit Speise versorgt wurde, auch fragte man ihn um Rat und sang sein Waldlied. Allmählich aber führte er neue und lästige Bräuche ein, welche ihm, wie er sagte, von der Gottheit des Waldes im Traum waren geoffenbart worden. Ein paar Junge und Zweifler aber behaupteten, der Alte sei ein Betrüger und suche nur seinen eigenen Vorteil.
Das Neueste, was mata dalam eingeführt hatte, war eine Neumondfeier, wobei er in der Mitte eines Kreises saß und die Rindentrommel schlug. Die anderen Waldleute aber mußten so lange im Kreise tanzen und das Lied golo elah singen, bis sie todmüde waren und in die Knie sanken. ...
Dieser Sitte hatte sich Kubu samt einigen seiner Altersgenossen entzogen ... Er dachte über alles nach, was ihm jenmals Zweifel erweckt hatte und als Trug erschienen war, und vor allem über die Trommel des Priesters und seine Feste, und je mehr er dachte und je länger er allein war, desto klarer konnte er sehen: ja, es war Trug, es war alles nur Trug und Lüge. ... Wie stand es zum Beispiel mit dem Waldgotte und mit dem heiligen Waldliede? Oh, auch damit war es nichts, auch das war Schwindel! ...
Der Mond ist mein Freund, dachte er, und der Stern ist mein Freund, aber der alte Blinde ist mein Feind. Also ist das "Draußen" vielleicht besser als unser Drinnen, und vielleicht ist die ganze Heiligkeit des Waldes auch nur ein Gerede! ... Er haßte den alten, finstern, faulen Wald, wo die Priester quäkten und wo er, der Junge, verfemt und ausgestoßen worden war.
Jetzt war sein Entschluß reif geworden, und er pflückte die Tat wie eine süße Frucht. Mit einem neuen, zügigen Hammer aus Eisenholz ... ging er in der nächsten Morgenfrühe dem mata dalam nach, fand seine Spur und ihn selbst, schlug ihm den Hammer auf den Kopf und sah seine Seele aus dem gekrümmten Maul entfliehen.
...
Ach, wer war er, Kubu?! Er war ein kleines schmutziges Tier, das sein ganzes dumpfes Leben im dämmerigen Sumpfloch des dicken Waldes hingebracht hatte, scheu und finster und niederträchtigen Winkelgottheiten untertan. Aber hier war die Welt, und ihr oberster Gott war die Sonne, und der lange schmähliche Traum seines Waldlebens lag dahinten und begann schon jetzt in seiner Seele zu erlöschen wie das fahle Bild des toten Priesters.

(Auszug aus: Hermann Hesse: Der Waldmensch (1914). In: GW IV, S. 339-346.)


In der Erzählung "Doktor Knölge’s Ende", die 1910 veröffentlicht wurde, verarbeitet Hermann 
Hesse auf humoristische Weise seine Erfahrungen, die er im April 1907 während einer vierwöchigen Kur auf dem Monte Verità machte.

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