Die Zuflucht

Ein Häuschen am Berg

"Durch manche Jahre hat ein Lieblingswunsch mich begleitet, ... in mir gewurzelt, sich aus mir genährt, Kraft aus mir gezogen ... Jener Lieblingswunsch war schön und nicht allzu unbescheiden, ... eine kleine Ruine in den Felsen des Süd-Tessins, nah am lichten Kastanienwald, so hoch gelegen wie die höchsten Reben, mit oder ohne Fenster und Tür." (GW X, 27 f.)

So schreibt Hesse in seiner Betrachtung 'Die Zuflucht' von Ende 1916. Wir kennen die Landschaft, nach der er sich sehnt. Die Gräsers etwa bewohnten "eine kleine Ruine in den Felsen des Süd-Tessins, nah am lichten Kastanienwald, so hoch gelegen wie die höchsten Reben", so hoch eben wie der ehemalige Weinberg von Ascona, der inzwischen Monte Verità getauft worden war.

"Der Traum ... sollte erfüllt werden. Es war eine Zuflucht da, ein Häuschen, klein, still, fern, schön, hoch am Berg über südlichem See, Zuflucht und Versteck, Ausruhenest und Traumwiege. Es war zu haben, es wurde mir angeboten." (GW X, 31)

Wie kam er zu diesem Häuschen? Wann ist  er eingezogen? Wie oft hat er es genutzt?

Im Herbst des Jahres 1916 hatte Hesse etwas mehr als vierzehn Tage, vom 7. bis etwa zum 24. September, in Locarno verbracht, in der Nachbarschaft von Gusto Gräser. Am 26. 9. befindet er sich in Brunnen, auf der Rückfahrt nach Bern. Am selben Tag schickt ihm Gräser eine Postkarte nach, die Karte mit dem Sperberbild. Hesse hat seinen Freund wiedergefunden, er hat Frau Elisabeth kennengelernt, er ist voll von diesen glückhaften Erfahrungen. Es seien "sehr schöne Tage" gewesen, dort, "in der Nähe von Locarno", schreibt er seinem Freund Otto Blümel. (GB I, 334)

Er möchte so bald wie möglich wieder dorthin kommen. Will dann aber nicht bei Hilde Neugeboren wohnen, obwohl er dort verehrter Hausgast wäre, obwohl deren großes Anwesen völlig leer steht, nur von ihr allein bewohnt. Er möchte ein eigenes Häuschen haben, um ungestört zu sein und unbeobachtet seinen Freund empfangen zu können. Von Hilde weiß er, daß sie die Gräsers haßt.

Er wendet sich an einen Freund, der beim Militär in Locarno stationiert ist, der ihn auch in Monti sogleich besucht hat, mit dem er im September seinen Lieblingsweg zu Gräsers Höhle und nach Arcegno gegangen ist. Der Maler, Musiker und Dichter Gustav Gamper ist ein glühender Anhänger des Monte Verità, jedenfalls der dort ums Sanatorium sich sammelnden Theosophen und Anthroposophen. Gamper, der Maler, ist auch Hesses Lehrer und Begleiter bei seinen ersten Schritten in der Kunst des Zeichnens. An diesen Gamper also wendet sich Hesse mit der Bitte, er möge ihm doch ein Häuschen ausfindig machen, irgendwo auf den Höhen um Ascona und Locarno, nahe bei den Felsen, nah am lichten Kastanienwald.



Der Maler, Musiker und Dichter Gustav Gamper unterrichtete Hesse im Zeichnen und Malen

 

Und Gamper, der allzeit Dienstwillige, erfüllt ihm prompt seinen Wunsch, ist erfolgreich, meldet Vollzug. Er habe ein wunderbar geeignetes Häuschen entdeckt, schreibt er am 1. Dezember an Hesse. Es habe drei Zimmerchen und Küche, stehe oben in Monti della Trinità, sei genau das Richtige und es sei zu haben.

Jubelt Hesse? Greift er zu? Zieht er sich zurück in diese ideale "Zuflucht", diese "Traumwiege", dieses "Ausruhenest"? - "Es war zu haben, es war mir angeboten." (GW X, 31)

"Siehe, da war der Traum ertappt! Ertappt in seiner ganzen schönen Verlogenheit. Nämlich er - erschrak, als er sich erfüllen sollte. Er wollte nicht erfüllt werden, er wurde feig, er suchte Einwände, er wußte Ausreden, er riet ab, er schauderte zurück." (Ebd.)
Hilde Neugeboren, Hesses Gastgeberin in Locarno-Monti, mit Hesse und dem Maler Gustav Gamper in Arcegno, September 1916

Nicht der Traum - Hesse erschrak, wurde feig, suchte Einwände, wußte Ausreden, schauderte zurück. Er erschrak, als sich erfüllen sollte, was er sich gewünscht hatte, nämlich: in der Nähe seines Freundes zu sein. Das hätte, nach außen und nach innen, ein Bekenntnis zu seinem Freund bedeutet, eine Entscheidung.


Denn inzwischen hatte sich die Lage verändert. Inzwischen war, schon im November, Gräser nach Zürich gekommen, um durch Vorträge Brot zu schaffen für seine hungernde Familie. Für den 27. und 29. November  und

Ein anderes Häuschen am Berg: das „Winkelchen“ von Mutter Neugeboren in Monti
den 1.Dezember hatte er auf Plakaten Reden im 'Volkshaus' angekündigt. Bevor er jedoch dazu kommen konnte, war er verhaftet und trotz des Protestes von Freunden zwangsweise nach Ascona zurückbefördert worden. Gräser läßt sich dadurch nicht entmutigen. Er reist nach Bern, will auch dort Vorträge halten, wird auch dort verhaftet und nach Ascona abgeschoben. Es ist anzunehmen, daß er Hesse aufgesucht hat; es ist möglich, daß Hesse mit der Polizei zu tun bekam. Von einem Protest seinerseits, wie in Zürich, ist allerdings nichts bekannt.

Dies ist die Situation, als Hesse erfährt, daß ein ideal geeignetes Häuschen für ihn bei Monti zu haben sei. Da erschrickt er, da schaudert er zurück.

"Geht nicht von allen Einsamen, von allen Pfadfindern in der Wüste der Einsamkeit die Sage, sie seien auf Abwege geraten, sie seien böse oder sie seien krank? Erzählt man alle großen Heldentaten nicht so, als wären sie von Verbrechern getan ...?" (GW X, 481 f.)

Ein solcher Einsamer, der als Kranker oder Verbrecher angesehen und behandelt wurde, war Gusto Gräser.

"Den Einsamen aber, wenn er ihnen über den Weg läuft, fürchten und hassen sie wie die Pest, werfen mit Steinen nach ihm und finden keine Ruhe, ehe sie weit von ihm sind." (Ebd. 483)

Hesse fürchtete diesen Einsamen nicht, wohl aber fürchtete er, von den Steinen mitgetroffen zu werden, wenn er sich allzu deutlich in seine Nähe stellte.

"Siehe, da war der Traum ertappt! ... Ach, er konnte nicht anders. Er hatte so lange gelogen, er hatte so lange versprochen, viel zu viel versprochen. Immer hatte er empfangen und empfangen, und nun sollte er einmal geben. Und nun war nichts, was er zu geben hatte. Er zuckte zurück wie ein Schwindler ... der dorthin gebracht wird ... wo er verstummen muß, wo er entlarvt wird." (GW IX, 514 f.)

Am 5. Dezember 1916 brachte Hesse die Betrachtung 'Die Zuflucht', in der diese Worte stehen, zur Post.

 
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