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Wien 10/5 98
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Wien 14/5 98
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Wien 15/5 98
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Wien 16/5 98
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Wien XIII Himmelhof 12/6 98
Warum schrieb ich meine Lebensgeschichte1 bis jetzt noch nicht? Und warum hab' ich eben eine solche Schrift angefangen? Weil ich nicht in Ruhe bin, nicht in Ruhe war!
Was veranlasste solches? Die Verhältnisse hier im Hause seit meiner Herkunft! Es sind die gesellschaftlichen2, sie hielten mich zurück, würdiger hier zu sein.
Nicht eher werd ich mich voll und ganz zeigen können, bevor meine Umgebung sich nicht zu einem Ganzen geschlossen hat. Deshalb kann ich nicht mit starkem Griffe fassen! Darum muss das anders werden!
Nicht eher können wir sicher schreiten, bevor wir nicht alle einig sind. Und alles in mir sträubt sich dagegen, solches phlegmatisch zu betrachten und mich mit Ruhe zur Arbeit zu wenden. Das, mein Meister, ist die Überzeugung, welche ich gewonnen im Laufe meines Hierseins. Ich fühle grosse Kraft in mir, und sie zu wecken muss ich alles tuhen, die Hindernisse wegzuräumen und zu tilgen. Ich bin mir schuldig, diese Pflicht zu erfüllen, damit ich andern mehr geben kann.
Der Rath, den Ihr mir gebt3, der ist mir theuer, und all mein Streben richte sich nach Ihm!
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Wien 14/6 98
Es ist mir verboten, dort wo ich Unrecht erkenne und das Recht empfinde, schweigend zu sein.
Und bin ich auch selbst noch der Fehler voll, und muss ich selbst noch mit mir rechten, ich weiss, dass ich werd', wie das Gute will. Und das Bewusstsein ehrlichen Strebens erlaubt und gebietet mir, auch andere zu dem zu führen, was ich als das Rechte erkannt.
Wie die leibliche Krankheit wird und wächst bis zum Tode, so wächst und entsteht auch das geistige Übel, so stirbt auch am Übel das Gute des Geistes.
Und wenn man mir sagt, es ist eine Kleinigkeit, gib dich nicht ab damit, so muss ich antworten: Die tückischste Krankheit beginnt mit unscheinbarstem Übel! So ist's wohl für jeden [klar?] genug.
Gestern zu Mittag, wir sitzen bei Tische und essen, Brot und Butterbrot. Lucidus4 hat ein Stück Schrotbrot, worauf Butter geschmiert ist, und die Stella5 sagt: "Tauschen wir?" Will ihm ein saures Brot geben, und der Lucidus lacht: "Ha, du bist schlau, du willst Butter, nimm!" Und die Stella nimmt das Stück Schrotbrot, streicht die Butter herab und will sie dem Lucidus streichen, welcher mit unwilliger Red' und Gebärde sie abweist und ansieht mit zornigem Blick (wohl weil er unrecht in seiner Annahme hatte). "Jetzt hab ich kein Brot!" Und trotzig senkt er den Kopf. Stella giebt ihm sein Schrotbrot mit Butter geschmiert wieder mit dem Sinne: Schneid das, mach keine Geschichten und iss!
Lucidus aber schiebt 's Brot weg, sitzt trotzig und schweigt. Friedrich6 fragt die Stella: "Was ist denn?" Sie sagt's; er schweigt. Alles sitzt stumm bei Tische, und Lucidus trotzt.
"Na, jetzt hast du dein Eigentum wieder, Lucidus, iss doch, sonst wirst du nicht satt", sag ich. Und Lucidus antwortet darauf: "Schweig, misch dich nicht überall drein, was dich nichts angeht!" Und ich antwort: "Lucidus, du hast unrecht, denn alles, was hier vorgeht, geht mich an, da ich hier bin. Sieh, das muss ich jetzt dem Vater sagen, wo er sich wieder ärgern wird." Lucidus drauf: "Gewiss, wenn du's ihm sagst." - "Benimm dich anständig, und ich werd ihm nichts zu sagen haben, was ihn ärgert und kränkt."
Lucidus sitzt eine Weile bei Tisch, thut als verachte er, was ich gesagt, spricht gleichgültig mit dem Hans übers Essen und erst später schweigt er und senkt den Kopf auf den Tisch, hebt ihn dann wieder und sieht den Paul7 an, welcher auch ein für mich unerklärliches Lächeln hat. Darauf steht mit verweintem Ausdruck Lucidus auf, geht mit Hast in den Hof. Die Stella ruft: "Lucidus, iss, du bekommst später nichts mehr!" - "Ich hab ja nichts mehr", kommt die trotzige Antwort zurück. Stella wiederholt; die Antwort ist dieselbe. Das Essen wird abgeräumt. Ob Lucidus später das Brot bekam, weiss ich nicht.
Nachmittag frag ich den Paul, der bis hin geschwiegen, als ich mit ihm allein war: "Paul, wie verhält sich Helios8 gegenüber solchem, wie es [mit] Lucidus heute war?" - "Er gibt ihm nicht Anlass, dass er sich gegen ihn so stelle." - "Ist das eine richtige Antwort auf meine Frage?" - Paul: "Ich muss dir nur immer wieder sagen, dass deine Worte nur das Gegentheil von dem hervorrufen, was du willst." - Ich: "Darum mach ich mir keine Sorgen. Denn ich weiss, dass früher oder später jeder darauf kommen wird, dass ich nur sein Bestes will und wollte."
Paul sagte: "In solch gehäufter Zeit auf solche Kleinigkeiten schauen!" Ich aber sage: "Alles was Nahrung hat, wächst, und das Schlechte wuchert, und besser, es kommt durch Einwirkung des Guten hervor, damit es erfasst und getilgt werden kann, als dass es verborgen liegt, um dann vielleicht zu grössrem Übel hervorzubrechen. Drum wenn auch das Böse hervorruft das Gute, es ist bloss die treibende züchtgende Rute."
Ob Folgendes mit gestern in Verbindung ist? Heute früh wurde beim Frühstück von Schlangen gesprochen. Lucidus: "Wir haben auch eine Schlange (auf mich weisend), und der treffliche Simplicius9, das ist höchstens ein Schlanker."
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[Brief von Diefenbach an Gräser, Juni 1898]
Blinder Eifer schadet nur!
Auch dann, wenn er von der edelsten, reinsten Absicht und Empfindung ausgeht!
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Meine Freude über Deine Anlagen und Dein Streben nach dem Guten, Schönen und Wahren, welche Dich von der das Gegenteil verkörpernden Welt der heutigen "Gesellschaft" unbefriedigt suchend zu mir geführt hat, wurde von Anfang an getrübt durch die Wahrnehmung, daß außer dem gänzlichen Mangel an Erfahrung ein hoher Grad von Eigensinn und Starrsinn in Deinem mir sonst sehr sympathischen Wesen Dich ungeeignet macht zur Erfüllung der Aufgabe, die infolge ihrer seitherigen Entwicklungs-Verhältnisse irregeleiteten und verdorbenen jungen Leute, welche sich zu dem gleichen Zwecke (wenn auch nicht mit dem gleichen Bewußtsein) mir angeschlossen haben als Du und welche, durch die infolge meines Leidenszustandes und meiner Überlastung zur Wendung meines Schicksals in meinem Hause vorhandenen Übelstände und Gift-Einflüsse verworren, meinen unverstandenen und nicht genügend gewürdigten Anordnungen nicht nachkommen, zu besserem Verständnis, Würdigung und Befolgung meiner Belehrungen und Anordnungen zu bringen.
Ich betraute Dich mit dieser Aufgabe schon ganz im Anfang Deines Eintritts in mein Haus zum dauernden Anschluß an mich in Erkenntnis Deiner besseren Einsicht und Würdigung meines Wesens und Strebens, als jene jungen Leute Deines Alters besitzen, und bei der damaligen Unmöglichkeit, daß von den, der Zeit nach mir näher stehenden, Brüdern von Spaun infolge ihrer inneren Gemüts-Zerrissenheit und Mangels erzieherischer Eigenschaften ein zur Erhebung jener jungen Leute notwendiger und segensreicher Einfluß auf dieselben nicht zu erwarten war. Dein nach dem ersten Versuch, der als von einem eben erst ins Haus gekommenen gleichaltrigen jungen Mann ohne jegliche Kenntnis und Rücksicht auf die Entwicklungs-Zustände der zu betreuenden jungen Leute nicht gelingen konnte, ausgesprochenes starres Urtheil, daß dieselben überhaupt unfähig und unwillig seien zur Erreichung eines höheren Menschheits-Zieles, habe ich damals sofort als übereilt, aus jugendlicher Unerfahrenheit und überstürzendem Eifer entsprungen erklärt und zurückgewiesen und Dich zu größerer Geduld sowie zur Beachtung meiner diesbezüglichen Belehrungen ermahnt. Den groben Fehler, welchen Du durch jenes Urtheil über die jungen Leute, welche ich auf Grund meiner reichen Lebenserfahrungen sehr wohl für fähig und auch für willig hielt - und noch halte - gegen mich begingst, hast Du selbst auf meine wiederholten zarten Andeutungen nicht empfunden und erkannt, sondern zu demselben und durch denselben hast Du den weiteren begangen, daß auch Du selbst außer diesen noch andere sehr wesentliche Belehrungen und Anordnungen gänzlich unbeachtet und unbefolgt ließest, dagegen Deine zwar gut gemeinten aber völlig ungeeignet vorgebrachten Bemühungen zur Besserung der Anderen durch starres Einreden fortgesetzt.
Als ich nach langer, in meinem gewaltigen Schaffensdrang qualvoller, Beobachtung Deines Arbeitens Dich auf die im Verhältnis zu Deiner Jugend, Körper- und Geistes-Kraft sowie zu Deinem Streben, in welchem Du zu mir gekommen, schneckenhafte Langsamkeit Deines Arbeitens aufmerksam machte und Dir als Beispiel dagegen sagte, daß ich unter den fürchterlichen Umständen meines ungeheuren Lebenskampfes mit meinem verkrüppelten rechten Arm und sonstigen Leidenszustande ohne jegliche Hilfsmittel, Vorbilder und Studien in rastloser Tätigkeit von Tagesgrauen bis zur Dunkelheit gearbeitet habe, daß mir zu einem Vergleich mit dem Arbeiten von Euch jungen sorgenlosen Leuten die Worte fehlen, da sagtest Du zur Begründung Deines langsamen Arbeitens und Deiner Zerstreutheit mir dasselbe, was Du jetzt in Deinem Tagebuch niedergeschrieben.
Außerdem führtest Du noch in größter Erregung und zeitweiliger gänzlicher Arbeitsunterlassung an, daß Du nur dann Deine Dir innewohnenden Kräfte voll betätigen könnest, wenn Du Dich freier, Deiner Empfindung entsprechender, Neuschöpfung von Kunstwerken hingeben könntest, anstatt Copien meiner Gemälde anzufertigen, deren von mir, notwendig, geforderte genaue Wiedergabe Dir sichtlich widerstrebte, indem Du wiederholt statt die Dir vorgestellte Reife meines Gemäldes zu beachten, mehr Formen in unreifer Überfüllung, den Gedanken des Bildes beeinträchtigend, anbringen wolltest.
Ich erwähne und betone diesen Umstand, trotzdem Du auf meine Vorstellung der Unmög-lichkeit, Dich jetzt anders zu beschäftigen zu Deiner künstlerischen Entwicklung als mit der genauen Wiedergabe meiner vorhandenen oder Ausführung meiner neu zu schaffenden Gemälde, um die Wendung meines mein Leben bedrohenden Schicksals zu erreichen als sichere Basis für spätere freie Entfaltung jeder einzelnen Individualität, meinen Worten folgtest - als mitbezeichnend für Deinen an und für sich erfreulichen aber einstweilen in unerfahrener und unreifer Überstürzung mehr schädigend als nützend sich bethätigenden Eifer.
Ich erklärte Dir, daß es ebenso unvernünftig, weil naturunmöglich, sei: bereits erwachsene Menschen mit einem Male in ganz entgegengesetzte Richtung zwingen zu wollen, als einem schon stark gewordenen jungen Baum man nicht mit einem Male die entgegengesetzte Richtung seiner seitherigen Entwicklung zu geben vermag. Ich gab Dir die verpflichtende Lehre und Anordnung, Dich durch den niedrigeren Bildungsstand der einen oder das zerfahrene, noch ungeordnete Wesen der anderen der mich umgebenden jungen Leute nicht abhalten zu lassen, die von mir aufgestellten Ideale und Pflichten nach Deinem Vermögen zu erfüllen und dadurch den Anderen mit leuchtendem Beispiel voranzugehen, da nur durch die Tat, nie aber durch Worte deren Erhebung bewirkt werden könne und daß Du, um Dich zu solcher voranleuchtender Tat und voranleuchtendem Karakter fähig zu machen, in erster Linie als unerläßlich notwendige und Dir jetzt noch für Deine Entwicklung segensreiche Arbeit die schon als Bedingung zur Aufnahme in mein Haus geforderte Schilderung Deines seitherigen Lebenslaufes, besonders Deiner inneren Entwicklung, niederschreiben und ein regelmäßiges Tagebuch führen müßtest. Der, Dir bekanntgegebene, Zweck dieser Lehre und Forderung war, Deine für die gewaltigen Verhältnisse meiner einstweilen noch aus lauter unreifen, zer-fahrenen Menschen bestehenden Familie ebenfalls noch gänzlich unreifen und unzuläng-lichen Kräfte zu sammeln, zu klären, was nur unter der Leitung und mit Benutzung meiner Erfahrungen möglich, nachdem ich durch jene schriftliche Schilderung Deines früheren Entwicklungsganges und Deiner jetzigen Empfindung Dein ganzes Wesen bis ins Innerste kennengelernt.
Diese Lehre und Forderung hast Du trotz Deiner mir sonst so erfreulich bekundeten Wertschätzung in unerfahrenem blindem Eifer, verleitet von Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung, zu meinem großen Schmerze und zur, vorausgesehenen, Verschlimmerung meiner am Ende meiner aufgeriebenen Kräfte zum Himmel schreienden Lage gänzlich mißachtet und gänzlich unbefolgt gelassen.
Die durch die infolge Deiner taktlosen und unreifen Belehrungen und Zurechtweisungen entstandene Gehässigkeit und Zornausbrüche gegen Dich endlich erfolgte erste Niederschrift in Dein Tagebuch ist der Ausdruck überstürzender jugendlicher Unreifheit und blindem Übereifer, die - wenn auch noch so gut gemeint (woran ich nicht im geringsten zweifle) - nicht nur das bezweckte Ziel nicht erreichen können, sondern das Übel, welches sie ausrotten wollen, ständig vermehren und verschlimmern, Gehässigkeit und Verbitterung hervorrufen müssen, welche jeden kameradschaftlichen herzlichen Verkehr völlig unmöglich machen, ohne welchen die Beseitigung der von Dir beklagten Übelstände in meinem Hause unmöglich ist.
Und wenn zu solchem blinden, unerfahrenen Übereifer, der bei den edelsten Naturen vorkommt, z.B. auch dem sonst so trefflichen, von keinem meiner vielen zeitweiligen Jünger auch nur annähernd erreichten Otto Drießen anhaftete und von diesem ebenso wie von Dir verhängnisvoll zur Verschlimmerung meiner Lage und Vermehrung des Übels ohne jeglichen Nutzen betätigt wurde, wesentliche Mitschuld an seiner Trennung von mir und alleinige Schuld an seinem der Menschheit zum Verlust gereichenden frühen, an Selbstmord grenzenden Tod war - auch noch eigene Fehler und Schwächen vorhanden sind - und seien sie für sich auch noch so gering - so verschlimmern sich die naturgemäßen Folgen ins Ungeheure, Endlose, Unabsehbare.
Ich fasse mein Urtheil dahin zusammen, daß - so sehr Du in einzelnen Fällen sachlich Recht hattest, was aber nicht in allen Fällen war - so ungeeignet und das Übel nur vermehrend war Dein - meinem auf so tausendfältiger Erfahrung und tiefer Natur- und Menschenkenntnis ruhenden Streben zur Erzielung harmonisch zusammenwirkender Kräfte trotz meiner Dir wiederholt und nachdrücklich gegebenen Lehren darüber zuwiderhandelndes Auftreten in meinem Hause, welches von Anfang an die Mißbilligung und Empörung Aller (auch Friedrichs und Minas10) naturgemäß hervorrief. Statt mir eine Stütze in meiner unter solchen Umständen übermenschlichen Aufgabe zu bieten, wie Du bei Deinen hohen Anlagen und Deinem guten Willen fähig gewesen wärest, wenn Du meinem leitenden Rate gefolgt hättest, hast Du durch Deinen starren blinden Übereifer auch meine persönliche Lage und Pein wesentlich noch verschlimmert und einen jungen Menschen abgesprengt, welcher bei richtiger Behandlung von seinen angeborenen und anerzogenen Fehlern hätte befreit und zu einem tüchtigen Mitarbeiter und Mitstreiter an der Erreichung meines Lebenszieles erzogen werden können.
Möge dies Opfer sowie die Qual, unter welcher ich in so ungeheurer Überlastung mit drängenden Arbeiten zu meiner Lebensrettung und Wendung meines Schicksals diese Zeilen niederschreiben mußte, Dich, wenn nicht zu sofortiger Erkenntnis, so doch zu sofortiger, bedingungsloser und widerspruchsloser Achtung und Befolgung meines Urteils und meiner Anweisung über Selbsterziehung - Tagebuch!!! - ohne welche Niemand fähig und berufen ist zur Erziehung und Leitung Anderer, bringen und die Gefahr Deiner sonst trotz meiner Wertschätzung für Dich unvermeidlichen Trennung von mir für immer beseitigen!
Diefenbach
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Wien 20/6 98
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[Diefenbach schreibt an Gräser:]
3ter Juli 1898
Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit Deines guten Willens, auch nicht an der Kraft Deines Karakters, denselben zu erfüllen; aber an Deinem Karakter klebt ein kleinlicher kindischer Eigensinn, der sich dünkt, auch ohne Erfahrung und Schulung es besser machen zu können als Andere mit reicherer Erfahrung und Schulung. So löblich das Streben nach höchster Vollendung eines Kunstwerks, dasselbe immer besser und besser noch zu machen - so thöricht und das Gegentheil erreichend, kostbare Zeit nutzlos vergeudend, Unlust in Dir und Anderen erweckend, Schaffenskraft und Freude lähmend ist der Deinem Charakter als schlechte Schlacke anhaftende Eigendünkel, Alles besser machen zu können als ich Dir in meinen Arbeiten vorstelle zum Ausführen oder Nachbilden oder solches vorstellen lasse durch Paul, der an künstlerischer Reife wie an Kenntnis meiner Arbeit-Weise Dir weit voraus ist und nur durch seine sonstigen Schwächen und Fehler seither daran gehindert wurde, so nahe an meiner Seite im Schaffen meiner Werke zu stehen, daß Du ihm gleich mir Achtung und Folge zollen würdest.
So verächtlich nun seither die Stellung Pauls in meinem Hause war und giftverbreitend unter den Andern, so sehr halte ich seinen jetzigen guten Willen, nach erlangter Kenntnis des von ihm verursachten Übels dasselbe zu sühnen und durch Betätigung seiner hohen Fähigkeiten mir zur Stütze und Rettung zu gereichen, für aufrichtig und wertvoll und beklage ich es, daß Deine Verachtung seiner seitherigen Handlungsweise in Verbindung mit dem Deinem Wesen anklebenden Eigendünkel Dich verleitet, Dich seinen von mir angeordneten und gebilligten Anweisungen zu widersetzen und mit Unlust und kleinlicher Spielerei zu arbeiten, statt Paul die zur Wendung meines Schicksals so drängenden Arbeiten zur letzten Ausführung, deren Du noch nicht fähig bist, vorzubereiten und dies mit Lust und Energie zu tun, wie Du fähig wärest.
Mich entsetzt und schmerzt Dein Widerstreben gegen Paul und Dein schneckenhaft langsames Arbeiten in so gewaltigem Schicksals-Gedränge!
Ein Blick in mein Wesen und Walten, als ich in Deinem Alter stand, würde Dich das Unrichtige und das Unrecht, das kindisch Kleinliche Deines jetzigen Arbeitens beschämt und anspornend erkennen lassen. Bis ein solcher Blick möglich ist, mußt Du meinem Worte - und wertvoller und rühmlicher noch meinem Winke - folgen: Dich nicht von den Schwächen und Fehlern Anderer, zumal solcher der Vergangenheit, verleiten zu lassen, auch das Gute, mit welchem sie Dir voraus sind, zu missachten und ungenutzt zu lassen und in Dünkel zu wähnen, weil Du nicht jene Schwächen und Fehler an Dir hast, in Allem über ihnen zu stehen und weil Dir nicht Folge geleistet wird in kleinlichen kindischen Dingen, die Lust und Liebe zum eifrigen und erfolgreichen Mitschaffen an der Wendung meines Schicksals zu verlieren.
Erfülle Deinen Ruf nach Einheit durch Unterordnung unter meine und Pauls Anordnungen und damit meine Erwartung von Dir, ohne welche ich Deiner guten Eigenschaften nicht froh werden kann und Du mir keine Stütze zu bieten vermagst.
Diefenbach
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Wien 2/8 98
Ich setzte mich heute an das Tagebuch zu klagen. Eine halbe Stunde schon sitze ich dabei, ohne ein Wort zu schreiben. Klagen wollte ich, von Ekel wollte ich sprechen und dass mir der Schmerz die Kehle schnürt.
Wohl hab ich all das empfunden, doch nun muss ich davon schweigen. Was hab ich damit erreicht, dass ich hier bin, und was steht mir bevor, wenn ich standhaft und treu bleibe?
Diese Fragen genügten, mich eines Besseren zu belehren und anstatt andere mich anzuklagen, zu tadeln.
Warum bin ich nicht hinaufgestiegen auf das, was mich bedrückt, es zu beherrschen? Nicht eher werd ich frei sein von Last und Sorgen, eh ich solches kann. Es drängt mich, jedem es zu sagen, ich möchte jauchzen und nicht klagen. Und wenn mich etwas schmerzt und drückt, so bin ich eben noch verrückt.
Meister, darf ich den Vorschlag machen, dass Ihr abwechselnd von uns gepflegt werdet; das könnte von grosser Wirkung sein, vielleicht in wöchentlichen Zwischenräumen. Ich halte Euer persönliches Einwirken auf die Gemüther dieser verschiedenartigen Naturen für die einzige Möglichkeit einer innerlichen Verbindung zwischen ihnen.
Diese Zeit, während Ihr gepflegt werdet, soll auch für jeden Einzelnen zur Ordnung der inneren Angelegenheiten, Tagebuch usw., verwendet werden. Die, welche mit sich nicht in Ordnung sind, sollen Euch pflegen, und sie werden zur Ruhe kommen.
Das kann uns, die Schaufeln am Mühlrad, festhalten, denn wenn nur eine Schaufel bricht, das Rad steht stille. Ihr seid die Achse, der Strom die Jobere.
Das ist das System, das, wenn erfüllt, uns Segen bringen kann. Zusammenhang mit dem Mittelpunkt und damit untereinander; alles was daneben liegt, kann nur hemmend wirken.
Gust. Gräser
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Wien 18/8 98
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Wien 23/8/98
Ich bitte Euch [um] Antwort auf folgende Frage: Sollen hier Kommandoworte erthönen?
Seit meine Mutter11 da ist, stärker denn je empfinde ich nun die Roheit und Niedrigkeit unserer inneren Verhältnisse, die Roheit der Seele des Hauses. Denn nur sie ist es, welche meiner Mutter ein schwerwiegendes Hindernis ist, sich hier sofort anzuschliessen, sie, welche ihr die Ausführung der Idee schwer erscheinen lässt und sie auch davon abhält, auf [meinen] Bruder Ernst zu wirken, dass er hierbleibe. Den Geist, die Idee und ihre edle Wahrheit erfasste meine Mutter sogleich nach dem ersten Blick in die Verhältnisse, und es berührte mich unangenehm, als ich bemerkte, dass mein Meister, wohl im Glauben, ein Weib wie die meisten der Gesellschaft vor sich zu haben, so, als ob er auf Widerstand und Widerspruch stiesse, [mit ihr] sprach.
Ich glaube, im Recht zu sagen: Einem feinfühlenden, edel denkenden Menschen wird es schwer, ist ihm, wenn er sich nicht verleugnet, unmöglich, für Menschen, welche er nicht selbst für eine edle Entwicklung, zumindest für eine solche, dass er sie Geschwister nennen kann, fähig hält, für sie, wenn auch nicht speziell, etwas zu thun und im Schein zu leben, als ob er sie liebte, als ob der Verkehr mit guten schönen Worten ein echter sei.
Keinem in Geist und Seele edlen reinen Menschen (soweit ich denken kann) ist ein energisches Handeln ohne Glauben möglich. Ich kann nur so einen Menschen für fähig halten, meines Bruderseins würdig zu werden, wenn er nach dem ersten Blick in das Innere unserer Idee mit einem Jauchzer sich sagen muss: Nur das ist schön, das nur kann das einzig Wahre sein. Also nur einen Menschen, welcher die Sehnsucht nach Wahrheit, sie selbst in sich getragen hat.
Unbedingt lähmend muss es auf den edlen Menschen wirken, wenn er im Scheine leben soll. Wohl viele edle Menschen werden, wenn die Seele unserer Familie nicht bald auch edel wird, sich abhalten lassen, [sich] ihr anzuschliessen. Die Lostrennung von der Gesellschaft wegen ihrer Unruhe, Uneinigkeit und Falschheit hat keinen Zweck, wenn eben dasselbe im Kleinen in der sogenannten losgetrennten Familie der Fall ist. ...
Damit jeder, der hier ist und hierher kommt, zum Bewusstsein dessen gebracht wird, dass hier nur kindlich reine Seele ihren Platz findet, will ich 10 Sprüche, welche im Hause vertheilt angebracht werden sollen, auf Tafeln schreiben; zur Aneiferung und Ordnung kann es viel beitragen. Mein Wort, ohne Euer Wort, ist nicht, solange ich da bin.
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Wien 24/8 98
Sollen hier Kommandoworte erthönen? D.h., sind Menschen, welche nicht den eigenen Willen haben, was hier Bedingung ist zu erfüllen, möglich? Wirkt nicht das durch solche Kommandoworte fortwährend zum Bewussstsein gebrachte Zwangsleben hier lähmend auf solchen, welcher weiss, dass nur die That, welche dem eigenen Willen, wenn auch unter der Leitung eines Achthabenden, entspringt, von Werth ist.
Das ist's ja, was so drückend wirkt, das fortwährende Erinnertwerden an solche Verhältnisse durch solche dringend zwingende Worte. Durch Milde und unausgesetztes Vorhalten von Fehlern, aber auf die echt liebevollste Weise nur, kann der eigene Wille in dem Nächsten angeregt werden, kann stetes Zusammenwirken herbeigeführt werden.
Mir gegenüber ist ein Kommandowort, überhaupt jeder Zwang, verschwendet; denn es beweist mir, dass der Betreffende nicht genug Vertrauen in mich setzt und hält mich ab, mit eifrigem Willen zu erfüllen. So entstehen Fehler in der Arbeit und machen sie unbrauchbar. Wie bei mir, so bei jedem andern. Es muss immer wieder der Ehrgeiz angestachelt werden, damit jeder sich Mühe geben soll selbst zu suchen, was zu thun vorliegt, acht zu geben, dass es gut wird. So [aber] kommen dann, wenn etwas unterlassen wird, Entschuldigungen wie "Es ist mir ja nichts gesagt worden" usw.
In Verhältnissen, wie sie heute hier sind, liegt der ganze Druck auf Einem oder Zweien, während, wenn der Ehrgeiz angeregt würde, um ein Zehnfaches mehr und besser geschähe. So aber hält sich jeder nur dazu verpflichtet, nur das zu thun, was ihm gesagt wird, und geht an Dingen vorüber, welche zur rechten Zeit mit einem Handgriff, und welche später dann nur mit Verlust von viel Zeit und Kraft verrichtet werden können.
Also nicht befehlen, sondern selbstdazu kommen lassen, durch Beispiel und wörtliche liebevolle Anregung. Das allein kann die richtige Erziehungsmethode sein! Nur dann, wenn ich sehe, dass solches von dem Oberhaupte empfohlen und vertreten wird, ist es mir möglich, selbst als leuchtendes Beispiel zu handeln, ganz hier zu sein.
Gustav, der sich treue,
d.h., der dünkelhafte, anmassende, kindisch unerfahrene und doch alles besser wissen-wollende. Dies ist das Zeugnis, welches mir mein Führer stellt, mein Führer bis hierher und nur dann geistig auch fernerhin, wenn er das, was ich durch ihn und die ihn umgebenden Verhältnisse erkannt habe, auch als richtig anerkennt.
Er hat erkannt, dass in der heutigen Gesellschaft nichts der Menschheit in Zukunft zum Nutzen Gereichendes aufgebaut werden kann. Ich aber erkenne weiter, dass nur in innerstem seelischem Zusammenhang der sich zu einem menschheitlich hohen Zwecke vereinigenden Familie es möglich ist, ein solches Ziel, wie es hier vom Meister erstrebt wird, zu erreichen. Und dass aus Elementen, wie sie hier sind, nicht thatkräftige opferfreudige Männer, sondern willenlose schwache Werkzeuge, die keinen Schritt ohne Antreibung thun, auf die Weise wie es bisher der Fall war erzogen werden. Und dass das, was kaum entstanden, durch solche danebenliegende und doch durch Bande, die lieber nicht wären, angebundene Elemente, unmutig selbstsüchtig schmarotzend, zerstört wird.
Dieses meine unbeugsame Erkenntnis, und leid thut's mir um mein Leben, es in solch unerquicklichen Verhältnissen zuzubringen ohne Glauben daran, auf solche Weise das grosse Ziel erreichen zu können. Und wenn es erreicht würde, könnte ich seiner, wenn es auf unedlem Wege geschähe, nicht froh und glücklich sein. Es ist aber ganz ausgeschlossen, dass mit unedlen Menschen edles Hohes erreicht wird, unmöglich, dass ohne innere seelische Kraft etwas derartiges überhaupt vorwärts gebracht wird.
Diese meine, wenn auch dünkelhafte, ehrliche Überzeugung.
Lieber Meister!
Für den ich mein ganzes Leben mit Freuden gegeben hätte, wenn mir der Glaube an die Erreichung des meinen Meister im Geiste erlösenden Zieles nicht benommen worden wäre durch die zerfahrene, unruhig zerstörende, fortzehrende Seele der sogenannten Familie, welche sich um meinen Meister geschart hat. Und mein Meister, in der hastenden nervösen Eile, ja noch bei Lebzeiten das ersehnte Ziel zu erreichen, sich nicht Zeit lässt, die Verhältnisse von Grund auf zu ändern.
Mein lieber Meister, könnt Ihr selbst daran glauben, mit solchen Mitteln wie bis jetzt die Verhältnisse so zu ordnen, dass Ihr zufrieden sein könnt?
Guter, edelwollender Meister, Eure Seele braucht Ruh, Erquickung, bevor Ihr an die Vollendung Eures Lebenszweckes, an die Ausführung Eurer Menschheitsidee geht.
Was soll ich thun? Es treibt mich fort von hier, fort, wo die Stürme dieses Lebens jagen, wo gottverlassen sich der Erdensohn in Blindheit bauet seine Plagen. Euch bin ich dankbar stets, doch nicht für Eure Qualen, nicht [dafür], das zu fördern, was sie nur vermehrt. Was ich für Euch, mein Meister tuhen möchte, ist mehr als Ihr von mir begehrt.
Lebt wohl!
Euer Gustav, d.h., der es gerne wäre!
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[Brief von Gräser an die Tochter Diefenbachs:]
Wien 31/8 98.
Liebe Stella!
Ich weiss nicht, wie ich anfangen soll. Nun, ich werd' dir einen Traum erzählen, dann wird's schon in Fluss kommen.
Gestern nacht - - - Ein mächtiger Riese mit langem Bart und Haupthaar reicht mir zum hohen Fenster die Hand geradeaus [entgegen] und lacht (das ist das grosse Ereignis, welches in nächster Zeit unsere Familie bewegen wird). Er kommt herein, auf welche Weise weiss ich nicht, und streckt sich der ganzen Länge nach im Zimmer aus.12 Ich werd' abgerufen; in einem mir unbekannten Zimmer trete ich ein, finde dort schon eine ganze Reihe wartender Menschen, zumeist sympathische Gesichter. Es tritt der Meister ein und mit ihm ein Menschenpaar, Mann und Weib, d.h. umgekehrt: denn der Mann war anscheinend ein Pantoffelheld, er stand hinter ihr. Sie war gross und stattlich, blatternarbig, stumpfnasig, [auf]geworfene Lippen, sehr markante Züge.
Sie sprach mit dem Meister in sehr ungeniert freier Weise, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und nannte, was mich nachdenklich stimmte, den Meister du. Der Mann stand hinter ihr, wie gesagt ein Pantoffelheld non plus ultra.
Ich erzähl beim Frühstückstisch den Traum, da thönt es: "die Jolantha, die Jolantha!"13 Ist's möglich? frag ich nun, dass das ein Wahrtraum ist?
Dass die Wunde bald aufbrechen muss, welche bis jetzt reifte, ist anzunehmen; es regt sich etwas, es kommt, muss kommen, wenn wir nur standhalten; nichts ist standhaften Menschen unerreichbar, was irdisch ist!
Mir kommt es immer, wenn ich hinaustrete ins Freie vor, als hätte ich heuer viel versäumt, nun ist das auch wahr. Ich bin nicht in einsam stillen Tälern gewandelt, hab' nicht wie sonst mich mit der Natur aussprechen können, nicht erneuern können meine Empfindungen zur Natur. Ihr könnt, konntet das, Ihr seid glückliche Menschenkinder!
Wie ich voriges Jahr, als mir der Wald solche Worte weckte:
Dein Gustav.
Eben stürzt die Hilaris aus der Waschküche herein: "Wem schreibst du? der Stella?" Sie erschrickt und fällt mir wiederholt um den Hals. "Bitte grüss sie, wünsch ihr auch von mir Glück!" Ich versprech's. Der Dank war, dass ich fast erwürgt wurde!
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[Gräser an Diefenbach:]
4. Sept. 1898
Ihr wollt wissen, wen ich für nicht hierher gehörig halte, welches die Verhältnisse sind, die mir mein Hiersein verleiden.
Jeden hätte ich gerne weg von hier, auf welchen ein echt liebevolles, freundliches Wort weniger wirkt als ein barsches kommandierendes. Jeden, mit welchem Ihr ohne Ekel zu empfinden nicht echt liebevoll sprechen könnt. Jeden, welcher egoistisch nur sich zulieb [alles] thut und [nicht thut], was ihm nicht angenehm, was aber andern eine Freude sein könnte. Vor allen Dingen also jeden, bei welchem freundliche Worte nicht genügen, den vertrauensvolle Worte nicht zum Eifrigsten anspornen. Jeden Schein verbannen, nicht etwas wie: lautlos eine Stunde fast bei Tische sitzen und dann [sagen]: "Also jetzt singen kommen" usw.
Wohl ist Fröhlichkeit vor allem zu erstreben, aber [die kann] bei Menschen, soll bei Menschen nur durch herzliche Theilnahme für jeden seiner Umgebung erweckt werden. Vor allen Dingen [sollen] nur solche [bleiben], welche geistig auf solcher Stufe stehen und so viel Erkenntnis haben, dass mit ihnen ein solcher Verkehr möglich ist. Und nur Kinder, nicht aber verstockte Erwachsene sollen unter diesem Geistesgrad aufgenommen werden, erzogen werden. [Gestrichen: Einen Hermann auf eine edle Stufe zu bringen halte ich, wenn nicht für ganz, so doch für so unmöglich, dass es ein halbes Leben der Plage und Ärgernisse erforderte. Ebenso Matthias und Franz.] Euch soll die Gegenwart eines jeden Euch Umgebenden eine Freude und kein Ekel sein. Aber das Wichtigste zum Schluss:
Ihr braucht Ruhe, denn mit derart drängenden nervösen Worten, mit derartigem Erschrecken, wenn etwas nicht recht geschieht, macht Ihr selbst den Betreffenden nur unmutig!
Ja ja, verzeiht die Lüge des Verschweigens; es hängt alles mit Euch zusammen. Wenn Ihr zur Ruhe gekommen wäret, ruhig fester und doch auch milde Eure Weisungen ertheiltet, mit Fröhlichkeit und Hingabe würden sie erfüllt.
Hier kann also nichts anderes helfen, als dass Ihr verkündet: Wer mir bis zur Ruhe, bis zur Erledigung der drückendsten Lasten hilft, der bleibe bis [da]hin. Dann ziehe ich mich mit meinen Kindern zurück, und wenn ich alles innen und aussen geordnet habe, dann rufe ich die, welche ich liebe! Anders kann's mit Fröhlichkeit und Liebe nicht erreicht werden, das grosse Ziel!
Urtheilt weise, wenn Ihr ruhig geworden, über Euren ergebenen
Gustav
Ich widerspreche jedem, der behauptet, das und das ist nicht möglich, und sage: Alles ist in weisem Geiste, im Geiste, den der Mensch von Gott, dem Meister, erhält, alles ist dem Menschen möglich, was nicht über seine Erdatmosphäre hinausgeht!
Der Mensch hat zu gebieten, zu ordnen, aber nicht indem er fordert von andern, sondern indem er von sich fordert zu sein, wie Gott, wie Er will, dass man gegen Ihn sei.
Nur das Gute kann mich halten, und das Böse stösst mich ab, damit dem Bösen wird, was ihm gebührt.
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[Abschiedsbrief Gusto Gräsers an seinen Meister Karl Wilhelm Diefenbach vom 5.September 1898:]
Die Ursache, warum ich weggehen muss (weil ich nicht gegen Gott handeln will), hier zu dokumentieren, schreibe ich diese Worte nieder.
Den, welchen ich als Meister anerkannt hatte, ist mir unmöglich geworden, auch heute anzuerkennen! Denn es war mir die ganze Zeit über, dass ich da bin, nicht möglich, mich ihm gegenüber auch nur einmal gründlich auszusprechen.
Wohl war ich ein Schwächling, dass ich mir nicht verschaffte, was ich als rechtmässig einem Meister, einem Vater gegenüber erkannte. Das Tagebuch allein kann die Stelle gesprochener Worte nicht vertreten, denn Blick und Thon sind die Äusserungen der Seele, und wo die fehlt, ist keine Gemeinschaft, keine [solche], wie [sie] der Schüler zum Meister [haben] soll, möglich.
Ich erinnere mich an Worte, welche ich vor Jahren schrieb. So naiv sie sind, freuen sie mich. "Worte ohne Seele sind Brot ohne Mehle." Die Thatsache [fehlender Offenheit] hatte zur Folge, dass ich schweigen musste, lügen musste; durch die Härte und Steifheit der Worte und durch die ermüdende Länge und Breite der Reden [des Meisters], welche ununterbrochen mich nicht zu Worte kommen liessen, wo es mich gedrängt hätte zu sprechen, [wurde ich] unwillig gemacht, überhaupt zu sprechen; wurde ich verschlossen in Geist und Seele, in Arbeit und Verkehr. Ich erkannte die Schwäche des Geistes, welcher mich mit solcher Kraft angezogen hatte, in der Wirkung, welche er verursachte auf einen rein, wenn auch wenig bewusst empfindenden Geist, der mir ward durch Gott, meinen ewigen Meister, den ich immer als letzten befrage. Der mir Offenheit gebietet, gebietet, dass ich nur dort, wo ich offen sein kann, sein darf. Ich gehöre dahin, wo die Wahrheit waltet. Setzt sich jemand Ihr entgegen, darf ich nicht mit ihm sein, ihm [nicht] damit zu beweisen, dass ich die Lüge anerkenne als das Richtige.
Verschlossen ist mir worden der Weg, wo ich hätte Gutes thun können, indem ich bleibe. So muss ich gehen, um hier zu sein!
Ich stellte mir die Aufgabe, nachdem ich das Übel im Werke erkannt hatte, auszubessern in Rath und That. Es ekelt mich, das Gute zu erzwingen; wird es nicht frei gewählt, so kann es nie gelingen.
Im Druck, vom Oberhaupte der Familie aus[gehend], nahm ich diesen Anlauf: Hausordnungen, Sprüche usw. zu schreiben, die [eigentlich] das Oberhaupt vertreten und bewachen sollte. Mit Worten [wollte ich] das Gefühl anregen für ideales Streben und in Formen, im Schmuck des Heimes, die Seele sehnsüchtig werden lassen, in dieses Heim auch passendes Leben zu bringen. Zunichte ist es, denn zerdrückt! So meinte ich's, wie ich['s] hier anführe:
* * *
Die Einkehr des Herakles
Auszug aus dem gleichnamigen Buch
von C.P.Fournière14
Aufs deutlichste steht nun vor meinem Gedächtnis Minute für Minute, was mir durch den Kopf ging und was dann geschah.
Es ist mir nicht entfallen, daß ich eben überlegte, welche Bewandtnis es eigentlich damit habe, daß man einem so lang verstorbenen Manne eines weitentfernten Volkes bei uns ein Denkmal setzte mitten auf dem Stadtmarkt - als plötzlich in erstarrendem Schrecken mein über die Decke des dämmrigen Zimmers schweifendes Auge an der meinem Fußende gegenüber-liegenden Tür zum Hausgang wie gebannt haften blieb: sie war lautlos aufgegangen und im Türrahmen stand übermächtig der, den mein Geist soeben umkreist hatte.
Obwohl mein Körper durch die kalte Abendwaschung und unter der sommerlich dünnen Decke frisch und wach und noch nicht in den lässigen erschlafften Zustand, der dem Einschlafen vorhergeht, gefallen war, vermochte ich kein Glied zu rühren, alle Muskeln bebten vor innerer Spannung und unter dem Zwang solchen niemals erlebten Bannes erstickte mir jeder Ton in der Kehle. Das vor mir auftauchende Bild überstieg in der rasenden Geschwindigkeit, mit der ich es aufnahm, mein ganzes Fassungsvermögen, sodaß ich den augenblicklichen Versuch, zu begreifen, was es sei, hoffnungslos fahren ließ und selbstvergessen starrte, damit mir nichts von dem entgehe, was da in mein Leben trat.
So sah ich nach ihm hin, wie einer hilf- und wehrlos auf einen Eindringling sehen mag, der durchs Fenster mit blinkender Waffe auf ihn zukommt, indessen er jede seiner Bewegungen aufs genaueste verfolgend doch nicht imstande ist, sich zu rühren oder zu entweichen. Einen Herzschlag lang schien mir die Erscheinung unwirklich, denn ich glaubte zu bemerken, daß das Haupt im Umriß fließend den Türrahmen sprenge, derart aber, daß zugleich durch das Gesicht die Führung des Holzes und die Wand sichtbar blieben. Doch schon näherte sich der Halbgott meinem Lager, verdichtete sich zu Fleisch und Bein, unverkennbar menschlicher, wenn schon übergroßer Gestalt. Und seltsam, je wirklicher, je greifbarer er mir erschien, desto mehr entschwand meine Angst vor einer unbekannt schwingenden Heiterkeit. Wie ganz anders sah Herakles aus als auf dem Brunnen am Markt!
Sein Gesicht war groß und sonnenbraun, sein schwarzes Haar buchtete sich auf der Stirn zu beiden Seiten zurück, ein runder Bart umrahmte Kinn und Wange. Der riesige Bogen der Schultern, die mächtige Brust, die gehobnen Arme mit den breiten Händen! Er war ganz nackt und nie noch hatte ich einen Mann ganz nackt gesehen. Wie zum Tanz hob er bald das eine, bald das andre Bein, weit wölbten sich die glänzenden gewaltigen Schenkel. Den auffallend schmalen Hüften entstieg der Oberleib wie ein Trichter oder besser, der breite Brustkorb schwebte wie von eigener Kraft gehalten in der Höhe des Raums. Und nun schaute er auf mich herunter: welch ein Blick, welch ein Abgrundblick traf mich aus goldenem Auge. Leis öffnet sich sein Mund und wie von weither anschwellend füllt ein dröhnendes halblautes Brummen in fremder Kadenz steigend und fallend den Raum gleich dem Gesumm einer riesigen bronzenen Hummel. Er spricht kein Wort, aber er neigt sein Haupt zur Seite und zwinkert mir mit wilder Fröhlichkeit zu, als lüde er mich ein zum Tanz. Nie hätte ich gedacht, daß Herakles so sei!
In besinnungsloser Hast begann ich zu sprechen: - Ja, ich weiß es, du bist es, mein Herakles, du guter großer Held, du Retter und Helfer, du Freund und Befreier, mein Herakles, der du stärker bist als alle, zu mir bist du gekommen, mein Herakles, nimm mich in deine Arme und trage mich fort, wohin du willst, ich habe keine Furcht vor dir, mein Herakles! -
Inzwischen war der herrliche Halbgott durch den offenstehenden Eingang langsam in gemessenem Takte, leise vor sich hinsummend, rückwärts getanzt, immerfort die goldenen Augen mir zugeneigt, der ich nun wie benommen ihm folgte. Je näher ich kam, umso heftiger packte mich ein unendlich süßer Taumel - schon hatte ich ein Gefühl, dem vergleichbar, wenn ein Schiff zu weiter Meerfahrt in fremde Erdteile sich endgültig mit einem Ruck schwankend vom heimischen Ufer löst - als ich mit größtem Erstaunen sah, wie der Held auf die breite Fensterbank sprang und von da sich hinunter in den Garten schwang. Ich eilte zur Brüstung, da erschien er, sehr groß, im durchsichtigen Abendlicht des verlöschenden Sommertags zwischen den Rot- und Weißdornhecken, bald verschwindend, bald wieder hervortretend. Er schwang die Arme hin und her und öffnete die Hände, auf daß er mich auffinge, er, der wie keiner ein Anrecht auf mich besäße.
In jähem Ruck warf ich den Kopf herum zu ihm, der mich dort draußen ins Offene rief, zur Erde rief, zu feurigem Geflamm und tönendem Windhauch.
***
Nachwort
Gräsers Himmelhof-Tagebuch lesend - das kein echtes Tagebuch ist (es verschweigt gerade das Eigenste und Geheimste) sondern ein Briefwechsel mit seinem Meister - werden wir Zeuge am stillsten und doch wichtigsten Vorgang in einem Menschen: wie einer wird, was er ist. Wir werden Zeugen einer Geburt. Auf eine doppelte, wiedersprüchliche Weise vollzieht sie sich: durch Aneignung und Abstoßung. Der junge Gräser wirft sich mit Begeisterung in die Ideen und Lebensweise seines Meisters hinein, verehrt zunächst auch den Menschen - und muß sich doch, kaum angekommen, schon wieder trennen, abstoßen, unter Schmerzen loslösen von dem Verehrten, dem Heilsbringer, dem Befreier.
Der Konflikt, der Kampf, die seelische Zerreißprobe, sie könnte nicht größer sein. Der Neunzehnjährige besteht diese Probe, zögernd und schwankend zwar, ringsum nach Hilfe suchend und nicht findend, aber letztlich mit erstaunlicher Ruhe und fast unglaublicher Selbstsicherheit. Der Lehrling gegen den Meister, der Jüngere gegen den eine Generation Älteren, der Unerfahrene und Ungesicherte gegen den als Künstler wie als "Propheten" bereits Etablierten. Woher nimmt er den Mut, woher die Sicherheit, von allem Anfang an sich dem Meister zu widersetzen, dem er sich doch angeschlossen und angelobt hat? Die über die ersten sechs Wochen hin unbeschriebenen Blätter sind die beredesten dieses Tagebuchs. Hingabe und Begeisterung, jah - aber zugleich Suchen und Prüfen und Stocken. War denn das echt, wurde das gelebt, was hier tagaus tagein gepredigt und scheinbar auch vorgelebt wurde? Der junge Mann muß sehr früh eine Witterung aufgenommen, Verheimlichtes gespürt, Verborgenes geahnt haben. Nach mancherlei Vorzeichen muß dann das Eindringen der (vermutlich betrunkenen) Mathilde Oborny, der Vertrauten des Meisters, in die Badestube der nackten jungen Männer, ihr schamloses Sichfeilbieten, ihre obszöne und vulgäre Redeweise, ihr Diebstahl und ihre Flucht ihm die Szene wie ein Blitzschlag erhellt haben. Wenn solches in diesem Hause möglich war - konnte der Meister nur Opfer, nicht auch Mitbeteiligter sein? Wenn der "dienstälteste" Jünger und Mitarbeiter des Meisters mit dessen minderjähriger Tochter heimlich sexuell verkehrte, sich aus der Hauskasse Zigaretten zu verschaffen wußte und doch vom Meister nicht verstoßen wurde, wenn dessen Bruder, ebenfalls ergebener Jünger, obwohl verheiratet, ebenfalls diesem Mädchen nachstellte, sie heimlich schwängerte, während er gleichzeitig allen Eintretenden, unter Strafe des Ausschlusses, jegliche erotische Regung verbot; wenn andere Jünger aufgenommen wurden, deren Unbildung, Sittenlosigkeit und Vulgarität ihn anwiderte, und wenn all diese Ungereimtheiten, wie verborgen sie auch wucherten, ein ständiges Klima der Unruhe und Spannung erzeugten, das ruhigzustellen und niederzuhalten der Meister nicht imstande war, vielmehr ihm, dem unerfahrenen Anfänger aufzubürden suchte; wenn dazuhin der Meister mehr an der Arbeitsleistung als an der Förderung seiner Schüler interessiert schien, Gespräche verweigerte, nur oder vorzugsweise schriftlich mit ihnen verkehrte, als herrischer Patriarch auftretend, der unbedingten Gehorsam verlangte und Kindesliebe dazu - wenn all dies die versprochene Gemeinschaft in Eintracht, Glück und Frieden sein sollte (in manchen Zeiten und Hinsichten zugleich auch war, was die Sache umso schwieriger machte), dann stand dieser junge Mensch, zugleich mit all dem Neuen seiner Umgebung, vor einem Berg von Rätseln, vor einer undurchdringlichen Sphinx: Götterantlitz und tierisch-teuflische Klaue.
Wenig von dem, was vorging, was wir heute wissen, kann er gewußt haben. Er war auf Ahnungen angewiesen, auf die Beobachtung von Spuren, auf seine Träume. Erst der Traum von Ende August zeigte ihm das wahre Gesicht des Meisters: kein Feldherr des Geistes, ein Pantoffelheld unter der Fuchtel ordinärer Weiber. Und seine eigene Größe wacht in ihm auf: ein Riese, der einbricht in sein Haus, ihn ins Freie lockt. Ein Wahrtraum und Befreiungstraum, dessen Weisung er folgt.
Aber verzögernde, aufschiebende Elemente sind eingefügt in diesen Ablösungsprozeß. Lange, allzulange hofft er, durch das Dazukommen seiner Mutter die "Verhältnisse" in seinem Sinne wenden, durch aufrichtige und liebevolle Kritik am Meister diesen selbst auf den rechten Weg führen zu können: weg von autoritärem Zwang zu einfühlend verstehendem Werdenlassen. Der Lehrling will den Meister führen! Das "Ohne Zwang", das ihm zur Lebenslosung werden sollte, stellt sich auf, reckt sich, erwächst ihm im Ringen mit dem Manne, der sein geliebter Lehrer ist, aber zugleich ein Autokrat, ein Patriarch, ein "Krat". Die Grundfigur von Gräsers künftiger Lebensstrategie wird hier gelegt, geboren: Kampf dem "Krat", den Herren und der Herrschaft in jeder Gestalt, Freiheit dem Eigenen, Freiheit dem Drang gegen jede Fremdbestimmung, jede "Anführung", jeden Zwang. Wenn Gräser später sagt, daß er kein "Führer" sein, keine "Anhänger" haben wolle, wenn er nie sich "Meister" genannt oder als solcher gegeben hat, dann wuchs ihm solche Haltung in jenen wenigen Monaten zu, da er unter der Autorität eines "Gurus" nach seinem Eigenen suchte, um sein Eigenes kämpfen mußte. "Eigensinn und Eigensein" wurde seine Parole und das abwehrende und aufbauende: "Hüt Dich vor mir, Du - komm zu Dir!"
Bei alledem darf nicht vergessen werden: Die Grundlagen seiner Weltanschauung, anfäng-liche und weithin bleibende, hat Diefenbach für ihn gelegt. Und das Eigene, das Gräser hinzugetan und daraus gemacht hat, dankt er Diefenbach ebenfalls: durch Widerspruch und Widerstand. Diefenbach war der Fels, an dem er sich stoßen, an dem er sich aufrichten konnte. Nur an Größe, wie gebrochen oder verwirrt auch immer, kann Größe sich entfalten.
H.M.
1 Diefenbach verlangte von seinen Schülern, daß sie ein Tagebuch führten und ihm zur Einsicht vorlegten. Jeder neu Eintretende sollte zunächst in einem Lebensbericht seine bisherige innere Entwicklung aufs genaueste darstellen und offenlegen. Dies war Bedingung für die Aufnahme. Nach zwei Monaten hatte Gräser diese Forderung immer noch nicht erfüllt und wurde vom Meister offenbar gedrängt, dies endlich zu tun.
2 Gemeint ist: Es sind dieselben wie in der Gesellschaft draußen.
3 Nämlich: ein Tagebuch zu schreiben.
4 Jüngster Sohn Diefenbachs, damals elfjährig.
5 Tochter Diefenbachs, damals fünzehnjährig.
6 Der Mitschüler Friedrich von Spaun (1870-1950). Wie sein Bruder Paul (geb.1876) ließ er sich als Maler ausbilden, wechselte jedoch später in einen technischen Beruf. Gräser besuchte ihn später in Triest und traf ihn 1906 noch einmal in München. Friedrich hatte 1887 in Wien die langjährige Diefenbach-Jüngerin und Lehrerin seiner Kinder Magdalene Bachmann geheiratet.
7 Der Mitschüler Paul von Spaun, mit Jüngernamen "Fidus", heiratete später Stella Diefenbach.
8 Ältester Sohn Diefenbachs, damals siebzehnjährig.
9 Der großgewachsene Albertin Gold hatte den Jüngernamen "Simplicius" bekommen.
10 Die Jüngerin Mina Vogler wurde 1902 die zweite Ehefrau von Diefenbach.
11 Charlotte Gräser war mit ihrem jüngsten Sohn Ernst am 18.August auf den Himmelhof zu Besuch gekommen und blieb dort bis zum 28ten des Monats. In ihrem Tagebuch schreibt sie:
"Wir fügten uns 9 Tage der dort herrschenden Lebensweise, durchdrungen von der Idee, dass Diefenbachs Anschauungen allein der rechte Weg sind, um gesunde, die höchsten Ideale anstrebende Menschen zu werden und hervorzubringen. Den 28ten abends um 1/2 8 Uhr schieden wir aus Diefenbachs Hause, um unsere Rückreise anzutreten."
Nach Siebenbürgen zurückgekehrt, schreibt sie ihrem Sohn den folgenden Brief (den Diefenbach, wie üblich, sich vorlegen und am 6.9. abschreiben läßt) :
"Mein lieber Gust!
Nach einer langen, anstrengenden Fahrt sind wir wohlbehalten in unserem Heim angelangt. Die Ereignisse und Einblicke, die ich in Herrn Diefenbachs Hause erhielt, dazu seine hohen edlen Ziele haben auf mich einen für mein ganzes Leben unauslöschlichen Eindruck gemacht. Ich muß sehr viel und ausführlich erzählen und sage auch alles, was mir gefallen hat.
Eines, über was ich mich schämen würde zu sprechen, habe ich niemandem gesagt, nämlich das ist das Verhältnis zwischen den Männern und Frauen - die wilde Ehe - und daß die Kinder, die dort geboren werden, nicht nach Christuslehre getauft werden.
Frl. Sachsenheim-Gabriel, die jetzt nicht in Mediasch ist, sind die Verhältnisse, wie ich sie schilderte, brieflich mitgetheilt worden. Wie ich das Frl. kenne, glaube ich würde sie kommen, wenn eben dieser eine heikle Punkt nicht wäre."
12 Einen ganz ähnlichen Traum schildert der französische Schriftsteller C.P. Fournière als sein Berufungserlebnis zu Aufbruch und Wanderschaft. Gräser hat diesen Text angestrichen und aufbewahrt, offenbar, weil er darin seine eigene Erfahrung wiedererkannte. Schon in seinem Brief an Stella Diefenbach deutet er den Traum als Ankündigung eines bevorstehenden "grossen Ereignisses": Abschied von Diefenbach, Aufbruch auf den eigenen Weg, letztlich zur Wanderschaft. Siehe Anhang!
13 Jüngerin Diefenbachs, die nach ihrer Vertreibung vom Himmelhof wiederholt eine Rückkehr versuchte. In ihren Briefen duzt sie den Meister tatsächlich.
Die weiter unten genannte "Hilaris" hieß eigentlich Mathilde Oborny und war ebenfalls eine Jüngerin am Himmelhof. Nach Angaben von Stella Diefenbach-von Spaun war sie ein zeitlang "sozusagen" die Frau ihres Vaters. Auch sie wurde später ausgewiesen und denunzierte aus Rache ihren einstigen Meister. Über sie schreibt Stella von Spaun siebzig Jahre später:
"Er [Diefenbach] hatte diese Frau als Trinkerin auf der Straße aufgelesen, als sie eben von zwei Polizisten in eine Ernüchterungszelle gebracht werden sollte. Nach seinem Begriff war sie das Opfer der modernen Gesellschaft, und er erfüllte an ihr seine Mission, sie zu retten. Er nahm sie, trotz seiner Sparsamkeit, in einer Droschke mit zum 'Himmelhof', wo wir damals wohnten. Es war in tiefer Nacht, und wir waren am anderen Morgen sehr erstaunt, eine neue Hausgenossin zu haben. Ausserdem sollte sie mit mir in nähere Fühlung treten und mir als dem einzigen weiblichen Wesen im Hause in allem eine Vertraute werden. ... Nachdem mein Vater die Hoffnung aufgeben musste, dass sie ihr Trinken aufgeben würde, musste er sie aus dem Haus weisen. Sie war ihm inzwischen sozusagen seine Frau geworden, hatte auch geistige Interessen und war eine schöne Person. Sie war früher Modell einiger der berühmtesten Maler Wiens."
14 Gusto Gräser hat diesen Text angestrichen und aufbewahrt. Das hier erzählte Ereignis erinnert deutlich an einen Traum, den Gräser selbst gehabt hat und über den er in seinem Brief an Stella Diefenbach vom 31.8.1898 berichtet. Ein mächtiger Riese mit langem Bart und Haupthaar sei in seinem Fenster erschienen, habe ihm lachend die Hand entgegengehalten und sich dann der Länge nach im Zimmer ausgestreckt. Er selbst, Gräser, deutet den Traum: Dies sei das große Ereignis, das der Himmelhof-Familie bevorstehe.
Gemeint ist offenbar sein Auszug aus der Gemeinschaft um Diefenbach, sein Bruch mit dem Meister und sein Aufbruch auf den eigenen, selbstbestimmten Weg. Knapp vierzehn Tage später wird er sich aufmachen, um selbst der lachende Riese zu werden, der in jener Nacht eingebrochen war in sein Haus.