Die Erzählung ‚Freunde’ von 1907/8 beschreibt Hesses
Abkehr von Ludwig Finckh und seine Hinwendung zu Gusto Gräser.
In einem Rückblick aus späteren Jahren sagt Hesse, „dass
Finckh zwar als Freund eine Zeitlang in meinem Leben eine große
Rolle spielte; dass er in meinem geistigen Leben und meiner
Entwicklung aber schon sehr früh aufhörte, eine Rolle
irgendwelcher Art zu spielen, und dass sein Stehenbleiben
von der
Zeit seiner Heirat an mit zu den großen Enttäuschungen
meiner Gaienhofener Periode gehörte.“ (GB II, 301; Hervorhebung von mir, H. M.).
Hugo Ball bestätigt diesen Befund auch von der anderen Seite
her. Nachdem Finckh 1907 geheiratet hatte und Anfang 1908 das erste
seiner fünf Kinder zur Welt kam, „buddelte“ er sich,
wie Ball schreibt, ganz in seine Familie ein und „empfand mehr
und mehr den Freund als entbehrlich“. (Ball 127)
Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Hesse hatte nämlich
„einen neuen, ganz anders geliebten Freund“ gefunden.
Davon zeugt die Erzählung
‚Freunde’.
„Da war einer, der gleich ihm ganz allein stand“ –
Heinrich Wirth. Er ist „groß“ von Gestalt –
wie Gräser, hat „schöne, warme, braune Augen“ –
wie Gräser und pflegt wie dieser im Gespräch mit großen
Schritten auf und ab zu gehen. „Unvergeßlich aber war
sein Blick, der ruhige, klare, sichere Blick“. Wir kennen
diesen Blick, von Demian und, oft beschrieben, von Gräser.
Wirth lebt vegetarisch und abstinent – wie Gräser, und
seine Kleidung wird als „unfein“, „plump“,
„schäbig“, „urgroßväterlich“
umschrieben; er trägt schwere Bauernstiefel und anderes, was ihn
als Tolstoianer kennzeichnen soll. Da traut sich Hesse nicht ganz an
das Naturmenschengewand Gräsers heran, aber er deutet in die
Richtung.
Heinrich Wirths Vater war ein frommer, allzu gutmütiger Mensch
gewesen – wie Gräsers Vater – und er starb wie
dieser früh, „noch ehe ich Student war“. (Beim Tod
seines Vaters war Gräser fünfzehn Jahre alt.) Seine Mutter
lebt jetzt „daheim in unserem Dorf bei Verwandten“ –
wie die Mutter Gräsers, die als Witwe bei Tochter und
Schwiegersohn in dem Flecken Miskolcz wohnte. Zur Zeit aber wohnt sie in der Nähe
ihres Sohnes (sie schickt ihm Birnen ins Haus) – wie Mutter
Gräser, die von November 1906 bis September 1907 bei ihren
Söhnen in Ascona lebte. In ihrem Tagebuch hat sie darüber
berichtet.
Als
wir mit Karl den 1sten November in Askona einzogen, traf ich Gust
nicht im besten Zustand an. Sein Gesicht war geschwollen und über
dem linken Auge hatte er noch die rote Narbe, die er von einem Sturz
bei einer Fahrt davongetragen hat. Dann machte Gust seinen Kahn
fertig.
Nach
Ernstens Ausstellung in Locarno machten wir zusammen eine Ausstellung
mit an die 40 Bildern. Ernst hatte viel zu tun, bis er den Raum für
seine Ausstellung praktisch und gut gestaltet hatte. Durch die
Ausstellung hatten wir auch viele Besucher; in einem Monat sind 50
bis 60 Billets à 50 Centimes verkauft worden.
Mutter Gräser war in dem von Karl erbauten Haupthaus (später
‚Casa Francesco’ genannt) untergebracht, während
Gusto das etwa fünfzig Schritt entfernte Nebengebäude, eine
ehemalige Weinberghausruine, zugefallen war. Das heißt, er
konnte diesen schmalen, lang-gestreckten Bau (heute ‚Casa
Bambu’), der die Bibliothek von Karl enthielt, benutzen, wenn
er sich in Ascona aufhielt. Jetzt, im Frühjahr 1907, ist er
wieder einmal da.
Sie aßen schweigend.
Hans [Calwer, d. i. Hesse] nicht ohne Befangenheit. Als er fertig
wahr und nichts mehr nehmen wollte, ging Wirth [d. i. Gusto Gräser]
an den Schrank, brachte eine prächtige Birne und bot sie an: „Da
hab ich noch etwas für Sie, damit Sie mir nicht hungrig bleiben.
Nehmen Sie nur, ich habe noch einen ganzen Korb voll. Sie sind von
meiner Mutter, die schickt mir alle Augenblicke so was Gutes.“
(Hesse: Freunde. suhrkamp
taschenbuch 1284, Frankfurt/M. 1986, S.49)
Klar, dass Mutter Gräser ihrem Gusto Äpfel und Birnen ins
Haus bringt – aus dem Ertrag der großen Obstplantage
ihres Karl. Nur zu verständlich auch, dass es „ihr Schmerz
ist … dass ich kein Brotstudium treibe und dass sie keine
Aussicht hat, mich bald als Pfarrer oder Doktor oder Professor zu
sehen“. Etwas Derartiges war natürlich von Gusto erwartet
worden, der einer Akademikerfamilie entstammte; Bischöfe und
Historiker waren aus ihr hervorgegangen. Umso größer die
Enttäuschung, dass dieser reich begabte Sohn nun “bei
fremden Leuten ein ungewisses Leben“ führte. Und das ist
noch eine sehr vorsichtig-vornehme Umschreibung für das
Wanderleben Gusto Gräsers.
Deutlicher schimmert die Wirklichkeit durch, wenn erwähnt wird,
dass man Wirth für einen „Landstreicher“ halten
konnte – als solcher wurde Gräser oft genug festgenommen
und verurteilt. Und ein „armer Schlucker“ war er gewiss.
Dass er trotzdem über eine beträchtliche Bildung verfügt,
über Kant und Schopenhauer diskutieren kann und indische Studien
treibt, - das ist die andere Seite dieses „Land-streichers“,
der ebenso Gelehrter wie „Vagabund“ ist. Tatsächlich
hat Gräser weit mehr Zeit in Bibliotheken als auf der Landstraße
verbracht.
So führt er auch jetzt, im Frühjahr 1907, ein eher
beschauliches Leben im Häuschen seines Bruders. Seine Mutter
versorgt ihn mit Essen, und er kann sich aus der reichhaltigen
Bibliothek von Karl bedienen. Die wird auch Franz Hartmanns
Übersetzung der ‚Bhagavad-gita’ enthalten haben.
Hartmann lebte ja im nahen Locarno, kam öfters auf den Berg, um
dort Vorträge zu halten. Ursprünglich hatte er auf dem
Hügel ein theosophisches Laienkloster errichten wollen. Nun war
daraus eine Siedlung von Lebensreformern geworden, der ‚Monte
Verità’.
Kein Wunder also, dass Gräser-Wirth die „Upanishads der
Veden“ studiert und viel von den alten Indern redet, „deren
Weisheit wir verehren und zu deren Büchern und Lehren jetzt
Europa zurückkehren möchte“.
Er hatte, nach dem Tagebuch seiner Mutter, den Winter in München
verbracht. War dann über den Bodensee in die Schweiz gewandert –
seine übliche Route ging über Zürich, wo er gute
Freunde hatte – und unterwegs war er bei Hesse in Gaienhofen
vorbeigekommen. Der wollte ihn in Ascona besuchen. Während er
auf ihn wartete, konnte er in Ruhe die Bücher von Hartmann
studieren, über ‚Karma’, ‚Schwarze und weiße
Magie’ und über Jesus oder „Jehoshuah’.
Zwischendurch legt er letzte Hand an sein Boot, einen Einbaum, den er
im letzten Herbst schon ausgehöhlt hat. Sobald das Wetter besser
ist, wird er damit über den See fahren, um Fische zu fangen. Und
im Sommer dann wird er zu den Brissago-Inseln rudern und dort Früchte
aufsammeln, Orangen und Zitronen, die auf dem unbewohnten Eiland in
fast tropischer Fülle gedeihen. Er beteiligt sich auch an einer
Kunstausstellung seines Bruders Ernst in Locarno. Es werden an die
vierzig Bilder der beiden Brüder gezeigt; Gustos Bild
‚Erfüllung’ hat man extra aus Wien kommen lassen.