Das Jahr 1911 sollte für Gusto Gräser ein Jahr des Aufbruchs werden. In München hatte er 1910 eigenhändig einen Wohnwagen gezimmert, einen Wohnwagen für Pferdegespann. In ihm wollte er seine ganze, damals siebenköpfige Familie unterbringen. Es sollte ein Demonstrationszug werden, eine Karawane der Reformer quer durch Deutschland, von München nach Berlin und Hamburg. Von seinen Freunden sollte der Maler Willo Rall mitfahren, und auch andere wird er aufgefordert haben, mitzutun. Willo Rall freilich sagte am Ende ab, unter dem Druck seiner Verlobten. Also zog Gräser im Frühjahr 1911 alleine los in seinem zeisiggrünen Planwagen, der eine hölzerne Schlange auf seinem Dach trug und auf den Außenwänden in Riesenbuchstaben seinen Aufruf: „Raus! Raus! Raus!“ Heraus sollten die Menschen nicht nur aus ihren Häusern, nicht nur aus überalterten Sitten und Denkweisen, heraus sollten sie aus einer, nach seiner Ansicht, verrotteten, verlogenen, erstarrten patriarchalen Gesellschaft und Kultur.
Heraus und wohin? Dafür gab er mit seiner wilden Rübezahlgewandung schon mal die Richtung an: zum Wald, zur Wildnis und zur Lebenskraft der Schlange. Nicht gerade in den wirklichen Wald, da gab es auf die Dauer kein Überleben, sondern in den inneren Wald, die Wildnis des Herzens, in das verschüttete Reich der Seele. Ein halbes Jahrhundert später würde seine Losung so formuliert werden: „Graswurzelrevolution! Die Phantasie an die Macht! Entdeckt unter dem Pflaster den Strand!“
Dieser Ruf erging zunächst an seine Freunde, darunter sicher auch an Friedrich Lamberty, seinen hauseigenen freien Wandervogel, den alle nur Muck nannten. Der wollte kein Vereinsmeier sein, der wollte ein ungezähmter Vogel bleiben, und also zog er los. Im selben Frühjahr 1911, mit seinem Freund Karl Bittel und anderen, dem Süden zu. Tirol, die Schweiz, Italien. Er will mit Freunden frei zusammenleben, lebensreformerische Siedlungsgemeinschaften gründen. Dafür suchte er Land dort, wo die Brüder Gräser ein Jahrzehnt früher schon eine neue Heimat gesucht hatten: im wärmeren Süden.
Seit 1911 haben wir „Wilden“, wie uns die Vereinsmitglieder der Jugendvereine nannten, schon alles versucht, die Siedlungsfreudigkeit der Jungen zu heben … Mit Freunden habe ich selber auf den verschiedensten Gütern und Siedlungen mitgearbeitet … Burschen, die mit mir nach Meran (Tirol) zogen. Dort lebten wir als Landarbeiter … Und als wir im Sommer 1912 durch Schwaben, Baden und die Schweiz wanderten, planten wir die Handwerkersiedlung „Jungau“ (Muck in: Siedlungsmöglichkeiten, S. 2)
K.
Stehle, Willi Zimmermann, Muck-Lamberty und, mit Klampfe, Karl
Bittel1911 im Donautal bei
Werenwag.
Die Fotos wurden als Postkarten gedruckt und verkauft. So dienten sie zugleich der Propaganda und dem Unterhalt der Wanderer. Auch Gusto Gräser ernährte mit solchen Bildkarten, zusätzlich zu seinen Spruchkarten, seine große Familie.
Muck weiter in seinem Bericht: „In einem dreibändigen Rundbuch haben wir alle Fragen klargelegt und unsern jungen Sinn frei schalten lassen. Ich wanderte von Bregenz aus weiter, um all die Schreiberlein, Handwerker, Bauern, Werkleute, Fabrikarbeiter und Bünde kennen zu lernen. Um die „Jungau“-Gemeinschaft scharten sich viele Wunschmenschen, die wünschten, eine Siedlung möge bald kommen“ (Siedlungsmöglichkeiten, S.2 ).