1914 Fidus für Gräser

Am 28. Februar 1914 schreibt der Maler Fidus einen Protestbrief zugunsten Gusto Gräsers:


Wolt.[ersdorf] 28. II. 14      

Das gebildete Deutschland darf nicht ruhig zusehen, dass ein Mann wie Gusto Gräser in der Betätigung seines Schönheitsgewissens gehindert werde, und eine deutsche Polizei hat auch kein gesetzliches Recht, einen so redlichen und hochgebildeten Menschen wegen seiner Kleidung auszuweisen.
 
Wenn deutsche Obrigkeiten im Mittelalter mit Strafen gegen die lächerlichen Auswüchse der Eitelkeit und Verschwendung zu Felde zogen, so taten sie damit etwas Sittliches, dem Gemeinwohle Dienliches. Wenn sie aber heute, im Zeitalter persönlicher Freiheit, einen Menschen hindern, seine von führenden Geistern als gesund, schön und edel anerkannte einfache Lebens- und Bekleidungsart zu führen, so tut sie damit etwas Unsittliches, umsomehr als sie die schamlose Dirnen- und Hochstaplermode, gegen die die Art eines Karl Wilhelm Diefenbach, eines Professor Jäger, eines Gusto Gräser und anderer sich kühn mit der Tat wendet, duldet und mit jener Verfolgung in Schutz nimmt.

Eine Obrigkeit, die sich damit auf die Seite des rückständigen Filisteriums stellt, giebt sich vor einer gebildeten Gemeinde eine traurige Blösse. Denn alle Gebildeten wissen, dass seit Jahrzehnten die edelsten Geister an einer Reform der Lebens- und Kleidungsart arbeiten, weil die von der Genusssucht und Mode diktierte, ihrer niedrigen Herkunft entsprechend nicht nur hässlich, sondern auch unmoralisch und ungesund ist. Wo kämen wir hin, wenn die Polizei alles verbieten dürfte, woran der Pöbel etwa "Ärgernis" nehmen könnte. Eine deutsche Obrigkeit hat eher die edle ja seltene Aufrechtheit eines deutschen Mannes wie Gräser zu schützen, wenn er dessen bedürfte.

Hugo Höppener-Fidus
(Original im Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein)


Kommentar:
Gusto hatte in Stuttgart einen zweijährigen Kampf gegen seine Ausweisung zu führen. Die Stuttgarter Stadtverwaltung wollte ihn von Anfang an nicht haben. Nur dem Eintreten von Freunden, so dem Rechtsanwalt Alfred Daniel und dem Pastor Karl Wilhelm Friedrich, wahrscheinlich auch dem Stadtpfarrer Gerok und dem Hofprediger Hoffmann, war es zu verdanken, dass er seine Abschiebung zwei Jahre lang hinauszögern konnte. Seine damaligen Reisen nach Berlin und München (wo man ihn 1914 verhaftete) hatten sicher auch mit seiner Verteidigung zu tun. In Berlin suchte er vermutlich Beistand bei Gustav Wyneken, Fidus und den Wandervögeln, in München bei seinem Freund Michael Georg Conrad und anderen. Auch an den Dichter Christian Wagner hat er sich gewandt. Ausser mit seinen Reden und Schriften und mit der Versorgung seiner vielköpfigen Familie war er also zusätzlich mit diesem nervenzehrenden Abwehrkampf beschäftigt und belastet.
„Ehrlich, redlich, anständig und hochgebildet“ nennt ihn Fidus, „kühn, edel, und von seltener Aufrechtheit“. Die Empörung scheint ihm aus dem Herzen zu kommen, denn er merkt, dass seine Ausdrucksweise zu begeistert und zu scharf ist für die Öffentlichkeit und nimmt sich zurück. Offensichtlich stand er entschieden auf der Seite Gräsers, dem er in den Jahren 1911, 12 und 13 in Berlin immer wieder begegnet sein muss. Gewisse Anzeichen, etwa die an ihn gerichtete Karte von Paasche, machen wahrscheinlich, dass er dem 'Kreis der Freunde Gusto Gräsers' angehörte.
Wir entnehmen diesen Schreiben ausserdem, dass Gräser schon Anfang 1914 (und wahrscheinlich schon Ende 1913) in Stuttgart in Gefahr stand, aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Wie auch aus anderen Quellen hervorgeht, zog sich der Prozess um seine Ausweisung über fast zwei Jahre hin, bis sie dann im August 1915 tatsächlich vollzogen wurde – mit schweren Folgen für Gräser und seine Familie. Wir beobachten an diesem Beispiel seine mehrfach versuchte Austreibung, zunächst hier aus Stuttgart und Schwaben, dann aus Deutschland überhaupt. Er galt ja, obwohl deutschsprachiger und deutschblütiger Siebenbürger, als Ausländer, der jederzeit abgeschoben werden konnte.
Ob der Protestbrief von Fidus abgesandt, ob er veröffentlicht wurde, ist nicht bekannt.


Heilige Burg, Zeichnung von Fidus
Einer der vielen Tempelentwürfe des Malers. Ein solcher Bau sollte den Monte Verità bekrönen,
wurde aber nur abgewandelt ausgeführt im ‚Elisarion‘ von Elisar von Kupffer in Locarno.