Gusto Gräser in Innsbruck

Aus den Tagebüchern von Karl Röck

27. August 1912:


Ein Winterabend

Im Jahre 1913 lebte Gräser in Stuttgart, hielt allsonntäglich Reden im Bopserwald bei der Schillereiche. Im November endete diese Reihe. Er reist oder wandert nach Innsbruck, um dem schwermütigen Dichter Georg Trakl beizustehen. Er will oder soll ihm helfen. Trakl sei aber, wie er uns sagte, nicht mehr zu retten gewesen.

Nun, am 13. Dezember dieses Jahres schreibt Trakl ein Gedicht, ein sehr berühmt gewordenes, das aus der Reihe seiner sonstigen, die meist von Verfall und Melancholie sprechen, deutlich herausfällt.



Ein Winterabend

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,

Lang die Abendglocke läutet,

Vielen ist der Tisch bereitet

Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft

Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.

Golden blüht der Baum der Gnaden

Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;

Schmerz versteinerte die Schwelle.

Da erglänzt in reiner Helle

Auf dem Tische Brot und Wein.



Man hat dieses Gedicht oft auf Jesus und das Abendmahl hin gedeutet. Aber die Entwürfe geben ein anderes Bild.

Von einer Wunde ist da die Rede.

„O! des Menschen nackte Not“ heißt es da.

Und: „langt … in den weißen Arm dem Tod“.

Gemeint ist natürlich: er langt in den Arm dem weißen Tod. Darin besteht dieses Menschen „nackte Not“! Dieser Wanderer ist nicht irgendeine mystische oder biblische Gestalt, dieser Wanderer ist dem Erfrieren nahe und ausgehungert. Darum langt er, in seiner nackten Not nicht mehr des Sprechens fähig, wortlos nach dem rettenden Brot und Wein.

Noch eine Variante:

O! des Menschen nackte Not …

Der mit Engeln stumm gerungen,

Langt, von heilgem Schmerz bezwungen,

Still nach Gottes Brot und Wein.

Nein, nicht still. Dieser Wanderer hat mit seinem Gastgeber geredet und zwar „mit feurigen Zungen“. So steht es in der Urfassung. „Spricht mit feurigen Zungen“.

Also: ein lebendiger Mensch. Aber der da eintritt, ist kein gewöhnlicher Besucher, auch kein Bettler, kein Vagabund oder Verirrter, er ist ein Wanderer, „der mit Engeln stumm gerungen“. Will sagen: einer, der mit Gott gerungen hat – oder - mit sich selbst. Und das bis zu einem Schmerz der Überwindung hin, der die hölzerne Schwelle zu Stein werden, zugleich aber Brot und Wein „in reiner Helle“ erglänzen lässt. Das schlichte Abendessen verklärt sich zum Abendmahl.

Dass hier die Menschlichkeit eines Menschen die Dinge aufleuchten lässt, bestätigt Trakl selbst in seinem Brief an Karl Kraus vom 13. Dezember 1913. Darin schreibt er, diese Verse seien entstanden (Zitat) „als Ausdruck der Verehrung für einen Mann, der, wie keiner der Welt ein Beispiel gibt.“

Wer an diesem Winterabend des Jahres 1913 in seine Stube getreten ist, bedarf keiner Erklärung. Sie liegt schon in den Worten, die Trakl am 27. 8. 1912 gegenüber Karl Röck geäußert hat: Aller Ehrgeiz, alle Dichterwerke seien Unzucht. Ein Wort Christi – Selig sind die Armen im Geiste – sei mehr als aller Goethe.

Wie musste ein so Denkender reagieren, wenn ihm ein Mensch mit „Christuskopf“, ein „Nazarener in orangegelbem Habit“ (Röck) entgegentrat? Eben so, wie Georg Trakl reagiert hat mit seinem Gedicht.


29. August 1915:



  1. 1. und 16. September 1915:

30. September 1915:

1. Oktober 1915:

24. November 1915:

Am 16. September 1915 im Hotel Kreid:

Am 30. September 1915 im Gasthof Sailer:

Aus dem Tagebuch von Karl Röck, dem Freund von Georg Trakl und Herausgeber seiner Werke

Hotel Kreid 1935