Zweite, erweiterte Auflage von 1919                                 Hermann Bühler: Georg Stammler


Georg Stammlers ‚Worte an eine Schar’

Eine Kampfschrift im Geiste Gusto Gräsers

Georg Stammlers ‚Worte an eine Schar’, erstmals erschienen 1914, wurden zu einer Leitschrift für seinen Freund Muck-Lamberty und damit auch für die von ihm 1919 ins Leben gerufene „Neue Schar“. Hermann Hesse hat sie besprochen. Wer in diese emphatische Schrift etwas genauer hineinhört, der überzeugt sich leicht, dass sie aus Freundschaft und Verehrung für Gusto Gräser heraus-gewachsen ist. Allerdings einer kritischen Verehrung, die sich selbständig machen will und sich in mancher Hinsicht klüger dünkt. Auch abgesehen von allen gedanklichen Gemeinsamkeiten fragt man sich angesichts von Stammlers Reden doch: Woher nimmt ein Mensch - zumal ein hinter den Ladentisch verbannter kleiner Buchhandlungsgehilfe - die Kraft und das Recht zu so starken Worten? Welches Leben steht dahinter? Denn als bloßes Phrasengeklingel und moralische Schwärmerei sollten wir seinen „Weckruf“ eben doch nicht abtun. Auch unterscheidet sich seine Sprache denn doch von dem damals weit-verbreiteten männer-ermannenden Idealismus der Wandervögel. Es gibt keinen Hinweis, dass es ihm einfach um das Wandern „aus grauer Städte Mauern“ gegangen wäre, um Frischluft und Abenteuer. Da ist mehr an Tiefe und auch eine erstaunliche Bewusstheit.

In seinen Aussagen erinnert Vieles an Aussagen von Gusto Gräser, anderes wirkt wie Kritik an ihm und Abgrenzung von ihm.

Hier einige Zitate aus dem ältesten Teil, dem „Weckruf“.

Viele Dinge sind heilig, aber das Wesen ist. 95

Wir leben in einem Götzendienst von Zwecken. 99

Wo finden wir ein Bild der Menschheit von atemloser Höhe in uns aufgerichtet, das jedem von seiner Größe gibt … ? 100

Der Geist der Mache hat sich wie ein dicker, häßlicher Nebel um uns gelagert … Der Geist der Mache: das ist es, worunter wir seufzen … 100f.

Die Anbetung des Erwerbs und der sozialen Notformen des Lebens als die letzte Weisheit allen Daseins. 102

Keine Verachtung modernen Lebens … Aber die Dinge müssen wieder schweigen lernen. 102

Der eine setzt Geld ein, der andere Arbeit, der dritte sogar Gedanken – aber kein einziger sich selber, ganz und ungeteilt. So wird das Leben mehr, aber immer nur in der Breite. 104

Wer führt uns doch aus diesem Leichenfeld hinaus? 105

Freilich, es gibt heute Führer mehr als genug … Nein, auf so zweifelhaften Stufen steigt die Geschichte nicht hinan! Die rauhe Göttin ist so frei, Opfer zu fordern für ihre Gabe … sie will Leben haben, Menschenleben. 105f.

In Fragen und Forderungen, so scheint es, stellt er hinaus, was er an einem Anderen erlebt hat. Denn er selbst, der sich mühsam als Buchhändler und Kleinstverleger durchschlägt – wo sind seine Taten? Von wem redet er, wenn er schreibt:

Nur die Tat lebt

im Schaum und Geschrei der Dinge.

Auch der Klaglose

hat gelittten;

Aber er hat seine Klage

in Metall gedreht,

in Stein gehämmert,

in Leben gereift.

Er hat sie stummm gemacht

und die Kraft reden.

Drum steht er frei

mit heller schweigender Stirn,

ein Wissender im Irrsal

und vermag zu führen.

Sein Lächeln ist rein,

wie Wasser unter Felsen,

denn er ist durch Schweres gegangen.  (64)

Eine Zeichnung von Gustos Bruder Ernst Heinrich wirkt wie eine Illustration zu den Worten von Stammler:

Der Prophet
Radierung von Ernst Heinrich Graeser, um 1912

„Drum steht er frei,
mit heller schweigender Stirn,
ein Wissender im Irrsal
und vermag zu führen.
Sein Lächeln ist rein,
wie Wasser unter Felsen,
denn er ist durch Schweres
 gegangen.“


Harte und schwere Schicksale machen zuletzt das Aufrechtstehen so groß, wie sonst das Emportürmen von Gebirgen. 62

Nur Großmäuligkeit?

Treffen aber einmal adliger Sinn und Stärke zusammen, so ist das ein Bild jener Größe, die uns in Erinnerung bleibt. 58

An wen erinnert er sich?

Ein guter Streit ist eine prächtige Sache. (59)

Die faule Friedensliebe hat gewiß hundertmal mehr Unverträglichkeit auf dem Gewissen, als der entschlossene, bis zum letzten Atemzug entschlossene Kampfmut … Tausende (stecken) lebenslang in einem verdrießlichen Sumpfe, in dem sie mit aller Welt überworfen sind  - „um des lieben Friedens willen“ (56)

Ein klares Gräserzitat: „Um des lieben Friedens willen füttern wir des Nachbars Grillen … „ sagt er in einem seiner Gedichte. Stammler zitiert ständig, meist aber indirekt, umschreibend, umformulierend.

Darum Entschlossenheit! 56

Mut! Das ists, was das Leben erhält. 49

 

                                                                                           Titelwort von Gusto Gräser

Selbstverständlich kann ein Freier tun, was er will … Selbstverständlich gilt für ihn kein Gesetz … Er ist der Mensch – alle, die es sonst gibt, wandern erst zum Menschen. 48

Gräser: Wir sind nur „Menschlinge“ und müssen erst Menschen werden.

Ganz nur dem Herzen gehorchen dürfen, ist das schönste Adelszeichen, das ich kenne. 47

Sein Leben von innen heraus gestalten. Es als heiliges Spiel leben. 71

                                      Titelwort von Gusto Gräser

Zur Persönlichkeit gehört die Treue gegen sich selber, auch die Treue der Art und des Blutes. 32

Das Bekenntnis mit dem Wort ist unbedeutend … hat lange nicht den Wert, wie das Bekenntnis … durch Wesen und Haltung. 45

Der richtige Ernst schweigt. 42

Wir können uns nicht machen. 43

Es gibt nur Eines, was es (das Leben) groß machen kann: das ist die Größe dessen, der es führt. 42

Es gibt nur Eines, was sein muß auf der Welt, und das bist Du. … Jeder muß den bitteren Weg zu sich selber gehen. 41

Wer geistig leben will, der muß die Kraft in sich haben, in die Wüste zu gehen und in härenem Gewand über Steine der Stimme seines Gottes entgegen-zulaufen. 36

Auf daß der Mensch zum Menschen … werde! 34

Den Werdenden gewidmet. 37

Wer, der die Sprache und das Denken von Gusto kennt, hörte da nicht eine ihm wohlbekannte Stimme? Jeder der zitierten Sätze und viele andere lassen sich fast wörtlich mit Aussagen Gräsers parallelisieren. Stammler setzt allerdings der bescheideneren Sprechweise des Siebenbürgers die Schaumkrone des Geistesadels auf.

                                          Titelwort von Gusto Gräser

So kommt denn! Hervor aus euren Gefängnissen! … Kommt! … Ihr seid es, nach denen die Erde sich sehnt … 15

Wer, der Gräser kennt, kennt nicht diesen Ruf? – „Kommt ins Eigentliche!“

Die heilige Schar bilden … die Geburt des neuen Menschenbildes … die Schar, die uns erlöst. 29

Wäre diese Schar … dann wäre ein Feuer in der Menschheit angezündet … einen Brand stiften … !13

„Ich kam, ein Feuer zu zünden in diesem Erdenland …“ – Gusto!

Stammler will  eine Werkschar gründen und hat das später, mit Muck-Lamberty  und Gusto Gräser zusammen,  auch getan.

Im Jahre 1911 erschien Gräsers Flugschrift ‚Ein Freund ist da – mach auf!’ Da steht zu lesen:

Auf auf! – Ein Genosse kommt, mit dir zu entbehren, mit dir auch zu genießen (3) … Komm, Gesell, einen Kampf hab ich begonnen, einen Kampf um den Menschen … Ja, Kampf muß sein, wo Menschheit werden soll (4) … „Wage“ heißt das erste Wort im Lebensbuch (5) … Herzhaft drauf los! Dann könnt ihr froh werden und damit auch fähig zur Einfachheit, der heiligen … entschließt euch, eurer eingeborenen Art zu folgen (9) … Also wohlauf! Was Ziel, was Zweck? (10) … auf Sein und nicht auf Haben gründet lebendige Bildung. Das „Bildung haben“ also überlasst nur den Habern, die alles haben: Existenz, Stellung, Geschäft, ja sogar einen Beruf wollen sie „haben“, wozu sie aber berufen sind, ein Mensch, ein Mann, ein Freund zu „sein“, das haben sie bald vergessen und verlernt über ihrer Habe. (9) … zu Dir Selber will ich dich locken  … Herzenssaft, Mark und Kraft reich ich dir zur Labe … nähr dir deinen Menschen groß! (3)

Da Stammlers Büchlein nach 1912 erschien, dürfte er die Schrift von Gräser gekannt haben, mit Sicherheit aber hat er sein mündliches Wort gekannt und so manchen seiner Verse.

Wenn wir diese Beobachtungen ernst nehmen, dann hat Gräser – auf dem Umweg über Stammler – auf doppelte Weise zur Bildung der Neuen Schar angeregt: einmal direkt durch seinen Einfluss auf Muck Lamberty, dann indirekt über dieses Büchlein, das für Mucks Schar ebenso eine Leitschrift war wie Hesses Zarathustra-Schrift.

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