„Messias des Westens“
Gusto in Berlin 1923 - 1924

 

Zurzeit hält Gustav Grässer sich in Berlin auf, wo er zum Gaudium der Kinder durch die Straßen spaziert, Predigten gegen Häußer hält, den er für einen Charlatan hält und seine phantastischen Sprüche verkauft. Die Straßenkinder in Berlin haben ihm den Namen „Kartoffelchristus“ und „M. d. W. – Messias des Westens“ gegeben.  

                   Emil Szittya in: Berliner Börsen-Courier, Jg. 55, Nr. 315 vom 8. 7. 1923, 1. Beilage, S. 5

 

Nach dem Kriege ging es mit Grässer wieder aufwärts. Er schied von seiner Kameradin. Zog als Buße für das große Vergehen der Menschheit eine Mönchskutte an. Predigte, daß nur durch rhythmischen Tanz die Menschheit genesen könne. Zuletzt sah ich ihn im Romanischen Café.

Emil Szittya: Das Kuriositäten-Kabinett. Potsdam 1924, S. 95

 

Ich bog in Berlin vom Kurfürstendamm her in die Tauentzienstraße ein, als ich Gusto Gräser traf, natürlich mit einem kleinen Schwarm spöttisch Neugieriger dahinter, denn er trug außer seiner un-großstädtischen Kleidung noch ein Netz umgehängt, in dem er viele Mohrrüben hatte. Als er mich erblickte, begrüßte er mich sehr herzlich und schenkte mir eine schöne große Mohrrübe, die ich sofort, in der Unterhaltung mit ihm, verspeiste, was natürlich den Zuschauerkreis um uns anwachsen ließ.     

        Brief von Holger Fidus an das Siebenbürgische Künstlerarchiv in Heilbronn vom 8. April 1978

 

Merkwürdig mutete es an, ihn in der Untergrundbahn zu erblicken. Hochwüchsig stand er da, mit schöngewelltem braunen Bart und langem Haupthaar, eine in den rauschenden Zug nicht passende Erscheinung. Die Damen hefteten an ihn, der sehr männlich aussah, freundliche, sogar unverhohlen brünstige Augen, wenn ihn seine Frau und seine Kinder, ebenso wüstenhaft gewandet, nicht begleiteten. Genauer gesagt: sie begleiteten ihn nie; sie liefen hinter ihm her, die kleinen Töchterchen mit Kränzchen im Haar. Wie in der Urzeit der Mann durchs Dickicht brach, die Brut ihm nachtrottete, so schritt er über den Kurfürstendamm, hinter ihm Weib und Sprößlinge.

Heinrich Zillich: Meine Erinnerung an Gusto Gräser. In Südostdeutsche Vierteljahresblätter,

 13. Jg., Folge 4, München 1964, S. 200

 

Sie fand ein Café neben dem Schauspielhaus und setzte sich an einen Tisch auf der Terrasse mit Blick auf den hübschen Platz. Um das Schiller-Standbild in seiner Mitte hatte sich eine kleine Menschenmenge angesammelt. Mitten drin, auf einigen erhöhten Stufen Verse rezitierend, stand ein großer bärtiger Mann. Er war seltsam gekleidet in eine zottige Tunika und fransige Hosen, wie eine wilde Gestalt aus einem romantischen Stück. Aber mit seinem Hirtenstab und seinen zerfurchten Gesichtszügen hatte er die Aura eines biblischen Propheten. …

Der Mann, den sie Gräser nannten, trug mit leiser aber volltönender Stimme etwas vor über Berge und klare Himmel und große aufrechte Bäume. Aber sein Dasein war es, was Anna gefangen nahm. Er war vollkommen mit sich einig in seiner seltsamen Tracht, als ob er überall zuhause wäre. Und er war schön. Es war da eine Kraft und ein Friede in seinem Gesicht, wie sie ihr noch nie begegnet waren.

Übersetzt aus: Lisa Appignanesi, Dreams of Innocence. London 1994