Kein Nachtlager beim Bruderherz
Gustos jüngerer Bruder, Ernst Heinrich Graeser (1884-1944), ein überzeugter Anhänger Rudolf Steiners, war ein angesehener Kirchen- und Landschaftsmaler geworden. Im Herbst des Jahres 1931 sucht der wohnungslose Wanderer Gusto bei ihm ein Obdach. An seine Töchter berichtet er später über seine Ankunft in Stuttgart:
... [Alfred] Daniel muss heim - fährt mich aber erst noch zu Freunden Willi Bauers, die nichts, kein Winklein für die Nacht, die nasse Nacht, aber wohl Helferwillen haben. Mit Hilfe Willis komm ich nun zu einem Schlüssel zu einem Gartenhäuschen, das weit in Botnang liegt; ich fahr und tapp mich hin durch dunkle Nacht und Matsch und Quatsch - endlich bin ich darin - ein hartgeripptes enges Feldbett und zwei ganz kümmerliche Decken warten mein - ich denk: so muss es sein - und dank, dass ich bei Bäumen bin, die mich mit Frucht frisch laben.
Da hätt' ich mich für den Anfang, bis zu Bessrem, wohl zurechtgenistet, aber ein Lieblicher schickte Nachricht: "Da oben kein weiteres Wohnen gestattet." Punkt - .
Weiter über andre Bekannte kam ich nun zu einem biedern Tischlermeister, Körner heisst er - der könnt mich nun auf seinem Werkstattboden genug gut betten, mit seiner Schwabenseel' und seinen Matrazen.
Das wär für eine Weil ja auch nit Puh und Pech gewesen, ababer aber Etwas schien mir doch zu ungereimt - ging's Euch nit auch schon durch den Sinn: "Hab doch, wennn ich nit irr, ein Bruderherz hier, nun wär's doch schön, wenn wir bei diesem Anlass, dieser kleinen Not, mal wieder so recht brudergut zusammenkämen".
Doch es wird spät, 9 Uhr des Abends wird's, bis ich Entschluss fass: "Ja - ich muss gehn, sonst wär es mein Verfehlnis". - Und denkt, wie schön zur rechten Zeit ich kam. - Der Bruder Ernst war noch im Reisemantel, 5 oder 10 Schritt vor mir trat er ein, er kam von Wien zurück, ein weiter Weg. Und seine Frau, von andrer weiter Reise, traf eben soviel Schritt etwa vor ihm im Hause ein, wie ich hörte, ohne vorherige Stundvereinbarung. (Ob vielleicht auch nit Tagvereinbarung, muss das noch klarer machen.)
War das nicht schön?
War das nicht Wink vom Leben: "Allso nun, ihr Brüder - lasst ihr's so rinnen, ruhn, oder werdet ihr nun auch Dieses, todesbang, zertun ???" —
Ein Stündchen ging im Schwung des Wiedersehns, und meinerseits auch dank des schönen Dreifalls, genügend traulich hin, doch dann musst ja vom Nächsten, Nötigsten die Rede kommen, wie schön, wenn sie von seiner, ihrer Seite kommen wär: "Wo wohnst du, Bruder? - Paar Tage wenigstens, bis wir das Weitre finden, wirst du doch nun ein Weilchen Gast uns sein!?"
Was lag näher? - Was war selbstverständlicher? - Aber nein - nach meiner Frage: "Könnt Ihr raten, taten?" kam die Pein. -
Dann musste ja der Aufbruch kommen, konnt meinen Tischlermeister, übrigens auch Ernst mit Namen, doch nit ins Bodenlose so warten lassen. Da kam ein Schrein, so halb Gewein: "Ich war doch immer der Zusammenhalter der Familie, und Du fühlst Dich jetzt abgestossen!" - "Heut nacht doch bleibst Du hier", meint sie, die Klemmy [Clementine, Frau von E. G.]. - Er - keinen Thon dazu. - Dann plötzlich, unvermittelt: "Ja - wenn man immer meint, Ich - Ich, sonst Kaner [Keiner]" - dann wieder Schluss. Das galt offenbar meiner Nichtanbetung [Rudolf] Steiners. - "Ich geb mich ganz und freu mich aller andern, die auch ihr Theil ganz zur Gemeinschaft tun. Wieso - warum jetzt das? - Ich komme wieder, wenn ich Wohnung hab - schlaft gut!" -
So ging's doch wieder auseinander - geht es immer, wo unser Herztun Hirnfrost grausam frisst.
Nun gingen Monate herum - ich schlief beim andern Ernst. Vom Werkstattboden kam ich auf den Stubenboden, dann auf ne enge Polsterbank, ich machte sie mir breiter mit paar Stühlen und war ein Monat wohl beim Biedermann.
Aus
dem Brief Gusto Gräsers
an seine Töchter vom 17. Dezember 1931.
Dazu schreibt sein Bruder an Gustos Tochter Trudel:
Am Weihnachtsabend war dein Vater bei uns. Wir tun ehrlich schwer miteinander. Hoffen möchte ich, dass zu seiner inneren Einsamkeit nicht auch eine äußere zu sehr zunimmt. Er erfordert sehr viel Kraft im Verkehr u. meiner Art mich zu bewegen - eine Kraft, die uns beiden (m. Frau) kaum zur Verfügung steht, wodurch leicht scheinbare u. wirkliche Ungerech-tigkeiten entstehen. Ich wünschte, er fände im Leben noch die Eigenschaft, die zu den Dingen u. Menschen leichter ,Ja’ sagen [kann], man soll u. darf diese suchen. Kann man sich wunder nehmen, wenn sich die Menschen so oft u. zutiefst verneint fühlen, dann die Flucht ergreifen. Möchte dies besser werden.
Ernst Heinrich Graeser an Gustos Tochter Gertrud, Ende Dezember 1931
Am Weihnachtsabend des Jahres 1931 kamen die Brüder dann doch noch zusammen. Aber offenbar nur für einen Abend und ohne Freude. Sie tun sich schwer miteinander. So schwer, dass Gusto weiterhin um ein Nachtquartier sich durchbetteln muss, weiterhin mal in einer Gartenhütte, mal auf einem Stubenboden oder Werkstattboden oder auf Stühlen liegend die kalten Nächte verbringen muss.
Endlich, es muss zu Anfang des Jahres 1932 gewesen sein, findet er Unterkunft bei einem alten Bekannten in Sillenbuch, also nicht weit von der Wohnung des Bruders entfernt. Edmund Müller ist es, der ihn aufnimmt, ein Journalist und Fotograf, den er schon seit 1929 kannte. Edmund hatte damals Aufnahmen vom Vagabundenkongress auf dem Killesberg gemacht. Bei dieser Gelegenheit müssen sie sich kennengelernt haben. Edmund machte mehrere Bilder, in denen Gusto im Mittelpunkt steht; er war sichtlich von ihm beeindruckt. Gusto seinerseits scheint sich im Winter 1932 an diesen Bekannten erinnert und bei ihm angeklopft zu haben.
Edmund Müllers Interesse am Vagabundenkongress war kein rein berufliches, kein rein kommerzielles. Er hat sich dieses Thema ausgesucht aus christlich-brüderlicher Verbundenheit mit den Armen. Der Fotograf gehörte dem Bund der Köngener an, einer jugendbewegten Gruppe, die aus einem Bibelkreis hervorgegangen war. Jesus stand für diese Menschen im Mittelpunkt ihres Denkens, und zwar besonders unter dem Gesichtspunkt des Heute, der Gegenwart. Wie hat ein Christ heute zu leben, wie müsste ein zeitnahes Christentum aussehen? Deshalb wurden, wie mir Luise Schäfer berichtete, eine Ledige, die dem Haushalt von Müller angehörte, Redner verschiedenster Richtung zu ihren Sitzungen eingeladen, von Theosophen und Anthroposophen bis zu Kommunisten. Zu diesem Sichkümmern um die Armen und Ausgestoßenen, die Randfiguren und suchenden Einzelgänger gehörte es auch, sich der Vagabunden anzunehmen, mindestens aus Interesse und Neugier, eher noch aus innerer Verbundenheit mit jenen, die wie einst Jesus ein Leben auf der Strasse führten.
So musste Edmund Müller auf Gusto Gräser treffen; so musste Gusto Gräser bei Edmund nicht nur eine widerwillig geduldete sondern eine liebevolle und ehrende Aufnahme finden. Den Fotos von Edmund ist dies abzulesen. Gusto nimmt an den Festen der Familie teil, auch seine Tochter wird eingeladen, gehört bald mit zum Haushalt. Auch andere Stuttgarter Freunde von Gusto können sich bei Edmund mit ihm treffen, so der Bankangestellte Willy Bauer, der, ein Buch lesend, auf einem der Fotos zu sehen ist. Gusto scheint im Hause von Edmund für einige Monate eine echte Heimat gefunden zu haben.
Bitter muss es für ihn gewesen sein - und letztlich auch für Ernst -, dass Fremde ihn beherbergten, Fremde ihn ehrend aufnahmen, viele Fotos von ihm machten, der örtlich benachbarte Bruder aber nicht. Gusto durfte ihn zwar gelegentlich kurz besuchen, zum Bleiben eingeladen wurde er nicht. Andere fotografierten ihn, Ernst aber nicht. Mit Ausnahme einer flüchtigen Skizze von 1942 scheint der Maler kein einziges Abbild seines großen Bruders geschaffen zu haben. Das sagt genug darüber, wie kalt die Luft zwischen den Brüdern war.
Dabei war keineswegs menschliche Abneigung im Spiel. Die Kluft war eine weltanschauliche. Hier der Dichterprophet, der die kirchlich-christliche Weltsicht als lebensfeindlich bekämpfte, der dem Diesseis sein Recht erstreiten wollte - dort der Maler, der aus christlicher und mehr noch aus anthroposophischer Überzeugung in der Weltüberwindung seine Bestimmung sah: - sie konnten auch bei gutem Willen nicht zusammenkommen. Beide litten unter diesem Zerwürfnis, beide suchten von Zeit zu Zeit die Kluft zu überwinden; letztlich aber blieben sie getrennt, getrennt durch ihre je eigene Überzeugung vom rechten Weg zum Heil.