Die letzten Bekenner der WildnisWährend sich die SS gegen den Monte Verità - und damit gegen Gusto Gräser – in Stellung bringt, treffen sich die verstreuten Einzelnen dieser Bewegung zu kurzen Begegnungen, um sich gegenseitig aufzurichten. So sucht auch Gräser nach der Auflösung der Siedlung Grünhorst nach den einstigen Mitkämpfern aus der Weimarer Zeit der Dreißigerjahre. Zu ihnen gehörte der Biologe und Schriftsteller Hugo Hertwig (1891-1959).
Hertwig war ein Schüler des Biosophen Ernst Fuhrmann gewesen. Nach Beteiligung an der Revolution von 1918 unternahm er zusammen mit Max Schulze-Sölde Siedlungsexperimente in Norddeutschland. Um 1932 war er Mitarbeiter der linksliberal und „biosophisch“ orientierten Zeitschrift ‚Gegner’. Hertwig verfasste zahlreiche Bücher über Naturheilkunde und Naturheiler. Sich und seine Freunde sah er - in seinen Worten - als Glieder einer „biologischen Bewegung“, die wir heute ökologische oder Umwelt-bewegung nennen würden. Er sieht sich als „Bekenner der Wildnis“ in hoffnungsloser Vereinzelung,, als „letzten Indianer“ – Stadtindianer – inmitten einer sterbenden Natur. Während die ihm verbundenen Mitglieder des ‚Gegner’-Kreises entweder emigrierten (Ernst Fuhrmann, Karl O. Paetel u. a.) oder als Widerständler hingerichtet wurden (Harro Schulze-Boysen), konnte Hertwig unter der Hitler-Regierung weiter seine un-politischen Naturbücher publizieren. Seine Tagebücher sind wertvoll als Zeugnisse eines stillen geistigen Widerstands im Dritten Reich.
Als Hertwig Ende Juli 1936 mit Gräser zusammentraf, hatte er ihn noch nicht persönlich kennen gelernt, aber er musste viel von ihm gehört haben, denn sein engster Freund und einstiger Siedlungsgenosse, der Maler Max Schulze-Sölde, hatte mit Gräser zusammengelebt und der ‚Gegner’-Kreis hatte in der Siedlung Grünhorst von Gräsers Tochter Gertrud einen Treffpunkt gehabt. Hertwig erlebt Gräser als Bekräftigung auf seinem Weg zu geistiger Unabhängigkeit.
Aus den Tagebüchern von Hugo Hertwig:
17. 11. 35 Je mehr die Massenbewegungen wachsen, desto mehr interessiere auch ich mich für die Einzelgänger – die letzten Wilden – Vertreter der Wildnis – oder besser: Bekenner der Wildnis. Dazu rechne ich mich – für uns müssten ebenfalls Naturschutzparks erfunden werden. Leider gibt es für uns, sobald wir bekannt werden, nur Naturschutzparks = Konzentrationslager.
19. 11. 35 Wir Einzelgänger und letzte Indianer werden angefallen. Selbst bei uns vermutet man noch Wertsachen, obwohl alles an uns und in uns ungeniessbar ist. Man verdirbt sich an uns den Magen. Noch nie habe ich so deutlich wie heute im Massenblödsinn begriffen, daß man – und gerade im Interesse aller – ganz allein gehen muss.
29. 7. 36
Ich musste stets meinen Weg gehen und warten, was zu ihm gehörte.
Heute kam auf diesem Wege z. B. der alte Gräser zu mir, Max' Freund, den ich noch nicht persönlich kannte. Er zeigte mir kleine dunkle Bilder (Natur u. Familienleben), die er gezeichnet hatte – u. stellte mit viel Liebe gemalte Buchstaben vor mir auf, deren Sinn er (malerisch) zu erfassen versucht hatte.
Gräser ist ein guter Kerl mit (wirklich) menschlichem Empfinden. Leider erregt sein Aussehen - langes Haar, Sandalen, zerrissener Anzug, er sieht wie ein alter gutmütiger u. abgelebter Indianer aus - viel Aufsehen. Alle Leute bleiben stehen.
Ich bat ihn, mir die Wirkung auf sich zu beschreiben. Er meinte, die meisten Menschen hätten vor solchen unwesentlichen Dingen Angst. Er hätte sich schon als Knabe ganz bewusst zu einem äusserlich "abnormen" Leben gezwungen, um sich hart und stark zu machen u. gewissermassen durch einen selbst ge-schaffenen Druck von aussen – Kräfte in sich wachzurufen.