Gusto Gräser (1940 - 1943)

und Alwin Seifert
 

Alwin Seifert
 
"Vorläufer eines geistigen Umbruchs"
 

"Wohl tritt die Technik jetzt in das Jahrhundert ihrer Spitzenleistungen ein - aber man muß wissen, daß jede Kulturperiode ihen Gipfelpunkt erreicht auf einem Boden, der bereits unterhöhlt ist von einem Kommenden mit entgegengesetztem Vorzeichen. ...
Wer mit offenen Augen um sich sieht und sich nicht blenden läßt vom starken Schein der Autoritäten, des Bücherwissens, der Schulmeinungen, der wirtschaftlichen Mächte, der kann auf allen Lebensgebieten das Erwachen jener Geister und Anschauungen spüren, die das Morgen bestimmen werden. Und überall sind es Kräfte, denen es um das Lebendige geht, um das ganze, volle Wesen der Dingen, nicht bloß um den meßbaren, zählbaren, wägbaren Teil. Überall keimt die Erkenntnis, daß das Mechanisieren, Rationalisieren, Technisieren, diese großen Götzen der letzten Jahrzehnte, in hemmungsloser Über-steigerung denselben Menschen mit Vernichtung bedrohen, zu dessen Wohl sie erfunden wurden. ... "

So schreibt Alwin Seifert, Landschaftsarchitekt, engagierter Naturschützer und damals „Reichslandschaftsanwalt“, in seinem Buch 'Im Zeitalter des Lebendigen', das 1941 in Dresden und München erstmals erschien1. Er fährt fort:

"Wer allerdings noch richtig im Strom des gewohnten Herkommens schwimmt, merkt von diesem geistigen Umbruch nicht viel. Er hört ab und zu, daß einige früher harmlose Außenseiter und Phantasten anfangen unbequem zu werden, weil sie mit einemmal in auffällig weiten Kreisen Gehör finden. Er übersieht dabei völlig, daß nicht der einzelne Träger eines neuen Gedankens ein lästiger Neuerer ist, sondern der Gedanke selbst, dessen Zeit eben gekommen ist und der seine Verkünder zu finden weiß."2

Wer sind diese früher (!) harmlosen Phantasten und Außenseiter, die Verkünder eines neuen Gedankens, die jetzt anfangen, unbequem zu werden? Er denkt wohl an sich selber, denn Seifert war ein Vorkämpfer für ökologisches Denken auch im Dritten Reich, aber er nennt mit Namen - in vorsichtiger Weise auf entwicklungs-geschichtliche Notwendigkeiten verweisend – einen auffälligeren Vertreter, besser: eine Symbolgestalt des von ihm behaupteten geistigen Umbruchs:

"Um ein Beispiel zu gebrauchen: Nicht Gustav Gräser, der mit langen Haaren in Sandalen durch die Ludwigstraße in München schritt, in einem Netz buntes Gemüse über der Schulter tragend, hat den Umbruch in unserer Ernährung heraufgeführt. Er war ein höchst unfreiwilliger und wenig zu beneidender Vorläufer eines Gedankens, der seine Herrschaft mit entwicklungsgeschichtlicher Notwendigkeit antritt. ...
Dieser Weg wird aber gegangen werden, einfach weil es der Weg der natürlichen Entwicklung ist. Und wenn man schon versäumt hat, ihn rechtzeitig zu entdecken, so soll man wenigstens gute Miene dazu machen und fröhlich das tun, was gezwungen zu tun recht bitter ist. Leben kommt nur von Lebendigem. Je mehr Leben um und an unserem Werk sein darf, um so mehr Leben strahlt von ihm aus."3

Seifert war ein Mahner zur "Ehrfurcht vor dem Lebendigen" (S.7), zur Erhaltung der Landschaft und der natürlichen Ressourcen, ja, er predigte, sinngemäß wie Gräser, den "Umbruch von der Technik zur Natur, von der Zahl zum Ganzen, vom Ich zum Wir" (S.13. Gräser hat diese Zitate in seinem Exemplar rot angestrichen, deshalb die hier von mir eingefügten Unterstreichungen; HM). "Erkennen der Natur als der alleinigen gütigen alma mater ... Verzicht auf den selbstmörderischen Versuch, sie ... zu vergewaltigen" (S. 24) ist ein anderer von vielen Sätzen, die Gräser unterstreicht. Ebenso: "Es gibt keinen Herren über die Natur" (S.70). Dass Seifert sich mit dem wenig beneidenswerten Vorläufer unterhalten hat, muss vermutet werden. Sätze wie "Jetzt geht es darum, daß Hirn und Herz gemeinsam schaffen" (S.10) könnten sehr wohl von Gräser inspiriert sein. Denn eben dies fordert der Siebenbürger mit fast schon gebetsmühlenartiger Dringlichkeit:

„Zur Hochzeit von Hirn und Herze - Hier Hirn-Herz-paarend der Freund – (der) Hirn und Herzen bis tief ins Letzt gesellt, also ins Letzt erhellt – Hirn-Herz-Hochzeitglut entbrennend - Hirn-Herzens Hochzeitfeier – Hirn-Herzens Hochzeitmahl - (Denn:) Liegen Herz und Hirn im Streit, gibt’s kein heiter Werden! – Will, dass sich Hirn und Herz zusammentrauen und ihrem Bund entwachs ein Welterbauen.“ Undsofort.

Es kann wohl kaum eine Frage sein, dass Seifert unter dem Einfluss von Gräser stand, seine Sprüche gelesen hatte. Er muss ihn spätestens 1926 – damals war Gräser zuletzt in München - als Symbolgestalt der damals noch namenlosen ökologischen Bewegung erkannt haben.

Wir befinden uns im Kriegsjahr 1942. Hitler steht auf der Höhe seiner Macht, deutsche Truppen haben Europa vom Atlantik bis zur Wolga besetzt. Seifert war innerhalb der damaligen Reichsregierung alles andere als unumstritten, hatte harte Kämpfe gegen die Übermacht der Technokraten durchzufechten. Mit wenig Erfolg. Durch Runderlasse vom 1. 4. 1943 und vom 13. 9. 1944 wurde die Naturschutzarbeit völlig eingestellt.4

Für Gräser war schon 1940 der Boden in Berlin zu heiß geworden. Nach Schreibverbot und mehreren Verhaftungen hatte er sich zu Freunden nach Halle und Leipzig abgesetzt.

Anfang Juli 1942 hat er bei einem Landpfarrer in der Mark Brandenburg Unterschlupf gefunden. Er schreibt aus Göttlin bei Rathenow an seine Tochter Trudel und ihren Mann in Berlin:

Mein "heiter gerundetes" Trudel und "grundsätzlich" lieber Henri –

Ich sitze hier bei Walther Krause, einem jungen evangelischen Pfarrer, den ich vor etwa 1 1/2 Jahr in Halle kennenlernte, indem er mich ansprach, der mir immer wieder schrieb, und nun, da er hierher in diesen ländlichen Pfarrort mit altem grünem Pfarrhof berufen wurde, mir sogar wiederholt Reisegeld schickte, um mich ja zum Kommen zu bewegen.


Er wartet schon seit dem Frühjahr, da musst ich ja und konnt ja auch gerne kommen. Er und seine Frau wünschen (eben vorhin brachte Er mir einen dicken Pack Briefpapier), dass ich werweisswielang in ihrem gastlichen Haus verweilen soll, aber aber, ich darf mich, wo ich mein Werk nicht weiter weben, heben und zuwege bringen kann, von noch so holder Freundlichkeit nicht zu sehr umgarnen lassen. -


So kann mein Aufenthalt hier (kam vorgestern an) höchstens paar Wochen dauren. Dann muss, wenn ich, obgleich ich auch nicht viel davon erwart, freilich Berlin durchfragt und durchfahren sein, wohl ein, zwei Wochen lang. - Von München, wo auch der "Reichslandschafts-Anwalt Alwin Seifert", der das Buch: "Zeitalter des Lebendigen" schrieb, wohnt, erwart ich mehr.


Nun weiss ich nur noch nicht recht, wo ich in Berlin wohnen kann, denn das Herumkugeln in Herbergen darf nicht wieder beginnen.

Beweggrund zu meiner, auch brieflichen Zurückhaltung ist, dass ich mein Leben freilich nicht mehr wie ein Jüngling herumwerfen und verschwenden darf. Jaja, der belebenden Gegenseitigkeit, der warmen, dem herzhaften Menschsein, dem muss ich nun entschiedener zugewandt sein und entgegengehen.5 Jawohl jawohl, ich muss zum Leben gangen, wo froh ich's geben kann, froh zu empfangen. -

Mit meiner nun wohl genug reichreifen, genug durchsaftet, durchkrafteten Früchtefracht schwehr behangen, baumel ich nun in das (durstige) Land, den Sattmatten ungeniessbar und Narr, den Durstgen Erquickung und Nahrung. Eben guckt Frau Sonne goldig zu meinem Dachkammerfenster herein und lockt mich mächtig hinaus, denn die paar letzten Tage war sie gar grausam kalt verborgen. O weh, schon schiebt sich wieder so eine Trübsalwolke dazwischen. Ha, anpacken, dreinschlagen, durchschlagen! Holzhauf und Axt locken auch
6, draus schlagen wir doch und dennoch belebendes Warm uns heraus!

Herzschlag drein!

Lasst uns mit Leben alles Elend töten! -
Lebt, meine Lieben - Ich warte -
Vater

Er hätte einen sicheren und ruhigen Rastplatz gehabt, liebevoll umsorgt und verehrt von seinen Gastgebern. Aber es hält ihn nicht in dieser Idylle. Er rechnet am dritten Tag noch mit ein paar Wochen Aufenthalt. In Wirklichkeit blieb er höchstens zehn Tage. Was treibt ihn fort? Er kann nicht bleiben, wo er nicht die Mittel für seine Arbeit findet, und dazu gehörten offenbar die Bücher der öffentlichen Bibliotheken, aber auch das Suchen nach möglichen Verlegern oder Druckern. Außerdem brauchte er das Gespräch mit Unbekannten in Cafés und auf den Straßen. Und schließlich hatte er ein Buch entdeckt, das ihn faszinierte. Im Schaufenster einer Buchhandlung in Leipzig hatte er es liegen sehen. Sein Titel: 'Im Zeitalter des Lebendigen'. Das war seine eigene Sprache, er selbst wollte ja einen Bund der Lebendigen schaffen, dieses Buch musste er haben.


Er betritt die Buchhandlung, kauft das Buch und findet beim Blättern auf Seite 73 sich erwähnt als „Verkünder“ und "unfreiwilligen Vorläufer" eines neuen Gedankens, eines geistigen Umbruchs. "Unfreiwillig"!? Er war diesen Weg freiwillig und in vollem Bewusstsein gegangen! Aber wie auch immer – hier war endlich endlich einmal eine öffentliche Anerkennung! In diesem Mann hoffte er einen Verbündeten zu finden, einen, der ihn verstehen würde, mit diesem Mann musste er sprechen!

Zuvor aber, quasi auf dem Weg zu Seifert, der bei München wohnte, musste er noch einen anderen Schriftsteller aufsuchen, der einen ähnlichen Weg wie Seifert ging und verkündete: nämlich den von der Zahl zur Gestalt, von der Abstraktion zur Sinnlichkeit. Der Architekt und Umweltpädagoge Hugo Kükelhaus hatte 1930 das Buch 'Urzahl und Gebärde' veröffentlicht. Kükelhaus forderte eine "Anthropotechnik"7, die vom menschlichen Organismus ausgeht. Seine aufs Organische und Sinnenhafte zielende Denkweise war der von Gräser zweifellos verwandt. Nach dem Krieg wurde er durch seine "Erfahrungsfelder zur Entfaltung der Sinne" bekannt. Sie fanden auf der EXPO 1967 in Montreal große Beachtung und wurden seither an vielen Orten eingerichtet.

Gräser fährt nach Berlin, muss diesmal nicht in Obdachlosenasylen und Landstreicher-herbergen "herumkugeln". Er kann in der Wohnung seiner Tochter unterkommen, die mit ihrer Familie einen Urlaub an der Ostsee verbringt. Ende Juli schreibt er aus Berlin-Tempelhof, inzwischen um eine Enttäuschung reicher, an seine Tochter in Fischerkaten an der Ostsee:

Mittwoch Vormittag, Ende Juli [1942]
Kinder -

Nun hält mich nichts mehr hier. - In einem Brief zeigte mir Kückelhaus, dass ich mich geirrt, in meinem Vertrauen zu ihm geirrt hab - wir haben wohl doch nichts miteinander zu schaffen - Punkt.

Nun muss ich "unverbesserlicher" Trauhans mit Alwin Seifert ins Reine kommen, und wenn ich dabei auch nur wieder eine Täuschung los werd, kann's aber wirklich gar nicht glauben, dass ich auch hier "enttäuscht" werden soll.

In das kleine Räumchen kam ich nur, weil ich meine Schuh flicken, meine Tasche stopfen und mir das notwendige Zeug hervorkratzen und aussieben musst. Ja ja, Werkzeugkiste und Nähkasten sind in jedem Haushalt doch etwas wie Ordnungskeim und Mitte, in den Beiden wohnt die "Familie Nah", die alles "näht" - den Unfug wieder fügt und alles Verwirrte wieder schön genau in nette Reih uns bringt.

Eben bringt der Postbote für uns alle Geld, Euch von Sendel und mir, denkt mal, von Onkel Ernst gesendet, meinem Brüderlein, Reisegeld nach Stuttgart - allso geht's zuerst nach Stuttgart Sillenbuch, Silberwaldstr.13.

Will nur noch den "Widukind" Verlag in Lichterfelde anschaun. - Und eine alte Zahnarztschuld bezahlen.

Allso - - - der Briefbeschwerer8 da, mein ich, will Euch wiedermal in den Tiergarten helfen.

Wenn ich Erfreulichs erfahr oder wieder irgendwo bleib, sollt Ihr's auch erfahren. Lebt tüchtig wohl, ihr Kleinen und Grohsen, das Flüchtig ist hohl, elend hohl!

        Vater     

Er ist von Kükelhaus enttäuscht, hofft jetzt auf Seifert. Über diesen Landschafts-architekten, dem die naturnahe Gestaltung der deutschen Autobahnen zu verdanken ist, schreibt die amerikanische Historikerin Anna Bramwell in ihrem Buch 'Ecology in the 20th Century':

Alwin Seifert, a member of the Todt Organisation, was a motorway architect who specialised in 'embedding motorways organically into the landscape'. He took the then unfashionable ecological position that monoculture damaged disease resistance among plants and animals, as well as diminishing land fertility. The interests of man, even German man, did not come first for him. He also argued against land reclamation and drainage, claiming that Germany's water table depended on her wild countryside. His arguments were sufficiently persuasive to make Hitler order that such programmes of moorland drainage should cease. This caused considerable trouble among the Ministry of Agriculture leaders ...


Seifert was a follower of Steiner, and bombarded Walther Darré with Anthroposophical papers and long letters about the need to retain wild plants to form a bank of plant genes and resistance potential. He sent Darré unpublished papers by Steiner, including one on magnetism and its effects on agriculture. One paper by Seifert himself argued that 'classical scientific farming' was a nineteenth-century phenomenon, unsuited to the 'new' era; that imported fertilisers, fodder and insecticides were not only poisonous, but laid an extra burden on agriculture through transport and import costs. It was dangerous to depend on these products in wartime. He called for an agricultural revolution towards 'a more peasant-like, natural, simple' method of farming, 'independent of capital'. Again, typically for the biodynamic reformers, he emphasised the need for a total rethinking of agricultural methods, rather than a simple reversion to the primitive. 'A mere re-building of the old peasant methods cannot help, because the internal connectedness of the old days has gone. The ground that was healthy is now sick in many ways.'9

Alwin Seifert gehörte wie die Biologen Raoul Francé, Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig und der Pädagoge und Künstler Hugo Kükelhaus zu den wenigen Vordenkern einer sogenannten "biologischen Bewegung" der Zwanziger- und Dreißigerjahre, die wir heute als ökologische oder Umweltbewegung bezeichnen würden. Gräser hat mit jedem von ihnen Kontakt aufgenommen, sei es, um Bundesgenossen in ihnen zu finden, sei es, um von ihnen zu lernen. Von ihnen hoffte er, eine wissenschaftliche Unterstützung für sein eigenes dichterisch-prophetisches Tun und Denken zu erhalten.

In der Wohnung seiner Tochter in Berlin-Tempelhof hat Gräser seine Schuhe geflickt und seine Wandertasche ausgebessert. Jetzt will er nach Stuttgart weiterziehen, als Zwischenstation vor München. In Stuttgart lebt sein jüngerer Bruder Ernst als Kunstmaler, der ihm, wohl auf seine Anforderung hin, das nötige Reisegeld geschickt hat. Bruder Ernst wird ihm auch in München die Wege ebnen. Zwei Tage später, am 31. Juli 1942 (Poststempel) schreibt Gräser noch einmal an seine Tochter:

Freitag [Ende Juli 1942] 

Eben kam die zweite Kart von Fischerkaten. Ein paar Zeilen liegen schon bereit und sollen hier auf Euch warten, nun fliegen nur diese nach Norden, und ich fahr morgen südwärts zu Ernst.

Brod wär wohl zu trocken geworden, drum liegt ein "Tausender"10 dafür auf dem Schreibtisch.

Ein schwarzer Kamm, dem 8 Zinken fehlen, ist, da mein grüner zerbrach, zu mir gekommen. Ihr könnt ihn wohl entbehren.

Nun fahr ich mit dem grösseren Handkorb zum Anhalter Bahnhof.

Gekehrt hab ich absichtlich nicht, da Du, mein Trudel, das doch gründlicher machen willst11. An Post kamen nur 5 Mark an Henri, die da warten.
Ahtmet, ahtmet Luftlust und liebt und lebet!

        Vater 

Am 2. August flattert ein Telegramm von Bruder Ernst nach Berlin-Tempelhof, Kaiser-Wilhelm-Straße 3 A. Vermutlich mit der Meldung, Gusto könne in München bei dem Bildhauer Schwegerle unterkommen.

Dieser Hans Schwegerle (1882-1950), Bildhauer und Professor, scheint ein Studien-kamerad von Ernst Gräser gewesen zu sein. Bei ihm kommt Gusto in einer Dachkammer unter. Gräser hat es, wie bei ihm üblich, mit der polizeilichen Anmeldung nicht besonders eilig. Erst am 7. Januar 1943 gibt er, sicher auf Druck hin, dann doch zu Protokoll, er sei in der "2. Hälfte [des Jahres 1942] zugezogen in Freimann bei München, Leinthalerstr. 8" im zweiten Stock.

Schon am 16. August macht er eine längere Wanderung, um eine alte Bekannte aufzusuchen. In Dorfen bei Wolfratshausen notiert Lorenz Stiefel, ein sechzehn-jähriger Enkel seines einstigen Meisters Karl Wilhelm Diefenbach, in sein Tagebuch:

"Als wir alle eifrig bei der Gartenarbeit waren, kam mit einem Male von der Landstraße ein Mann daher, der aussah wie K.W.Diefenbach, nur etwas abenteuerlicher. Er hatte lange Haare und einen Vollbart, trug ein grünes Wollhemd mit einem Poncho aus braunem Sammet darüber, gelbgrüne Kniehosen, zu denen er den Schnitt wahrscheinlich selbst entworfen hatte; die Füße waren mit Sandalen bekleidet, am Gürtel trug er ein gesticktes Brillenetui und in der Linken mit künstlerischer Würde die Zeichenmappe. Großmutter [das ist Stella von Spaun, die Tochter Diefenbachs] erkannte in ihm einen Kollegen ihres Vaters, Gustav Kreser. Nach dem Mittagessen half er uns beim Erbsenauspukeln."12

In Dorfen wohnt Stella von Spaun, die Tochter Diefenbachs. Als dessen Schüler hatte Gräser 1898 auf dem Himmelhof bei Wien die damals Sechzehnjährige kennengelernt. In seinem Aufbegehren gegen den Meister hatte er ihr, nach eben diesem Dorfen, einen vertrauensvollen Brief geschrieben, in dem er seinen Traum von dem lachenden Riesen erzählte und sein Weggehen von Diefenbach ankündigte. Seit jener Zeit hatten sie sich wohl nicht mehr gesehen. Jetzt hilft er ihr beim Erbsenauspulen und öffnet dann seine Zeichenmappe, zeigt ihr seine Steindrucke aus der Reihe 'Zeichen des Kommenden'. Blätter mit Titeln wie 'Burg der Armut', 'Sterne', 'Mütterlichkeit' und 'Thorheiterkeit'.

Einige Wochen nach diesem Besuch, am 8. September 1942, schreibt Stella von Spaun an Gräser:

Lieber Gräser!

Ihre "Burg der Armut" geht mir nicht aus dem Sinn u. ich möchte mir sie für "Mütterlichkeit" umtauschen. Wenn es Ihnen möglich ist, bitte, mir diesen Wunsch zu erfüllen.

Hoffentlich geht es vorwärts auf Ihrem Wege!

Mit freundlichsten Wünschen und Grüssen!

Stella Diefenbach-Spaun.

Gräsers Wohnungsgeber, der Bildhauer Schwegerle, hatte sein Dienstmädchen geheiratet, eine Frau, die den unstandesgemäßen Gast hasste und mit allen möglichen Schikanen aus dem Hause zu treiben suchte. In seiner Not wendet sich Gräser am 15. Januar deshalb an Stella von Spaun:


Werte Frau Stella - 15 - 1 - 43 

Muss notgedrungen fragen ob bei Euch ein Wohnraum mietbar wär. Aus Freimann muss ich fort, längst fort. Ists bei Euch auch entlegen, ist doch auf allen Wegen Wald der Trost.
Wenn Dort nicht möglich, bitte einen Wink zu einem Winkel.

Wohlauf! Arthur Gräser

Am 20. Januar antwortet Stella von Spaun: Dorfen 20. I. 43.

Lieber Gräser!

Es ist mir aus innerlichen wie äusserlichen Gründen ganz unmöglich, Sie aufzunehmen.

Mein Häusl ist zum Bersten voll; es muß mir durch Miet-Ertrag den Unterhalt gewähren u. soll ausserdem fünf Kindern u. 9 Enkeln bleibend od. vorübergehend Heimat sein. Mehr kann man von solch einem Schneckenhaus wahrlich nicht verlangen! In dem Zimmer, das Sie bewohnten, mußte ich die Schreinerwerkstätte meines Sohnes einrichten mit Hobelbank u.s.w. - weil keiner der anderen Räume, die er sonst über Winter dazu benützt hat, frei zu machen war. Es ist die reinste Arche Noah! -

Ab 1. April ist auch dieses Zimer vermietet an eine junge leidende Mutter mit Neugeborenem, die sich bei mir in Pflege geben will, dann zieht mein Sohn über Sommer wieder in seine Blockhütte. Es ist also kein Plätzchen frei! Ich weiß auch sonst nichts für Sie. Eine Art "Gesinnungsgenossin", von der ich Ihnen einmal sprach, besitzt wohl einen großen Wiesengrund in der Lüneburger Heide - vollkommen einsam, aber kein Haus, nur eine ... [Schluß fehlt!]

Gräser musste weiterhin in der Leinthalerstraße ausharren. Sein geliebter Arbeitsplatz in der Staatsbibliothek ging am 10. März 1943, beim ersten großen Luftangriff auf München, in Flammen auf.

Ob Gräser in München sein ursprüngliches Ziel erreicht hat, ob er Alwin Seifert hat sprechen können, ob er wiederum eine Enttäuschung erlebte – wir wissen es nicht. Seifert, dieser "militanteste Naturschützer" (Joachim Radkau), lehrte nach dem Krieg als Professor an der TH München, wurde als Gründervater des "Öko-Gartens" ein gewichtiger Wortführer in Sachen Umweltschutz. Mit Gräser, der unmittelbar hinter der TH im Café Klein-Bukarest seinen Stammplatz hatte, hätte er leicht ins Gespräch kommen können. In seinem Buch hatte er geschrieben: "Nur das erfreut das Herz, was klar und eindeutig sich zum Geist bekennt" (S. 172, verkürzt und rot unterstrichen von Gräser). Der Geistbekenner im Café Klein-Bukarest hätte sein Herz erfreuen, seinen Mut befeuern können.

Der hatte im Schicksalsjahr 1942 ins Dorfener Gästebuch geschrieben:


Bau nur hinein in den Wust dein Gebilde,
bau nur heiter still hinein
deinen Stern –
Alles Andre lass gehen, lass sein!
Bau -
Der Wirkliche muss ein Blühen erwirken.
Bau nur hinein!
Arthur Gräser


Fussnoten:

1 Alwin Seifert: Im Zeitalter des Lebendigen. Planegg vor München: Müllersche Verlagshandlung, 3. Auflage 1943, S. 72.

2 Ebd., S. 73.

3 Ebd., S. 73.

4 Vgl. Rolf Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck, 1984, S. 218.

5 Aus dieser Passage kann man schließen, dass ihm seine Tochter Vorhaltungen wegen seiner "Zurückhaltung", die als Fernbleiben und Schweigen gelesen werden muss, gemacht hatte. Durch diese Distanzierung – möglicherweise wegen (politischer?) Differenzen mit dem Schwiegersohn – ist es wohl zu erklären, dass sich für die Zeit zwischen 1931 und 1942 kein einziger Brief von Gräser an seine Tochter erhalten hat. Solange er in ihrer räumlichen Nähe war – bis 1940 - , gab es zum Briefeschreiben wenig Anlass, danach trat offenbar eine längere Schweigepause ein. Wie denn Gräser überhaupt nur ungern Briefe schrieb, das Mündliche und das Aug in Aug allemal vorzog.

6 Während Küchen- und Putzarbeiten ihm sichtlich zuwider waren, betätigte er sich gern beim Holzspalten. Auch Hermann Hesse schildert den Holz spaltenden Gräser-Demian in seinem 'Demian'-Roman.

7 Hugo Kükelhaus: Organismus und Technik. Gegen die Zerstörung der menschlichen Wahrnehmung. Frankfurt/M. 1979, S. 91.

8 Offenbar ein größeres Geldstück für die Enkelkinder.

9 Anna Bramwell: Ecology in the 20th Century. A History. New Haven and London: Yale University Press, 1989, S. 197f.

10 Eine Brotkarte für 1000 Gramm als Ersatz für das Brot, das er inzwischen verzehrt hat.

11 Die Tochter erinnerte sich noch im Alter, dass auch die Kochtöpfe angebrannt und ungereinigt gewesen seien.

12 Stiftung Spaunarchiv, Dorfen.