Gusto
Gräser (1940 - 1943)
und Alwin Seifert
Alwin Seifert
"Vorläufer
eines geistigen Umbruchs"
"Wohl tritt die Technik
jetzt in das Jahrhundert ihrer Spitzenleistungen ein - aber man muß
wissen, daß jede Kulturperiode ihen Gipfelpunkt erreicht auf
einem Boden, der bereits unterhöhlt ist von einem Kommenden mit
entgegengesetztem Vorzeichen. ...
Wer
mit offenen Augen um sich sieht und sich nicht blenden läßt
vom starken Schein der Autoritäten, des Bücherwissens, der
Schulmeinungen, der wirtschaftlichen Mächte, der kann auf allen
Lebensgebieten das Erwachen jener Geister und Anschauungen spüren,
die das Morgen bestimmen werden. Und überall sind es Kräfte,
denen es um das Lebendige geht, um das ganze, volle Wesen der Dingen,
nicht bloß um den meßbaren, zählbaren, wägbaren
Teil. Überall keimt die Erkenntnis, daß das Mechanisieren,
Rationalisieren, Technisieren, diese großen Götzen der
letzten Jahrzehnte, in hemmungsloser Über-steigerung denselben
Menschen mit Vernichtung bedrohen, zu dessen Wohl sie erfunden
wurden. ... "
So
schreibt Alwin Seifert, Landschaftsarchitekt, engagierter
Naturschützer und damals „Reichslandschaftsanwalt“,
in seinem Buch 'Im
Zeitalter des Lebendigen',
das 1941 in Dresden und München erstmals erschien.
Er fährt fort:
"Wer
allerdings noch richtig im Strom des gewohnten Herkommens schwimmt,
merkt von diesem geistigen Umbruch nicht viel. Er hört ab und
zu, daß einige früher harmlose Außenseiter und
Phantasten anfangen unbequem zu werden, weil sie mit einemmal in
auffällig weiten Kreisen Gehör finden. Er übersieht
dabei völlig, daß nicht der einzelne Träger eines
neuen Gedankens ein lästiger Neuerer ist, sondern der Gedanke
selbst, dessen Zeit eben gekommen ist und der seine Verkünder zu
finden weiß."
Wer sind diese früher (!)
harmlosen Phantasten und Außenseiter, die Verkünder eines
neuen Gedankens, die jetzt anfangen, unbequem zu werden? Er denkt
wohl an sich selber, denn Seifert war ein Vorkämpfer für
ökologisches Denken auch im Dritten Reich, aber er nennt mit
Namen - in vorsichtiger Weise auf entwicklungs-geschichtliche
Notwendigkeiten verweisend – einen auffälligeren
Vertreter, besser: eine Symbolgestalt des von ihm behaupteten
geistigen Umbruchs:
"Um
ein Beispiel zu gebrauchen: Nicht Gustav Gräser, der mit langen
Haaren in Sandalen durch die Ludwigstraße in München
schritt, in einem Netz buntes Gemüse über der Schulter
tragend, hat den Umbruch in unserer Ernährung heraufgeführt.
Er war ein höchst unfreiwilliger und wenig zu beneidender
Vorläufer eines Gedankens, der seine Herrschaft mit
entwicklungsgeschichtlicher Notwendigkeit antritt. ...
Dieser
Weg wird aber gegangen werden, einfach weil es der Weg der
natürlichen Entwicklung ist. Und wenn man schon versäumt
hat, ihn rechtzeitig zu entdecken, so soll man wenigstens gute Miene
dazu machen und fröhlich das tun, was gezwungen zu tun recht
bitter ist. Leben kommt nur von Lebendigem. Je mehr Leben um und an
unserem Werk sein darf, um so mehr Leben strahlt von ihm aus."
Seifert
war ein Mahner zur "Ehrfurcht
vor dem Lebendigen"
(S.7), zur Erhaltung der Landschaft und der natürlichen
Ressourcen, ja, er predigte, sinngemäß wie Gräser,
den "Umbruch
von der Technik zur Natur, von der Zahl zum Ganzen,
vom
Ich zum Wir"
(S.13. Gräser hat diese Zitate in seinem Exemplar rot
angestrichen, deshalb die hier von mir eingefügten
Unterstreichungen; HM). "Erkennen
der Natur als der alleinigen gütigen alma mater ... Verzicht auf
den selbstmörderischen Versuch, sie ... zu
vergewaltigen"
(S. 24) ist ein anderer von vielen Sätzen, die Gräser
unterstreicht. Ebenso: "Es
gibt keinen Herren über die Natur"
(S.70). Dass Seifert sich mit dem wenig beneidenswerten Vorläufer
unterhalten hat, muss vermutet werden. Sätze wie "Jetzt
geht es darum, daß Hirn und Herz gemeinsam schaffen"
(S.10) könnten sehr wohl von Gräser inspiriert sein. Denn
eben dies fordert der Siebenbürger mit fast schon
gebetsmühlenartiger Dringlichkeit:
„Zur
Hochzeit von Hirn und Herze - Hier Hirn-Herz-paarend der Freund –
(der) Hirn und Herzen bis tief ins Letzt gesellt, also ins Letzt
erhellt – Hirn-Herz-Hochzeitglut entbrennend - Hirn-Herzens
Hochzeitfeier – Hirn-Herzens Hochzeitmahl - (Denn:) Liegen Herz
und Hirn im Streit, gibt’s kein heiter Werden! – Will,
dass sich Hirn und Herz zusammentrauen und ihrem Bund entwachs ein
Welterbauen.“ Undsofort.
Es
kann wohl kaum eine Frage sein, dass Seifert unter dem Einfluss von
Gräser stand, seine Sprüche gelesen hatte. Er muss ihn
spätestens 1926 – damals war Gräser zuletzt in
München - als Symbolgestalt der damals noch namenlosen
ökologischen Bewegung erkannt haben.
Wir befinden uns im Kriegsjahr 1942.
Hitler steht auf der Höhe seiner Macht, deutsche Truppen haben
Europa vom Atlantik bis zur Wolga besetzt. Seifert war innerhalb der
damaligen Reichsregierung alles andere als unumstritten, hatte harte
Kämpfe gegen die Übermacht der Technokraten durchzufechten.
Mit wenig Erfolg. Durch Runderlasse vom 1. 4. 1943 und vom 13. 9.
1944 wurde die Naturschutzarbeit völlig eingestellt.
Für Gräser war schon 1940
der Boden in Berlin zu heiß geworden. Nach Schreibverbot und
mehreren Verhaftungen hatte er sich zu Freunden nach Halle und
Leipzig abgesetzt.
Anfang
Juli 1942 hat er
bei einem Landpfarrer in der Mark Brandenburg Unterschlupf gefunden.
Er schreibt aus Göttlin bei Rathenow an seine Tochter Trudel und
ihren Mann in Berlin:
Mein
"heiter gerundetes" Trudel und "grundsätzlich"
lieber Henri –
Ich
sitze hier bei Walther Krause, einem jungen evangelischen Pfarrer,
den ich vor etwa 1 1/2 Jahr in Halle kennenlernte, indem er mich
ansprach, der mir immer wieder schrieb, und nun, da er hierher in
diesen ländlichen Pfarrort mit altem grünem Pfarrhof
berufen wurde, mir sogar wiederholt Reisegeld schickte, um mich ja
zum Kommen zu bewegen.
Er
wartet schon seit dem Frühjahr, da musst ich ja und konnt ja
auch gerne kommen. Er und seine Frau wünschen (eben vorhin
brachte Er mir einen dicken Pack Briefpapier), dass ich
werweisswielang in ihrem gastlichen Haus verweilen soll, aber aber,
ich darf mich, wo ich mein Werk nicht weiter weben, heben und zuwege
bringen kann, von noch so holder Freundlichkeit nicht zu sehr
umgarnen lassen. -
So kann mein Aufenthalt
hier (kam vorgestern an) höchstens paar Wochen dauren. Dann
muss, wenn ich, obgleich ich auch nicht viel davon erwart, freilich
Berlin durchfragt und durchfahren sein, wohl ein, zwei Wochen lang. -
Von München, wo auch der
"Reichslandschafts-Anwalt Alwin Seifert", der das Buch:
"Zeitalter des Lebendigen" schrieb, wohnt, erwart ich mehr.
Nun weiss ich nur noch nicht
recht, wo ich in Berlin wohnen kann, denn das Herumkugeln in
Herbergen darf nicht wieder beginnen.
Beweggrund zu meiner,
auch brieflichen Zurückhaltung ist, dass ich mein Leben freilich
nicht mehr wie ein Jüngling herumwerfen und verschwenden darf.
Jaja, der belebenden Gegenseitigkeit, der warmen, dem herzhaften
Menschsein, dem muss ich nun entschiedener zugewandt sein und
entgegengehen.
Jawohl jawohl, ich muss zum Leben gangen, wo froh ich's geben kann,
froh zu empfangen. -
Mit
meiner nun wohl genug reichreifen, genug durchsaftet, durchkrafteten
Früchtefracht schwehr behangen, baumel ich nun in das (durstige)
Land, den Sattmatten ungeniessbar und Narr, den Durstgen Erquickung
und Nahrung. Eben guckt Frau Sonne goldig zu meinem Dachkammerfenster
herein und lockt mich mächtig hinaus, denn die paar letzten Tage
war sie gar grausam kalt verborgen. O weh, schon schiebt sich wieder
so eine Trübsalwolke dazwischen. Ha, anpacken, dreinschlagen,
durchschlagen! Holzhauf und Axt locken auch,
draus schlagen wir doch und dennoch belebendes Warm uns heraus!
Herzschlag drein!
Lasst uns mit Leben alles
Elend töten! -
Lebt, meine Lieben - Ich warte -
Vater
Er
hätte einen sicheren und ruhigen Rastplatz gehabt, liebevoll
umsorgt und verehrt von seinen Gastgebern. Aber es hält ihn
nicht in dieser Idylle. Er rechnet am dritten Tag noch mit ein paar
Wochen Aufenthalt. In Wirklichkeit blieb er höchstens zehn Tage.
Was treibt ihn fort? Er kann nicht bleiben, wo er nicht die Mittel
für seine Arbeit findet, und dazu gehörten offenbar die
Bücher der öffentlichen Bibliotheken, aber auch das Suchen
nach möglichen Verlegern oder Druckern. Außerdem brauchte
er das Gespräch mit Unbekannten in Cafés und auf den
Straßen. Und schließlich hatte er ein Buch entdeckt, das
ihn faszinierte. Im Schaufenster einer Buchhandlung in Leipzig hatte
er es liegen sehen. Sein Titel: 'Im
Zeitalter des Lebendigen'.
Das war seine eigene Sprache, er selbst wollte ja einen Bund
der Lebendigen
schaffen, dieses Buch musste er haben.
Er
betritt die Buchhandlung, kauft das Buch und findet beim Blättern
auf Seite 73 sich erwähnt als „Verkünder“ und
"unfreiwilligen Vorläufer" eines neuen Gedankens,
eines geistigen Umbruchs. "Unfreiwillig"!? Er war diesen
Weg freiwillig und in vollem Bewusstsein gegangen! Aber wie auch
immer – hier war endlich endlich einmal eine öffentliche
Anerkennung! In diesem Mann hoffte er einen Verbündeten zu
finden, einen, der ihn verstehen würde, mit diesem Mann musste
er sprechen!
Zuvor
aber, quasi auf dem Weg zu Seifert, der bei München wohnte,
musste er noch einen anderen Schriftsteller aufsuchen, der einen
ähnlichen Weg wie Seifert ging und verkündete: nämlich
den von der Zahl zur Gestalt, von der Abstraktion zur Sinnlichkeit.
Der Architekt und Umweltpädagoge Hugo Kükelhaus hatte 1930
das Buch 'Urzahl und
Gebärde'
veröffentlicht. Kükelhaus forderte eine "Anthropotechnik",
die vom menschlichen Organismus ausgeht. Seine aufs Organische und
Sinnenhafte zielende Denkweise war der von Gräser zweifellos
verwandt. Nach dem Krieg wurde er durch seine "Erfahrungsfelder
zur Entfaltung der Sinne" bekannt. Sie fanden auf der EXPO 1967
in Montreal große Beachtung und wurden seither an vielen Orten
eingerichtet.
Gräser
fährt nach Berlin, muss diesmal nicht in Obdachlosenasylen und
Landstreicher-herbergen "herumkugeln". Er kann in der
Wohnung seiner Tochter unterkommen, die mit ihrer Familie einen
Urlaub an der Ostsee verbringt. Ende Juli schreibt er aus
Berlin-Tempelhof, inzwischen um eine Enttäuschung reicher, an
seine Tochter in Fischerkaten an der Ostsee:
Mittwoch
Vormittag, Ende Juli [1942]
Kinder -
Nun hält mich nichts mehr hier. - In einem Brief zeigte mir
Kückelhaus, dass ich mich geirrt, in meinem Vertrauen zu ihm
geirrt hab - wir haben wohl doch nichts miteinander zu schaffen -
Punkt.
Nun muss ich
"unverbesserlicher" Trauhans mit Alwin Seifert ins Reine
kommen, und wenn ich dabei auch nur wieder eine Täuschung los
werd, kann's aber wirklich gar nicht glauben, dass ich auch hier
"enttäuscht" werden soll.
In
das kleine Räumchen kam ich nur, weil ich meine Schuh flicken,
meine Tasche stopfen und mir das notwendige Zeug hervorkratzen und
aussieben musst. Ja ja, Werkzeugkiste und Nähkasten sind in
jedem Haushalt doch etwas wie Ordnungskeim und Mitte, in den Beiden
wohnt die "Familie Nah", die alles "näht" -
den Unfug wieder fügt und alles Verwirrte wieder schön
genau in nette Reih uns bringt.
Eben
bringt der Postbote für uns alle Geld, Euch von Sendel und mir,
denkt mal, von Onkel Ernst gesendet, meinem Brüderlein,
Reisegeld nach Stuttgart - allso geht's zuerst nach Stuttgart
Sillenbuch, Silberwaldstr.13.
Will
nur noch den "Widukind" Verlag in Lichterfelde anschaun. -
Und eine alte Zahnarztschuld bezahlen.
Allso
- - - der Briefbeschwerer
da, mein ich, will Euch wiedermal in den Tiergarten helfen.
Wenn ich Erfreulichs erfahr
oder wieder irgendwo bleib, sollt Ihr's auch erfahren. Lebt tüchtig
wohl, ihr Kleinen und Grohsen, das Flüchtig ist hohl, elend
hohl!
Vater
Er
ist von Kükelhaus enttäuscht, hofft jetzt auf Seifert. Über
diesen Landschafts-architekten, dem die naturnahe Gestaltung der
deutschen Autobahnen zu verdanken ist, schreibt die amerikanische
Historikerin Anna Bramwell in ihrem Buch 'Ecology
in the 20th
Century':
Alwin Seifert, a member of the
Todt Organisation, was a motorway architect who specialised in
'embedding motorways organically into the landscape'. He took the
then unfashionable ecological position that monoculture damaged
disease resistance among plants and animals, as well as diminishing
land fertility. The interests of man, even German man, did not come
first for him. He also argued against land reclamation and drainage,
claiming that Germany's water table depended on her wild countryside.
His arguments were sufficiently persuasive to make Hitler order that
such programmes of moorland drainage should cease. This caused
considerable trouble among the Ministry of Agriculture leaders ...
Seifert
was a follower of Steiner, and bombarded Walther Darré with
Anthroposophical papers and long letters about the need to retain
wild plants to form a bank of plant genes and resistance potential.
He sent Darré unpublished papers by Steiner, including one on
magnetism and its effects on agriculture. One paper by Seifert
himself argued that 'classical scientific farming' was a
nineteenth-century phenomenon, unsuited to the 'new' era; that
imported fertilisers, fodder and insecticides were not only
poisonous, but laid an extra burden on agriculture through transport
and import costs. It was dangerous to depend on these products in
wartime. He called for an agricultural revolution towards 'a more
peasant-like, natural, simple' method of farming, 'independent of
capital'. Again, typically for the biodynamic reformers, he
emphasised the need for a total rethinking of agricultural methods,
rather than a simple reversion to the primitive. 'A mere re-building
of the old peasant methods cannot help, because the internal
connectedness of the old days has gone. The ground that was healthy
is now sick in many ways.'
Alwin Seifert
gehörte wie die Biologen Raoul Francé, Ernst Fuhrmann,
Hugo Hertwig und der Pädagoge und Künstler Hugo Kükelhaus
zu den wenigen Vordenkern einer sogenannten "biologischen
Bewegung" der Zwanziger- und Dreißigerjahre, die wir heute
als ökologische oder Umweltbewegung bezeichnen würden.
Gräser hat mit jedem von ihnen Kontakt aufgenommen, sei es, um
Bundesgenossen in ihnen zu finden, sei es, um von ihnen zu lernen.
Von ihnen hoffte er, eine wissenschaftliche Unterstützung für
sein eigenes dichterisch-prophetisches Tun und Denken zu erhalten.
In
der Wohnung seiner Tochter in Berlin-Tempelhof hat Gräser seine
Schuhe geflickt und seine Wandertasche ausgebessert. Jetzt will er
nach Stuttgart weiterziehen, als Zwischenstation vor München. In
Stuttgart lebt sein jüngerer Bruder Ernst als Kunstmaler, der
ihm, wohl auf seine Anforderung hin, das nötige Reisegeld
geschickt hat. Bruder Ernst wird ihm auch in München die Wege
ebnen. Zwei Tage später, am 31. Juli 1942 (Poststempel) schreibt
Gräser noch einmal an seine Tochter:
Freitag [Ende Juli 1942]
Eben
kam die zweite Kart von Fischerkaten. Ein paar Zeilen liegen schon
bereit und sollen hier auf Euch warten, nun fliegen nur diese nach
Norden, und ich fahr morgen südwärts zu Ernst.
Brod
wär wohl zu trocken geworden, drum liegt ein "Tausender"
dafür auf dem Schreibtisch.
Ein
schwarzer Kamm, dem 8 Zinken fehlen, ist, da mein grüner
zerbrach, zu mir gekommen. Ihr könnt ihn wohl entbehren.
Nun
fahr ich mit dem grösseren Handkorb zum Anhalter Bahnhof.
Gekehrt
hab ich absichtlich nicht, da Du, mein Trudel, das doch gründlicher
machen willst.
An Post kamen nur 5 Mark an Henri, die da warten.
Ahtmet, ahtmet Luftlust und
liebt und lebet!
Vater
Am 2.
August flattert ein Telegramm von Bruder Ernst nach
Berlin-Tempelhof, Kaiser-Wilhelm-Straße 3 A. Vermutlich mit der
Meldung, Gusto könne in München bei dem Bildhauer
Schwegerle unterkommen.
Dieser
Hans Schwegerle (1882-1950),
Bildhauer und Professor, scheint ein Studien-kamerad von Ernst Gräser
gewesen zu sein. Bei
ihm kommt Gusto in einer Dachkammer unter. Gräser hat es, wie
bei ihm üblich, mit der polizeilichen Anmeldung nicht besonders
eilig. Erst am 7. Januar 1943 gibt er, sicher auf Druck hin, dann
doch zu Protokoll, er sei in der "2. Hälfte [des Jahres
1942] zugezogen in Freimann bei München, Leinthalerstr. 8"
im zweiten Stock.
Schon am
16. August macht er eine längere Wanderung, um eine alte
Bekannte aufzusuchen. In Dorfen bei Wolfratshausen notiert Lorenz
Stiefel, ein sechzehn-jähriger Enkel seines einstigen Meisters
Karl Wilhelm Diefenbach, in sein Tagebuch:
"Als wir alle eifrig bei
der Gartenarbeit waren, kam mit einem Male von der Landstraße
ein Mann daher, der aussah wie K.W.Diefenbach, nur etwas
abenteuerlicher. Er hatte lange Haare und einen Vollbart, trug ein
grünes Wollhemd mit einem Poncho aus braunem Sammet darüber,
gelbgrüne Kniehosen, zu denen er den Schnitt wahrscheinlich
selbst entworfen hatte; die Füße waren mit Sandalen
bekleidet, am Gürtel trug er ein gesticktes Brillenetui und in
der Linken mit künstlerischer Würde die Zeichenmappe.
Großmutter [das ist Stella von Spaun, die Tochter Diefenbachs]
erkannte in ihm einen Kollegen ihres Vaters, Gustav Kreser. Nach dem
Mittagessen half er uns beim Erbsenauspukeln."
In Dorfen wohnt
Stella von Spaun, die Tochter Diefenbachs. Als dessen Schüler
hatte Gräser 1898 auf dem Himmelhof bei Wien die damals
Sechzehnjährige kennengelernt. In seinem Aufbegehren gegen den
Meister hatte er ihr, nach eben diesem Dorfen, einen vertrauensvollen
Brief geschrieben, in dem er seinen Traum von dem lachenden Riesen
erzählte und sein Weggehen von Diefenbach ankündigte. Seit
jener Zeit hatten sie sich wohl nicht mehr gesehen. Jetzt hilft er
ihr beim Erbsenauspulen und öffnet dann seine Zeichenmappe,
zeigt ihr seine Steindrucke aus der Reihe 'Zeichen
des
Kommenden'.
Blätter mit Titeln wie 'Burg
der Armut',
'Sterne',
'Mütterlichkeit'
und 'Thorheiterkeit'.
Einige Wochen nach
diesem Besuch, am 8.
September 1942,
schreibt Stella von Spaun an Gräser:
Lieber
Gräser!
Ihre
"Burg der Armut" geht mir nicht aus dem Sinn u. ich möchte
mir sie für "Mütterlichkeit" umtauschen. Wenn es
Ihnen möglich ist, bitte, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Hoffentlich
geht es vorwärts auf Ihrem Wege!
Mit
freundlichsten Wünschen und Grüssen!
Stella
Diefenbach-Spaun.
Gräsers
Wohnungsgeber, der Bildhauer Schwegerle, hatte sein Dienstmädchen
geheiratet, eine Frau, die den unstandesgemäßen Gast
hasste und mit allen möglichen Schikanen aus dem Hause zu
treiben suchte. In seiner Not wendet sich Gräser am
15. Januar deshalb
an Stella von Spaun:
Werte
Frau Stella -
15 - 1 - 43
Muss notgedrungen fragen ob
bei Euch ein Wohnraum mietbar wär. Aus Freimann muss ich fort,
längst fort. Ists bei Euch auch entlegen, ist doch auf allen
Wegen Wald der Trost.
Wenn
Dort nicht möglich, bitte einen Wink zu einem Winkel.
Wohlauf!
Arthur Gräser
Am
20. Januar
antwortet Stella von Spaun: Dorfen
20. I. 43.
Lieber
Gräser!
Es ist mir aus innerlichen
wie äusserlichen Gründen ganz unmöglich, Sie
aufzunehmen.
Mein Häusl ist zum
Bersten voll; es muß mir durch Miet-Ertrag den Unterhalt
gewähren u. soll ausserdem fünf Kindern u. 9 Enkeln
bleibend od. vorübergehend Heimat sein. Mehr kann man von solch
einem Schneckenhaus wahrlich nicht verlangen! In dem Zimmer, das Sie
bewohnten, mußte ich die Schreinerwerkstätte meines Sohnes
einrichten mit Hobelbank u.s.w. - weil keiner der anderen Räume,
die er sonst über Winter dazu benützt hat, frei zu machen
war. Es ist die reinste Arche Noah! -
Ab
1. April ist auch dieses Zimer vermietet an eine junge leidende
Mutter mit Neugeborenem, die sich bei mir in Pflege geben will, dann
zieht mein Sohn über Sommer wieder in seine Blockhütte. Es
ist also kein Plätzchen frei! Ich weiß auch sonst nichts
für Sie. Eine Art "Gesinnungsgenossin", von der ich
Ihnen einmal sprach, besitzt wohl einen großen Wiesengrund in
der Lüneburger Heide - vollkommen einsam, aber kein Haus, nur
eine ... [Schluß
fehlt!]
Gräser
musste weiterhin in der Leinthalerstraße ausharren. Sein
geliebter Arbeitsplatz in der Staatsbibliothek ging am 10. März
1943, beim ersten großen Luftangriff auf München, in
Flammen auf.
Ob
Gräser in München sein ursprüngliches Ziel erreicht
hat, ob er Alwin Seifert hat sprechen können, ob er wiederum
eine Enttäuschung erlebte – wir wissen es nicht. Seifert,
dieser "militanteste Naturschützer" (Joachim Radkau),
lehrte nach dem Krieg als Professor an der TH München, wurde als
Gründervater des "Öko-Gartens" ein gewichtiger
Wortführer in Sachen Umweltschutz. Mit Gräser, der
unmittelbar hinter der TH im Café Klein-Bukarest seinen
Stammplatz hatte, hätte er leicht ins Gespräch kommen
können. In seinem Buch hatte er geschrieben: "Nur
das erfreut das Herz, was klar und eindeutig sich zum Geist bekennt"
(S. 172, verkürzt und rot unterstrichen von Gräser). Der
Geistbekenner im Café Klein-Bukarest hätte sein Herz
erfreuen, seinen Mut befeuern können.
Der
hatte im Schicksalsjahr 1942 ins Dorfener Gästebuch geschrieben:
Bau
nur hinein in den Wust dein Gebilde,
bau
nur heiter still hinein
deinen
Stern –
Alles
Andre lass gehen, lass sein!
Bau
-
Der
Wirkliche muss ein Blühen erwirken.
Bau
nur hinein!
Arthur Gräser
Fussnoten: