BRIEFE
AN GUSTO GRÄSER
Charlotte
Gräser an ihren Sohn Gustav
Sie
hatte ihn in der Künstlerfamilie des Malers Karl Wilhelm
Diefenbach
bei Wien besucht, war zwar von dem Meister selbst
beeindruckt,
aber von den Verhältnissen in seinem Hause nicht
angetan:
wilde Ehen, die Kinder ungetauft.
6.
9. 1898
Mein
lieber Gust!
Nach
einer langen anstrengenden Fahrt sind wir wohlbehalten in
unserem
Heim angelangt. Die Ereignisse und Einblicke, die ich in
Herrn
Diefenbach’s Hause erhielt, dazu seine hohen edlen Ziele haben
auf
mich für mein ganzes Leben unauslöschlichen Eindruck
hinterlassen.
Ich muß sehr viel und ausführlich erzählen und sage
auch
alles,
was mir gefallen hat. Eines über was ich mich schämen würde
zu
sprechen, habe ich niemandem gesagt, nämlich das ist das
Verhältnis
zwischen den Männern und Frauen, die wilde Ehe und daß
die
Kinder, die dort geboren werden, nicht nach Christuslehre getauft
werden.
Fräulein Sachsenheim Gabriel, die jetzt nicht in Mediasch ist,
sind
die Verhältnisse, wie ich sie schilderte, brieflich mitgetheilt
worden.
Wie ich das Fräulein kenne, glaube ich, würde sie kommen,
wenn
eben dieser dunkle Punkt nicht wäre.
*
Friedrich
von Spaun, Schüler und Sekretär Diefenbachs, schreibt an
Gusto Gräser
Triest-Barcola,
11. September 1899
[An]
Gustav Gräser - derzeit Pardonig, letzte Post: Eppan in Tirol
In
meiner rastlosen Arbeit unterbrochen benütze ich die Pause, Dir
Dein
Schreiben zu beantworten. Dein ehrliches Streben, was ich
wieder
daraus erkenne, freut mich wohl, aber ebenso schmerzlich bin
ich
berührt durch die Erkenntnis, daß ein so guter Wille und
solche
jugendliche
Kraft, wie ich sie in Dir finde, so ungenützt zerstreut wird,
wenn
ich bedenke, daß Dir in der Person des Meisters die führende
Hand
geboten war, jene ideale Kraft geradewegs nur im Sinne unserer
idealen
Bestrebung zu verwerten.
Ich
erinnere mich da an Deine seinerzeit noch am Himmelhof an den
Meister
gerichteten Worte, Du müßtest erst selbst Deine Kraft
probieren
und sähest noch nicht ein, daß wirklich innerhalb der
heutigen
Gesellschaft ein thatsächliches Streben nicht möglich sei.
Der
Meister wie ich sagten Dir damals, daß dies verfehlt sei; er
habe
mit
Riesenkraft einen solchen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft
sich
errungen und sei infolge seines ungeheuren Lebens voll
außergewöhnlicher
Selbstbeherrschung und Erfahrung wie seines
lebenslänglichen,
niemals unterbrochenen Strebens berufen, junge
idealstrebende
Männer den Weg zu führen, auf dem sie, ohne diese
kraftvernichtenden
Erfahrungen jeder einzeln für sich wieder zu
machen,
unter Benutzung der seinigen sich zu Männern seiner Art von
ihm
erziehen lassen und seinen Geist durch ihre jugendliche Kraft in
lebendige
Schöpfung verwandeln helfen.
Wir
alle haben zu einer solchen naturberechtigten und naturgewollten
Vereinigung
uns entschlossen, ein jeder von uns aber nach seiner
Weise
uns von diesem Vorhaben entfernt, und statt immer jenes ideale
Streben
im Auge zu haben, uns von unserem gewöhnlichen unreifen
Empfinden
und Denken ablenken lassen. Seit Du uns auf der Festung1
das
letztemal2
besucht
hast, bin ich zu einer ganz gewaltigen
Änderung
in meinem inneren Leben und in meiner Stellung zum
Meister
gelangt.
Ich
habe mich von allen persönlichen schädlichen
Einflüssen
getrennt und bin nun auf dem Wege der immer
wachsenden
Erkenntnis dahin gelangt, wohin mein fortwährend
abgelenktes
und zerteiltes Empfinden für die Person des Meisters
mich
nicht zu bringen vermocht hat, auf den Standpunkt, wo ich in
zielbewußter
Weise ihm zu folgen vermag, indem i c h mi r folge .
Von
diesem Standpunkt erkenne ich einen großen Teil der Zeit meines
Anschlusses
an den Meister für mich und die ideale Bethätigung
verloren
und strebe nunmehr darnach, keine Sekunde ungenützt im
Sinne
meiner Erkenntnis zu lassen.
Was
Du in Deinem Brief ansprichst, ist auf der einen Seite ein hoch
erfreuliches
Zeichen Deiner hohen und edlen Bestrebung, andererseits
jedoch
von einem [so] starrsinnigen Dünkel einem Manne von der Art
des
Meisters gegenüber, daß ich, wenn Du mich Freund nennst,
Dir
auch
persönlich keinen besseren Freundschaftsdienst erweisen kann,
als
Dich zu der Erkenntnis Deines falschen Weges zu bringen, in den
Du
durch Starrsinn in Deiner jugendlichen Unreifheit und ungezähmten
übersprudelnden
Kraft gelangt bist und worin Du durch die
einseitige,
unvernünftige Art Loserts3
noch
bestärkt wurdest. Es ist
nur
eine
höhere
Stufe
männlicher Reifheit, sich dort unterzuordnen,
wo
hohe Intelligenz, würdiges Alter und großer Charakter sich
mit
edelster
Bestrebung vereint, und wenn Du die Ehrlichkeit und
Wahrhaftigkeit
Deiner Art immer quasi als Entschuldigung
vorschiebst,
so sage ich Dir, daß dies eben der offene Ausdruck
unreifer
Roheit ist.
Deine
Mutter schickte 2 Photogramme (leider fehlt das der Vera4,
um
welches
ich Dich noch bitte) und schreibt, sie wünschte, daß Du
noch
lerntest,
was ich Dir ebenfalls anrathe, denn auch in dem Schaffen
muß
man immer eine möglichst hohe Stufe erstreben und es
ausnützen,
solange man Gelegenheit dazu hat zu lernen.
Es
wird mich freuen, wenn Du aus diesen Worten Nutzen zu ziehen
vermagst
für Dich und die von Dir mit Recht bedauerten Brüder, und
grüße Dich in dieser Hoffnung. Friedrich
1
Auf der Festung Kresic bei Triest, wo sich Diefenbach damals mit
seinen Kindern und der Familie Friedrichs aufhielt.
2
Die Formulierung deutet darauf hin, daß es mehrere Besuche
Gräsers in Triest gegeben hat. Nach dem Tagebuch der Mutter ist
Gusto mit seinen Brüdern Karl und Ernst im Frühsommer 99
nach Triest gewandert. Dort hat er offenbar (er besaß einen
Photoapparat) Aufnahmen von Friedrichs Tochter Vera gemacht (siehe
weiter unten) und dann in Siebenbürgen entwickeln lassen. Erst
nach diesem gemeinsamen, noch halb touristischen Ausflug hat sich
Gusto allein auf den Weg, seine eigentliche Wanderung, gemacht und
offenbar wiederum als erstes die von ihm verlassene
Diefenbach-Gemeinschaft angesteuert, vermutlich in der Hoffnung, daß
der eine oder andere der von ihm bedauerten "Brüder",
allen voran Friedrich, sich ihm anschließen würden.
3
Anton Losert, ein schriftstellerisch tätiger junger Mann, trat
Ende August 1898 der Himmelhof-Gemeinschaft bei; Gräser lernte
ihn dort kennen und hat sich offensichtlich von ihm beeinflussen
lassen. Losert hat zu eben dieser Zeit, Herbst 98, eine
Verteidigungsschrift für Diefenbach verfaßt, die eine
radikal urchristliche Haltung erkennen läßt. Gräser
und Losert waren soch wohl einig, daß Diefenbach diese hohen
Forderungen nicht erfülle, kriutisierten ihn in diesem Sinne und
wurden ausgewiesen.
4
Vera, die Tochter von Stella Diefenbach und Friedrich von Spaun, war
damals einige Monate alt.
*
„Du
bist ein von der Schönheit, von der Güte Besessener!“
Ein
Brief von Karl Gräser an seinen Bruder Gusto
(vermutlich
vom Sommer 1907)
Charlotte
Gräser, die Mutter der Brüder Karl, Ernst und Gustav, hielt
sich nach ihrer eigenen Aussage im Tagebuch dreimal bei ihren Söhnen
in Ascona auf. Ihr dritter Aufenthalt, von November 1906 bis
September 1907, dauerte fast ein ganzes Jahr. Über ihren zweiten
Aufenthalt auf dem Monte Verità hat sie keineEintragungen
gemacht oder sie sind verloren gegangen. Es lässt sich daher
nicht mehr mit Sicherheit feststellen, zu welchem Zeitpunkt der
folgende Brief geschrieben worden ist. Er bezieht sich auf einen
Streit zwischen den Brüdern. Gusto hat das Anwesen von Karl
verlassen und sich ins Dorf Ascona begeben,wo er unter den
Brissagobrücken nächtigt oder die Gastfreundschaft der
Dorfbewohner in Anspruch nimmt. Er soll, mahnt ihn Karl, nicht bei
Fremden oder im Freien schlafen sondern in seinem
Hause
und sich dabei nicht als sein
Gast
(hier lag offenbar die Wurzel des Streits: Karl scheint ihm
Vorhaltungen gemacht zu haben) sondern als Gast der Mutter sehen.
Karl schreibt:
Unsere Mutter ist in
Mitleidehaft. Sie haben wir beide nicht das
Recht, in unsere Händel
hineinzuziehen.
Es ist unsere Sache, uns
gegenseitig soweit aufzugeben, dass Mutter
nicht leidet.
Darum
bitte ich, wie bis jetzt [vom Dorf Ascona] heraufzukommen5,
wie bis jetzt hier [in meinem
Haus auf dem Berg] zu sein, auch hier zu
schlafen, sich jedoch dabei
durchaus als Gast der Mutter zu
betrachten.
Zu
meiner Genesung6
kannst
Du nichts beitragen, sorge, dass Du
nicht weiter zuviel zum
Gegentheil verhilfst.
Unser
guter [Bruder] Ernst7
fängt
auch an, hart und ungerecht zu
werden. – Es sind die
Folgen seines Aufenthaltes an unzeitgemäßem
Ort8.
Er ist angekränkelt, angesteckt, wie ich es war, von Ideen, die
in
den Himmel wachsen und dann
ihre irdische Berechtigung nicht mehr
haben. –
Obwohl mir das „Maßlose“
deines Strebens durchaus klar ist,
verbinden mich mit Dir doch
noch gemeinsame Interessen. Wir
haben eine Mutter, die die
Freude jedes einzelnen von uns mitfühlt
wie seinen Schmerz, und dieser
neutrale, besser, gemeinsame Punkt
ist es, der mich diese Worte,
wie sie eben sind, finden lässt.
Dein Werk kann sich in Dir nur
erfüllen, wenn du es in
Zusammenhang bringst mit der
heutigen Zeit. Noch nie hat ein
Mensch, auch der größte
nicht, etwas vollbracht ohne die Mithülfe
seiner Umgebung. Es wäre
auch unverständlich, dass sich etwas
realisierte, das kein
Bedürfnis des Ganzen ist.
Was Dir und andern gelungen
ist, gelang mit Hülfe der Umgebung.
Dein Streben scheint mir nicht
schlecht, im Gegentheil, aber
himmelschreiend maßlos
und darum eitel, unwahr, unwirklich. Dein
Wille, dein Sehnen ist in
keinem Einklang mit deiner Macht, hier
rechnest du mit unserer Zeit,
in der es, wie du meinst, absolut nicht
mehr so weitergehen kann; und
doch lauft das Werk, das große, wie
du siehst. Du und wir alle
können nicht dies oder jenes arrangieren,
um dieses große Werk zu
beeinflussen, aber erkennen können wir,
mit offenen klaren Sinnen, die
überall hineinschauen, „wie es ist“.
Nicht Seiten des Ganzen
betrachten sondern das Ganze selbst, und
du kannst noch so wenig von
Grund auf, darum kannst Du auch nicht
dauernd überzeugen.
Sicher überzeugst Du mit dem, was du hinter
dir
hast9
und
was Du gerade hast, nie – niemals mit dem, was
kommen
„wird“10.
Es geht ja seinen Gang, wozu
denn sich in Sehnsuchten verzehren, die
erst in unseren Urenkeln –
vielleicht, als Sehnsuchten berechtigt sind.
– Auch
hierin kann die Tugend zum Laster werden, wie alles, wenn es
maßlos ist – wenn
das Ersehnte mit dem eigenen Leben nicht mehr
erlebt werden kann. –
Eben kommt Mutter in ihrem
Leid und sagt als Morgengruß, dass es
ihr unmöglich sei, ein
solch unnatürliches Verhältnis zu ertragen und
bittet, du möchtest doch
heraufkommen können und hier wohnen
und dich an dem Nöthigen
bethätigen können, sie fühlt auch, dass Du
ein Angriffsfeld brauchst.
Nun weiter. Deine Arbeiten
wären gut, aber sie sind nicht begehrt,
bloß von dir, dann sind
sie nichts, und wieder wären sie alles, das
Beste, wenn sie außer
Deinen ehrgeizigen Plänen - die sich aber nicht
realisieren können, weil
du keine Helfer hast – wenn sie in das
Allgemein-Menschliche gerückt
würden.
Es ist
nicht nöthig, ein Sklave zu sein11,
wenn man mit eigener Kraft
Bedürfnisse befriedigt,
und es ist unmöglich, nicht ein ungewollter
Diener12
zu
werden, wenn man seine Kraft nicht für die eigenen
Bedürfnisse einsetzt.
Wozu denn meinen oder zeigen wollen, man
benöthigt keine Wohnung,
kein Kleid, und muss es dann im
gegebenen Fall doch auf unedle
Art zu erhalten suchen, auf indirekte
Art, weil das Bedürfnis
ja befriedigt werden muss.
Du wirst sicher Achtung, Liebe
und alles, was man mit Glück
bezeichnet, auch ein Weib,
erringen können, wenn Du Deine wahren
Bedürfnisse äußerst.
Dein Wesen besticht alle, mit denen Du welche
Verbindung findest, jedoch nur
kurze Zeit, sobald die Andern
erkennen, dass sie auf dem Weg
mit Dir ihre natürlichen Bedürfnisse
verhüllen lernen müssen.
Machtlos klein sein wollen, mit der größten
Sehnsucht nach Macht des
eigenen Ichs.
Du bist genügend fähig,
um als ehrlicher Mann zu leben, deine
Unfähigkeit liegt bloß
in dem Verhältnis, das du zu allen einnimmst.
Nicht betrachte dich als etwas
Besonderes, das freih und in Allem
anders grünen müsse
wie die andern, du bist ja ein Mensch mit
menschlichen Bedürfnissen,
lebe sie!
Sogar einen Rath will ich dir
hier geben, und der ist, mache dich
ansässig.
Du wirst liebenswürdig – auf diese Art13.
Du hast dadurch
Gelegenheit, Beziehungen zu
knüpfen, die von Dauer sind. Du hast
Ursache, für etwas zu
wirken, zu gestalten und vor allem „deine
wirkliche Kraft“ kennen
zu lernen. Ich glaube, dies ist ein Weg, wo du
wirklich bescheiden, wirklich
einfach [werden] und wirklich zu Deinen
Bedürfnissen kommen
kannst.
Denke
nicht, wenn ich ein Weib habe14,
habe ich [immer noch] Zeit
und Muße, mein Heim zu
bauen, nimm die Verhältnisse, die ja, zum
Kuckuck, das Gegebene, das
Wirkliche sind, nimm diese, wie sie sind
und schaff damit.
Schaffe mit Deiner Macht, mit
Deinen Verbindungen das, was du
brauchst, wie es jeder Mensch
und jedes Thier thut, rechne mit
deiner ehrlichen Manneskraft
und nicht mit dem Mitleid deiner
Umgebung, verringere dein
Sehnen und concentriere diese Kraft
mehr auf das Nächste. D.
h., sorge, dass du zu essen, zu wohnen und
zu schaffen hast, aber auf
Deinem Feld. Der Besitz ist immer gewesen
und recht, sobald man ihn mit
eigener Macht behaupten kann. Jeder
Vogel besitzt sein Nest, wie
der Baum seinen Stand, wie der Mensch
sein Heim. Elend ist bloß,
zu besitzen, ohne es in Beziehung zu haben
mit allen andern, ohne die
Bedürfnisse daraus zu saugen. Besitzt man
nichts, so muss man anderen
ihr Theil nehmen, denn irgendwoher
muss der Bedarf genommen
werden.
Wer aber dazuträgt zum
Wohl des Allgemeinen in irgendeiner Form,
die ihm die naheliegendste,
hat Aussicht – ernährt zu werden von
dem allgemeinen Willen, vom
Geist der Zeit.
Ohne
Besitz kannst Du ja nicht leben, du Kleid- und Kahnbesitzer15,
erweitere nun diesen soweit,
dass nicht bloß einige Passionen, dass
sich alle Passionen in dir
sich ausleben können, und da könnte es
leicht sein, dass wir auch
zusammenkommen. –
Die Besitzlosen streiten sich
nicht, ebenso nicht die Besitzenden.
Es ist wahr, der Besitz, die
äußere Macht oder auch die innere, der
Unterschied also zwischen zwei
Kräften, zwei Menschen, wie [sie]
sich
eben ausgleichen, es ist der Streit16.
Auch bei uns kanns nicht
anders sein, aber höre: mit mir besitzen
kannst du vorderhand nicht,
weil ich mit Dir nicht theilen kann,
besser, du mit mir nichts
theilen willst. Du kannst die Noth des
andern, auch wenn sie da ist,
nicht sehen, weil deine Person als
Schirm davorsteht, du kannst
dann auch mit niemandem fühlen, und
nur wenn zufällig dein
Gefühl mit dem deiner Umgebung
zusammenstimmt, reizt es Dich
zur Handlung. Du kennst kein
Sichhingeben (obwohl du es
wahnsinnig ersehnst), darum erhältst du
auch
nichts, fast nichts. Bloß Frauen17
und
Knaben bewegst du oder
schwache,
unklare Männer18
und
auch diese nicht für die Dauer. Der
Mann wird dir nicht folgen,
weil er sich und seiner Familie die
Entwicklungsmöglichkeit
abschneidet19.
Zweifel bringst du,
Sehnsuchten weckst du, aber bloß, um so
Angeregte
nach einer Zeit – ganz zu verlieren.20
Dein
Streben ist also
eitel, nicht weil es in
falscher Richtung geht, weil es maßlos ist. Deine
Entwicklung stockt, nicht weil
die Anlage fehlt, bloß weil du deine
Kräfte
nicht gibst, wo sie benöthigt sind. Du bist, wie Ott21
schreibt,
ein von der Schönheit,
von der Güte Besessener, ohne dieser wirklich
Ausdruck geben zu können,
dein Streben geht zu sehr nach der
Erscheinung, die du mit deiner
Macht nicht erfüllen kannst, alles ist
aber gut in sich, wenn du
daran glaubst, dass Du ein einfacher,
genügend begabter Mensch
bist, der lebt um andern Menschen
dienend, frei dienend, selbst
Liebe und Leben zu empfangen.
[Schluss fehlt.]
5
Gusto arbeitete damals im Hafen von Ascona an seinem Boot, einem
Einbaum. Er schlief dann, wie aus anderer Quelle berichtet wird,
gelegentlich unter den Brissagobrücken,
wo auch sein Einbaum lag.
6
In ihrem Tagebuch schreibt Charlotte Gräser über ihren
dritten Ascona-Aufenthalt von 1906/7:
„Die
Veranlassung zu dieser Reise war Karls Herzkrankheit. Doch gottlob
war dies Leiden in der ganzen Zeit unseres Zusammenseins so, daß
er sich alles selbst machen konnte. Er hat viel gearbeitet und auch
viele schwerere Arbeiten wie Sägen, Hobeln (Bienenkasten) und
den Zementboden in der neuen Kammer eigenhändig gemacht.
Aufgeregt war er leider auch einigemal, und meistens war der Grund
das Gefühl, daß die in seiner Umgebung waren nicht genug
wirklich alles teilen konnten.“
Hier
scheint eine Anspielung auf jenen Streit mit dem Bruder gegeben zu
sein. Karls Vorwurf gegen Gusto war offenbar, dass er nicht wirklich
alles teile, gemeint ist die Arbeit an Haus und Garten.
7
Auch dieses Detail – die Anwesenheit von Bruder Ernst –
weist auf die Zeit von „Grossikas“ drittem Aufenthalt.
Charlotte Gräser schreibt:
„Von
November 1906 bis September 1907 war ich bei Karl. Es war für
mich und alle, denn meistens waren auch Gust und Ernst mit uns
zusammen, gut.“
Vermutlich
im Frühsommer 1907 machten die Maler Ernst und Gusto gemeinsam
eine Gemälde-Ausstellung in Locarno.
8
Vermutlich gemeint: Gräsers Höhle bei Arcegno,
die Pagangrott. Demnach hatte Ernst – in etwa demselben
Zeitraum wie Hermann Hesse – sich längere Zeit im
Felsenheim seines Bruders aufgehalten – und war verstärkt
unter dessen Einfluss geraten. Die Ansichten von Gusto übernehmend
wurde er „streng und hart“
gegenüber
den kompromisslerischen Anpassungen von Karl.
9
Anspielung vermutlich auf Gustos Militärdienstverweigerung und
Gefangenschaft von 1901/2.
10
Anspielung auf Gustos Vision der kommenden „Erdsternsöhne“.
11
Anspielung darauf, dass Gusto sich bei den Dorfbewohnern für
Kost und Wohnung verdingte.
12
Die Formulierung setzt voraus, dass Gusto sich seinen „Arbeitgebern“
– oder eher Brotgebern – aufdrängte, wie das auch
aus den Äußerungen von Grohmann und Szittya hervorgeht.
„Er
lebte davon, dass er plötzlich bei irgendeinem Askoneser mit
folgenden Worten anklopfte: - ‚Bruder! Ich habe gestern im
Traum die Eingebung bekommen, dass ich unbedingt bei Dir arbeiten
muß.’ – Er arbeitete dann einige Wochen ganz
umsonst. Plötzlich verschwand er, wie er später mitteilte,
wieder unter dem Einfluß eines Traumes“ (Szittya 94).
„Vielfach
verdingt er sich gegen Kost aber ohne Lohn bei seinen Genossen, oder
er malt gegen Kost oder ist sonstwie bemüht, die Verwendung von
Geld möglichst zu umgehen“ (Grohmann 29f.).
13
Karl kennt Gustos Suchen nach einer Frau, das bisher ergebnislos
geblieben ist. Seine Chancen würden sich erhöhen, meint er,
wenn Gusto erst einmal ansässig wäre.
14
Gusto scheint geäußert zu haben, wenn er eine Frau finde,
sei immer noch Zeit, sich ein Heim zu bauen. Karl legt ihm die
umgekehrte Reihenfolge nahe.
15
Auch die Erwähnung des Kahns verweist auf das Jahr 1907.
16
In schwerfällig sich windender Formulierung gesteht Karl sich
ein und dem Bruder zu, dass er selbst - als Besitzender - zwar die
äußere Macht besitzt, Gusto dagegen eine innere.
Prinzipiell ist er für einen Ausgleich und Austausch dieser
Kräfte, findet aber, dass der Bruder sich zu wenig einbringt.
17
Er denkt vermutlich an Albine Neugeboren aus Monti della Trinità,
die ihn zeitweise bei seinen Wanderungen begleitete, vielleicht auch
an Elly Lenz, um die Gusto geworben zu haben scheint, die sich aber
inzwischen mit dem Arzt Raphael Friedeberg verbunden hatte.
18
Hier könnte Karl an Hermann Hesse gedacht haben, der ebenfalls
nicht auf Dauer bei Gusto geblieben war: eine noch frische Erfahrung
des Frühjahrs 1907.
19
Auch hier ist die Beziehung auf Hesse naheliegend.
20
Karl sieht sich und befindet sich in vorteilhafter Position, weil er
beobachten konnte, dass Gusto seine im Frühjahr gewonnenen
„Anhänger“ schon wieder verloren hatte: Nicht nur
Hesse, auch die drei Wandergenossen, mit denen er nach Gaienhofen
gekommen war, hatten sich wieder zurückgezogen oder
gingen
jedenfalls ihre eigenen Wege.
*
Frühjahr
1926: Gräsers erstgeborene Tochter Gertrud, genannt Trudel,
schreibt ein Gedicht
Die
15jährige Trudel wohnte 1926 eine Zeit lang - etwa von
Weihnachten bis Ostern - bei ihrem Vater in Dresden-Loschwitz,
Kuckuckstr.1. Sie schrieb dort für Ihren Vater das Gedicht
"Wanderer und Vöglein", in dem es von dem Wandrer
heißt:
Von
Hause fortgestossen,
nun
hier in weiter Welt,
den
Ranzen leer, im Beutel
nicht
einen Pfennig Geld.
Und
's Vöglein singt so helle
in
all der trüben Pein,
der
Wandrer denkt im Stillen:
Könnt
ich ein Vöglein sein!
Und
müd schliesst er die Augen,
der
Sang klingt ihm im Ohr;
er
fühlt sich sacht erhoben,
als
flöge er empor.
*
Martin
Lang, Freund Hermann Hesses und Vorstand des Goethebundes Stuttgart,
schreibt an Gräser um 1929
Lang
war Lektor der deutschen Verlagsanstalt, hatte einen Band mit
Vagantendichtung herausgegeben. Deshalb suchte Gräser ihn auf,
um ihm seine Gedichte vorzulegen, vermutlich während des
Stutt-garter Vagabundenkongresses von Pfingsten 1929. Lang, der mit
Hesse seit gemeinsamen Zeiten in Gaienhofen vertraut war, scheint
diesem von Gräsers Auftritten in Schwaben berichtet zu haben,
was sich dann in der Erzählung 'Die Morgenlandfahrt'
niederschlug.
Mir geht alles, was ich von
Ihnen las und in unseren Gesprächen hörte, sehr nahe; in
eine oft wunderlich eigenwillige Form eingekleidet empfinde ich doch
Ihre Schriften verwandt mit dem besten deutschen Wesen: Stille und
Größe der Empfindung, Ruhe des Gemütes und
Wunschkraft zu wirken. Sie bringen so viel Natur mit, und den Adel
des Geistes.
*
Dora
Kallmann an Gusto Gräser, 1. Mai 1930
Gräser
hatte an der von Max Schulze-Sölde einberufenen
„Religiösen
Woche“ in Hildburghausen teilgenommen. Diese
Tagung
an Ostern 1930 sollte dazu dienen, alle freireligiösen
Kräfte
zusammenzuführen. Gusto war wie Dora Kallmann einer
der
Redner gewesen.
Lieber
Gusto Gräser! Ich habe Dich auf dieser Tagung sehr lieb
gewonnen.
Darum möchte ich versuchen, Dir noch ein Mißverständnis
zu
erklären. Du fühltest Dich von Max zurückgesetzt und
unterdrückt.
Das
kam nicht, weil wir Dich etwa zu tief einschätzten oder Dich
nicht
verstanden
hätten. Sondern gerade, weil Du so selbstverständlich
dastehst,
wo alle hinsollen, war es unwesentlich, daß Du sprachst.
Du
selbst hast in Deinen Worten am Abend klar gesagt, daß es
gegenwärtig
gilt, die Hülle, die Schale fortzunehmen. Du, Dein Leben
und
Dein Sein haben ja keine Hüllen und Schalen. Dich brauchen wir
also
nicht vor den anderen herauszuschälen. Darum sagte auch Max:
"Du
wirkst am meisten durch Dein Dasein!"
Bei
dieser Tagung galt es, diejenigen sprechen zu lassen, von denen
trennende
Schalen fortzunehmen waren. Es fügte sich darum auch
ganz
richtig, daß Du am letzten Abend, nachdem die Gemeinschaft
gefunden
war, sprachst.
Wir
sind durch die Tagung trotz allem dem Punkte, wo Du stehst und
auf
uns wartest, schon viel näher gekommen.
Ich
freue mich so sehr, daß Du ein M e n s c h bist.
Dora
Kallmann
*
Prof.
Friedrich Panzer, Heidelberg, im Juli 1932 an Gräser in
Stuttgart-Vaihingen,
Im Himmel 36.
Gräser
hatte von Stuttgart aus mehrere Heidelberger
Professoren
aufgesucht und ihnen aus seinem neu entstandenen
'Wortfeuerzeug'
vorgetragen. Daraufhin schreibt ihm
der
Germanist Friedrich Panzer:
Ich
habe mit Vergnügen Ihr „Wortfeuerzeug“ zünden
und leuchten
lassen
… ich wünsche aufrichtig, daß es gelänge Ihr
Buch zum Druck
zu
bringen; es könnt wohl manchem Freude machen und Wege zur
Erquickung
und Besinnung weisen. Daß einiges Wunderliche dabei
unterläuft,
möchte dem, der tiefer sucht, mehr Reiz als Störung sein.
Ich
denke gern an Ihren Besuch. Es ist ein seltenes Erlebnis, einem
Menschen
zu begegnen.
In
aufrichtiger Verehrung, Ihr Friedrich Panzer.
*
Stella
von Spaun, die Tochter Karl Wilhelm Diefenbachs, schreibt Gräser
am 8. September 1942
Kurz
nach seiner Übersiedlung von Berlin nach München hatte er
in Dorfen die Tochter seines ehemaligen Lehrers aufgesucht, die er
vom Himmelhof her kannte. Er schenkte ihr seine Steinzeichung
'Mütterlichkeit' von 1925, die Stella nun umtauschen möchte
gegen 'Burg der Armut'.
Lieber
Gräser!
Ihre
"Burg der Armut" geht mir nicht aus dem Sinn u. ich möchte
mir sie für "Mütterlichkeit" umtauschen. Wenn es
Ihnen möglich ist, bitte, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Hoffentlich
geht es vorwärts auf Ihrem Wege!
Mit
freundlichsten Wünschen und Grüssen!
Stella
Diefenbach-Spaun.
Stella
von Spaun antwortet Gräser auf dessen Anfrage wegen einer
Unterkunft.
Dorfen
20. 1. 43
Lieber
Gräser!
Es
ist mir aus innerlichen wie äusserlichen Gründen ganz
unmöglich, Sie aufzunehmen.
Mein
Häusel ist zum Bersten voll; es muß mir durch Miet-Ertrag
den Unterhalt gewähren u. soll ausserdem fünf Kindern u. 9
Enkeln bleibend od. vorübergehend Heimat sein. Mehr kann man von
solch einem Schneckenhaus wahrlich nicht verlangen! In dem Zimmer,
das Sie bewohnten, mußte ich die Schreinerwerkstatt meines
Sohnes einrichten mit Hobelbank u.s.w. - weil keiner der anderen
Räume, die er sonst über Winter dazu benützt, frei zu
machen war. Es ist die reinste Arche Noah! -
Ab
1. April ist auch dieses Zimmer vermietet an eine junge leidende
Mutter mit Neugeborenem, die sich bei mir in Pflege geben will, dann
zieht mein Sohn über Sommer wieder in die Blockhütte. Es
ist also kein Plätzchen frei! … [Schlus fehlt!]
*
Gräsers
Stieftochter Liesel schreibt ihm im März 1943,
nach
den schweren Bombenangriffen auf München
Backnang,
Mitte März 1943
Lieber
Gust!
Sooooo
lange weiß ich nichts von Dir. Aber es geht Dir doch
gut??
Seit dem Angriff, über den ich schrecklich traurig bin –
ist
die Stadt München mir doch wirklich Heimat und immer
nahe
– bin ich eben unruhig. Hoffentlich hast Du außer den
Schrecken
nichts erlebt. Für heute leb wohl! Ich mag nicht
mehr
schreiben, ohne von Dir zu hören.
Herzliche
Grüße Deine Lisel.
*
Der
Stuttgarter Freund Willy Bauer schreibt an Gusto
Gräser
Stuttgart
S, Danneckerstr. 40, 6. Mai 1943
Lieber
Gusto!
Es
freut mich, von Dir wieder ein Lebenszeichen erhalten zu
haben.
Bei den schweren Luftangriffen auf Stuttgart bin ich
mit
heiler Haut davongekommen, nur einige Fenster vom
Haus
gingen kaputt. Andere Stadtteile von Stuttgart u.
besonders
Cannstatt wurden sehr schwer getroffen, hunderte
von
Häusern liegen in Trümmern oder sind ausgebrannt.
Ich
würde jetzt gerne nach München fahren um dich zu
besuchen,
aber seit Mitte März ds. Js. wurde ich vom Kriegs-
Arbeitseinsatz
erfasst u. kann meinen mir zugewiesenen
Arbeitsplatz
leider nicht verlassen.
Mein
eigenes Schaffen ist dadurch auch vollständig lahmgelegt
und
du kannst daher meinen Wunsch nach einem
baldigen
Ende des Krieges wohl verstehen.
Auf
den Inhalt deines Briefes, besonders auch bezügl. des Gedichtes,
näher
einzugehen, ist mir voraussichtlich erst in einigen Wochen
möglich.
Ich hätte das ja am liebsten mündlich getan, aber der Krieg
ist
eben auch hier ein Hemmnis.
Damit
Du dich wenigstens etwas freier bewegen u. regen kannst,
überweise
ich dir heute per Post an deine Münchner Adresse einen
Betrag
von RM 200. - .
Das
Gedicht kannst du vielleicht selbst in München vervielfältigen
lassen,
ich komme vorerst nicht dazu u. würde auch gerne einige
Änderungen
daran vornehmen, die aber eine mündliche Aussprache
mit
dir voraussetzen.
Mit
dem Wunsche eines baldigen Kriegsendes u. gesunden Wiedersehens
grüsst
dich herzlich
Dein
Willy Bauer.
*
Karte
von L. Hoby an Gräser vom 5. 9. 1947:
Frau
Hoby hatte, offenbar auf seinen Wunsch hin, einen Vortrag des von ihm
vielgeliebten Henry D. Thoreau ins Deutsche übersetzt: 'Life
without Priniciple'. Der „Aumeister“ ist eine beliebte
Ausflugs-gaststätte am nördlichen Ende des Englischen
Gartens, in der Nähe von Gräsers Unterkunft in Freimann,
Hortensienstraße 3.
Lieber
Herr Gräser!
Hierbei die Uebersetzung des
Thoreauschen Vortrags.
Es war ein müh-sames Stück Arbeit, besonders da ich
unpässlich war inzwischen. Ob Sie das darin finden, was Sie
erwarten, bezweifle ich. In dem Buch möchte ich noch ein wenig
lesen. Wenn ich wieder wohler bin, bringe ich es Ihnen hinaus zum
Aumeister.
Ein Mangel war, daß Sie
mir kein Papier
gegeben haben. Man bekommt ja keins.
Ihre L. Hoby
*
Die
Psychologin Renate Gabler schreibt:
30.
12. 49
Lieber
Arthur Gräser! Bin schon seit 4 Monaten unterwegs – oft
sitze ich bei Ihnen u. denke in Ihre Welt hinein – draußen
sieht es wartend aus – Menschen u. Kreatur warten auf die
Erlösung u. es wird.
Lassen
Sie sich von mir zur Wende Ihre Hände drücken zu neuem
Gelingen von unserem
Werde,
um reif zu werden für die Heimfahrt.
Herzlich
verbunden! Ihre Renate
*
Der
Arzt Dr. Rudolf Tietze schreibt aus dem Allgäu
27.
7. 1951
Sehr
geehrter Herr Gräser!
Am
7. 6. 1948 setzten Sie sich in einem Münchner Restaurant
zufällig zu mir. Wir kamen ins Gespräch – ich sagte
Ihnen, dass ich seit langem im Naturschutz tätig sei – und
Sie lasen mir zwei eigene Dichtungen über denWald vor, die ich
aufschrieb. Desgleichen notierte ich Ihr Gedicht: „Oh, oh, oh
der Zivilister ...“,
Ausgerechnet
heute fiel mir wieder das alte Notizbüchlein in die Hand, und da
ich eben ein Buch lese, auf welches Ihre Gedankengänge im
„Zivilister“
ganz passen, beeile ich mich Ihnen den Titel des äusserst
interessanten Buches mitzuteilen und es Ihrer Aufmerksamkeit recht
angelegentlich zu empfehlen. Es ist Richard Katz: „Drei
Gesichter Luzifers: Lärm, Maschine, Geschäft“ im
Eugen Rentsch Verlag Zürich …
Mit
den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen und Gruß
Dr. Tietze
*
Günter
Mauck nach einer Begegnung im „Fischstüble“ hinter
der Münchner Universität
München, 8. April 1954
Sehr verehrter Herr Gräser!
Erinnern Sie sich noch der
köstlichen Stunde in Hein Essers „Fischstüble“,
während der Sie auflohten und mir das „Stirb und Werde“
in einem neuen Sinn geoffenbart haben?
Mir blieb jedes Wort
unvergessen …
Paracelsus hat in seinem Werk
den weisen Satz hinterlassen: „Was durch eine Arzenei geheilt
werden kann, kann auch durch das Wort geheilt werden; weit wirksamer
aber ist das Wort Gottes!“
Sie, sehr verehrter Herr
Gräser, spüren dem Gift in unserer Sprache nach und wissen
so um das Geheimnis gesunder Kraft. Solche Jugendfrische und
raufrischer Mut dröhnte an unserem Abend aus Ihnen, daß
ich zu Dr. Großmann sagte: „Herr Gräser war
jugendlicher als ich, und ich zähle erst 30 Lenze“. …
So begegnen wir uns geradezu
schicksalhaft.
Als ich Dr. Großmann
voll Feuer von unserer gemeinsamen Stunde erzählte und unter
Betonung Ihres Urheberrechtes Ihr „Stirb und Werde“
wiedergab, wurde in dem 61jährigen der Wunsch groß, Sie
kennen zu lernen. …
Nun raufen Sie sich in der
„Welt der Könner“ mit Staat, Volk, Familie,
Erziehung, Umwelteinflüssen und Persönlichkeits... [Rest
fehlt.}
*
Renate
Gabler schickt ihm Geld und schreibt:
Im
Zug nach Duisburg, am 4. 1. 55
Dem
guten alten Rübezahl – ihm, der schon viel Gutes an mir
getan, ein wenig
Hilfe.
Oft
bei ihm Renate Gabler
*
Ein
Münchner, der ihn öfter mal eingeladen hatte, schreibt ihm
zu seinem sechsundsiebzigsten Geburtstag
München,
den 15. II. 1955
Lieber
Arthur Gräser!
Zu
Ihrem Geburtstag wünschen wir Ihnen von Herzen alles Gute. Wir
denken oft und gern an den seltsamen Wahrheitssucher und Dichter am
Rande der Großstadt, der innerlich in unserem Kreise ganz
lebendig ist, und dem wir manche schöne und erfrischende Stunde
verdanken. …
Ihr
Wendelin Reichert.
*
Mitte
April 1956. Gräsers Freund und Mitarbeiter, der Architekt
Friedrich Blaschke, schreibt ihm aus Moosach
Blaschke
war seit Kriegsende sein engster Gesprächspartner
und
Mitarbeiter, der ein Jahrzent lang alle seine Manuskripte
unermüdlich
abtippte: sein „Eckermann“. Gräser nante ihn aber
nicht
so sondern „Freitag“. Weil er ihn jeden Freitag in seiner
Wohnung
in Moosach besuchte, und weil „Freitag“ der Freund
und
Helfer von ihm, dem „Robinson“ war . Mit der Abschrift
des
neue entstandenen 'Brieflein Wunderbar' an die Freunde in
Schwaben
hatte Blaschke-Freitag sich verzögert, wofür er sich
entschuldigt.
Werter
Freund!
Eingangs
grüße ich Dich recht herzlich und in ungetrübter
Freundschaft.
Wir haben uns zwar seit Weihnachten nicht
wiedergesehen,
doch glaube ich, daß Du mich dennoch nicht der
Schar
der ungetreuen Gesellen beigeordnet hast. Nach wie vor
empfinde
ich unsere Verbundenheit, von der ich wünsche, daß sie nur
noch tiefer, inniger werde.
Mit
des Winters Eis und Schnee war ich wohl selbst ein wenig mit
eingefroren.
Doch nun springt Freund Lenz ja wieder durch die
Lande
und neben allem Winterfrost taut er auch meines Herzens
Frostgewande
und ich geb seiner Kraft und Wärme Raum, daß er
tiefgründlich
auch bei mir sein Werk vollbringe und auch in mir ein
wenig
Grünung, Keimen, Blühn gelinge – mein ewger Traum. –
Lieber
Freund – kann ich Dich am Freitag wiedersehen? Ich kündige
mich
an, damit ich nicht vor deinem leeren Nest stehe.
Bis
dahin alles Gute
Fried
Blaschke
*
11.
Februar 1957. Brief von Tochter Heidi zu seinem achtundsiebzigsten
Geburtstag
Gräsers
zweitgeborene Tochter Heidi war die einzige seiner
Töchter,
soviel wir wissen, die bis zu seinem Ende mit ihm in
Verbindung
blieb. Sie lebte in der Schweiz und berichtet über
ihren
Sohn Reinhard, den ersten männlichen
Enkel
Gusto Gräsers.
Reinach,
d. 11. II. 1957
Mein
geliebter Vater!
Am
16. Februar jährt sich wieder, um einen Jahresabschluß
reicher,
Dein
gutes und reiches Leben. An diesem Tag will ich Deiner
besonders
gedenken und will wie so oft, die Tage der glücklichen
Kindheit,
die wir mit Dir erleben durften, an meinem Herzen
vorüberziehen
lassen, um so mitten bei Dir zu sein.
An
alle Erreichbaren, wie ans Trudchen, Lottchen, Theodörchen und
an
Liesel habe ich schon vor längeren Tagen in Erinnerung gerufen,
daß
Dein Purzeltag ist, und ich hoffe und würde es wünschen,
daß Sie
alle
mit einem Brief oder einer Gabe Deiner gedenken.
Ich
habe für Dich das Buch von Robert Landmann "Monte Verità
Ascona"
antiquarisch bekommen und hoffe Dir damit eine Freude zu
bereiten.
Du bist ja klug und auch weise, daß Du eine weniger
günstige
Kritik, so wie sie Landmann gegen Dich führt, ertragen
kannst,
denn das wissen alle klugen Menschen, daß es nur wenigen
gelingt,
einen Menschen richtig zu beurteilen. Diese Erfahrung habe
ich
im Leben immer wieder gemacht, so ganz besonders hier, wo ich
so
oft erleben muß, daß man mich unter den gleichen Hut des
Papa
Christeller
stecken will, obwohl wir rein äusserlich noch mehr aber
innerlich
zwei ganz ver-schiedene Menschen sind. Lieb sind mir alle
Menschen,
ob sie den Hut tief oder gar nicht ziehen, man findet doch
immer
etwas Gutes, man braucht nur danach zu schauen.
Wie
Du auf dem Bilde sehen kannst, ist der kleine Reinhard schon
ganz
schön gewachsen, er geht gerne in die Schule u. das Lernen
macht
ihm Freude, so darf er im Frühling, wenn er dann 11 Jahre alt
wird,
nach Basel ins Gymnasium gehen. Es gibt drei verschiedene. 1.
das
Humanistische, da will er wegen der alten Sprachen nicht drauf,
dann
das Realgymnasium, das sagt ihm auch nicht so zu, weil er sich
sehr
für Naturwissenschaft interessiert, entschied er sich für
das
Mathematisch-Naturwissenschaftliche
Gymnasium. Es wird ja sehr viel von den Kindern verlangt, aber
andrerseits frage ich mich, ob man
die
Zeit noch besser ausfüllen kann als mit Lernen, als mit Schulung
u.
Training des Geistes, besonders wenn es dem Kind nicht sonderlich
schwer
fällt. Einerseits verstehe ich die Einstellung gegen die Schule,
wie
Du u. Mutter sie hatten u. zwar wenn die Schule bzw. die
Paedagogen
versuchen des Kindes freie Entfaltung zu zerstören statt
zu
fördern u. so arme, entscheidungsunfähige Kreaturen
züchten,
allerdings
haben die Eltern noch einen größeren Einfluß auf die
Kinder,
um aus ihnen rechte Menschen werden zu lassen als die
Schule,
aber natürlich fragt man sich, wer die Eltern sind. Nur wenige
wiederum
sind in der Lage, ihre Kinder recht zu führen. Also, es hat
alles
sein für u. wider, ich meine aber, daß es
verantwortungslos
wäre,
wenn ich Reinhard ohne Schule erziehen würde, besonders wo
ich
sehe, wie froh er doch ist, in die Schule gehen zu dürfen.
Vater,
ich denke oft an Dich u. wie gerne wollte ich Dich mal rufen.
Doch
leider ist hier nicht der rechte Boden dafür u. ganz u. gar
nicht
für
Dich.
Warum
lässt Du gar nichts von Dir hören, Du weißt doch, wie
sehr ich
auf
ein Zeichen von Dir warte u. wie sehr ich mich freuen würde.
Lebe
wohl, mein lieber Vater, und bleibe glücklich u. froh!
Deine
Heidi
Mit
gleicher Post geht Drucksache Buch an Dich ab.
Was
macht Dein Werk?
*
An
seinem letzten Geburtstag, 16. Februar 1957, kommt er in der Milchbar
des Münchner Hauptbahnhofs mit der Schauspielerin Hannelore
Dietrich ins Gespräch. Sie schickt ihm später ein Geschenk
und schreibt:
24.
Februar 1957
Lieber
Vater Gräser! ... Als ich Sie am 16. Februar in der Milchbar auf
dem Münchner Hauptbahnhof sah, wußte ich, lieber Vater
Gräser, daß ich Ihnen eine kleine Freude machen mußte
... [Rest fehlt.]