Gustos
Baumhaus
In
diesem hohlen Baum in den Isarauen bei Freimann
fand Gusto Gräser bei schlechtem Wetter ein schützendes Obdach. Der alte Baumriese
diente ihm auch als Unterkunft bei
Gesprächen mit seinem Freund Friedrich
Blaschke. Er, der „Robinson“, pflegte sich jeden Freitag mit
Friedrich, den er „Freitag“ nannte, hier oder in Moosach zu treffen.
Ein halbes Jahrhundert später, um 2008 etwa, hat dort ein
Schwabinger Künstler ein Kunstwerk installiert
zum Gedenken an den Baumverehrer Gusto Gräser und seine Dichtung
‚Baum-bin-im-Baun‘.
Der
gekreuzigte Baum
Bildwerk
eines unbekannten Künstlers im Baumhaus von Gusto Gräser bei Freimann
Was will das rätselhafte Gebilde
uns sagen? - Ich deute es als ein modernes, abstrahierendes
Kruzifix, ein Baumkruzifix im doppelten oder mehrfachen Sinn.
Der Körper der Figur ist zweigeteilt. Der Oberkörper und
der Unterkörper (genauer: die Füße) sind plastisch dargestellt, in
Eisen oder Holz. Sie sind nur durch zwei Stangen verbunden. Die
hellen Scheiben oben wirken wie Augen, die dunkleren Scheiben
unten wie Nägel. Es scheint sich um Schraubenköpfe zu handeln; das
Gebilde ist in das Holz des Baumes geschraubt oder genagelt.
Dieser Körper ist gekreuzigt. Auf Christus deutet,
unübersehbar, das Lendentuch. Die Figur eines Gekreuzigten oder
Gehängten wiederholt sich verkleinert in einem wurzelartigen
Gewächs in der untersten Mitte. In den oberen, nach oben offenen
kastenförmigen Gebilden wird Stoffliches bewahrt. Es könnte sich
um Zeichen für den Essigschwamm auf der linken, für das Stichblut
auf der rechten Körperhälfte handeln.
Merkwürdigerweise,
das ist das Erstaunlichste, scheint der Baum angesägt oder gar
abgesägt zu sein. Dieser Einschnitt zeigt sich auch an der
Außenseite des Baumes. Wurde er angesägt aber nicht gefällt? Blieb
er einfach stehen dank seiner breiten Grundfläche? Unübersehbar
ist, dass das Kunstwerk den durch die Säge durchschnittenen
Baumkörper verschraubt und damit zusammenhält, aufrecht hält.
Ein Unternehmen also zur Rettung des Baumes? Und zugleich
eine Zeichenhandlung von unüberbietbarer Deutlichkeit und
Eindringlichkeit. Wer wird gekreuzigt? Beide: Jesus und der Baum.
Und zugleich wird der Baum durch den eisernen Jesus gerettet. Zum
Dritten aber handelt es sich um den Wohnbaum von Gusto Gräser, um
den einzigen Schutz des Obdachlosen, der zugleich ein hymnischer
Sänger des Baumes und des Waldes war.
Sicher hat der Künstler an diesen Bezug gedacht. Er hat
mir ja dieses Foto und andere 2008 anlässlich meines Gusto
Gräser-Vortrags im Münchner ‚Haus des deutschen Ostens‘ übergeben.
Er selbst wohnte, wenn ich mich
recht erinnere, in einem Schäferwagen im Wald bei Freimann oder
Schwabing. Sein Bildwerk ist also zweifellos als ein Gedenken an
Gusto Gräser gedacht, und die abstrahierte Gestalt kann auch als
ein Symbol für den Baumpoeten gesehen werden. Er war es ja, der
den Baum, den Wald retten wollte, der ihn aufrecht hält durch die
Macht seines dichterischen Worts.
Hermann Müller