L'arte come ultima ratio. Hermann Hesse e la „Lebensreform". Verlag Il Cerchio, Rimini 2012Hesses Weg zu Gusto Gräser und zur Lebensreform

Auszüge aus dem Buch von Massimiliano Carminati

An einem Sommertag des Jahres 1906 [richtig: im Frühjahr 1907!] trat Ungewöhnliches in das Leben des deutschen Dichters Hermann Hesse. Wie üblich geschah es auf völlig unerwartete Weise. Es erschien in Gestalt eines bizarren Typs, der auf den Namen Gustav Gräser (1879-1958), genannt Gusto, hörte, ein mittelloser und (im wörtlichen Sinn, d. h. aus Freude) dilettierender Dichter und Maler. Wenn zwei einander Fremde in Berührung kommen, kann Sympathie die Nebel des Misstrauens zerstreuen. Ein solches Gefühl von Gemeinsamkeit und Verwandtschaft muss Hesse empfunden haben, ein instinktives Gespür für die Originalität der Haltung und der Eigenart von Gräser, die nicht nur ein deutlich sichtbares Element von Würde enthielt, viel mehr noch ein Bild des Widerstandes gegen die Korrektheit des üblichen Mittelmaßes und gegen die öffentliche Moral der Zeit. Seine indianische Kleidung verriet schon eine Natur sui generis, einen Geist, der taub war für die Sirenengesänge der Gesellschaft, immun gegen die giftigen Sophismen des Bürgertums; ein freier und unabhängiger Mensch, den Klauen des platten und sterilen städtischen Treibens entkommen; einer, der sich nicht unterordnen konnte, weil begabt mit einer Persönlichkeit, die sich nicht anpasst wie so viele andere, die kein geöltes Rädchen im sozialen Getriebe werden würde. Gräser war ein echter Steppenwolf oder eher noch ein reinkarnierter indischer Samana.

Der Künstler hält sich angesichts der Gewöhnlichkeit seiner Umgebung immer für ein Original, und Hesse hatte damit schon in seiner frühesten Jugend begonnen, als er die kühne Entscheidung traf, entweder „ein Dichter oder nichts“ zu werden. Aber die Originalität des Kollegen Gräser erschöpfte sich nicht in der entschiedenen Extravaganz seiner Kleidung. Dieser Mensch hatte eine unübersteigbare Distanz zwischen sich und den Rest der Welt gesetzt; er hatte sich zu einem Wanderleben entschlossen, zu einem Leben außerhalb des Üblichen; er ließ alle Zivilisation hinter sich und zog in eine Grotte. Als Visitenkarte verteilte er Grashalme, weil im Deutschen „Gräser“ eben Gräser bedeutet; manchmal nannte er sich aus Bescheidenheit auch einfach „Gras“, weil er der Meinung war, dass ein vereinzelter Mensch nicht das Recht habe, sich als Plural zu bezeichnen. Im Europa der Imperien, in einer Epoche, da das pathetische Gebläse des Willens zur Macht durch die Politik der Panzerkreuzer fegte, stellte die Radikalität seines Antikonformismus ein wahnsinniges Wagnis dar, eine Verhöhnung all dessen, was von gebildeten und zivilisierten Menschen angebetet und als gesellschaftlich annehmbar und gut betrachtet wurde.
Die beiden Künstler besprachen sich in aller Länge. Die rebellischen Worte des Dichters schlugen eine Bresche in die anfängliche Neugier von Hesse und verwandelten sie recht schnell in Sympathie und wohl auch in Verehrung. ...
Manche Persönlichkeiten seiner Zeit sahen in ihm (Gräser) die Inkarnation des neuen Menschen, die Erfüllung der Ideale von Nietzsche und Walt Whitman oder einen neuen heiligen Franziskus. ...
Hesse, ergriffen von dem Wunsch nach einer Lebensweise, die der Wirklichkeit neue Farben verleihen würde, bewies seine geistige Verwandtschaft mit Gräser, indem er dessen Einladung annahm, ihm auf den Monte Verita oberhalb von Ascona zu folgen.

Auszüge aus Massimiliano Carminati: L'arte come ultima ratio. Hermann Hesse e la „Lebensreform". Verlag Il Cerchio, Rimini 2012, S. 16-19. Mit zahlreichen, auch farbigen Abbildungen.
Übersetzung ins Deutsche von Hermann Müller.

Kommentar:
Carminati stellt sehr anschaulich vor Augen, welchen Sprung aus der Gesellschaft heraus Gräser getan hat, welche Kluft ihn fortan vom normalen Bürger und seinem Denken trennte. Dieser dramatische Riss kann gar nicht genug hervorgehoben werden. Und doch fehlt der Darstellung des Autors ein wesentliches Moment: das ethische, das christliche, das religiöse. Gräser war nicht einfach ein sozialer Rebell wie zehntausend andere auch. Die nämlich waren meist aufgeladen mit Hass, die bekämpften in der Regel die herrschende Macht mit den Mitteln der Macht, mit Gewalt. Naheliegende Beispiele vom Monte Verita waren etwa Erich Mühsam und Lenin, waren die Anarchisten und die sozialistischen Revolutionäre. Auch ein Ernst Bloch, der den kategorischen Imperativ und die Herrschaft des Messias „mit dem Revolver in der Hand" erzwingen wollte. Nein, Gräser war kein Revoluzzer. Er war einer, der sich „Diener" nannte. Er war einer, der - wie seine Bildtitel von 1899 lauteten - „mit Gott vereint" die „Macht der Liebe" auf Erden ausbreiten wollte. Er hatte die Flugschrift 'Jesus' seines Freundes Anton Losert gelesen, worin, die Worte der Bergpredigt aufnehmend, die Lilien auf dem Felde als Vorbilder aufgestellt und jeder Erwerb und Gebrauch von Geld als teuflisch verworfen wurde. Sein Meister Diefenbach wollte seine Jünger zu „Gottmenschen" erziehen nach dem Vorbild des „Gottmenschen" Jesus. Und Gräsers Praxis bestand darin, sich gleichzustellen mit den Ärmsten der Armen, mit Bettlern und Landstreichern, auch mit Dieben, mit Kriminellen. So nämlich wurde er von den Behörden und von Bürgern oft gesehen und behandelt: nicht einfach als exzentrischer Bohemien oder spleeniger Sonderling sondern als Gesetzesbrecher. Auf die Rückseite seines Gemäldes 'Aufbruch' zeichnete Gräser eine Peitsche, besetzt mit Lederstriemen, deren Enden mit kleinen Herzen bestückt waren. Es ist die Peitsche des Liebeszorns, mit der Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieb. Mithin: sein Sprung aus der Gesellschaft war keine Triebhandlung und keine seelische Verirrung sondern ein religiöser Akt. Freilich verband sich seine ethische Leidenschaft nicht mit einer Abkehr von der gefallenen Welt, nicht mit Jenseitshunger oder Enderwartungen, sondern mit der Hinwendung zum Diesseits, zum Körperlichen und Irdischen. Urchristliches verband sich mit den Idealen der Lebensreform und mit vitalistischem Denken. Erst nachdem Gräser die Erfahrung machen musste, dass gerade die Traditionschristen sein Eigendenken am entschiedensten ablehnten mit ihrem „Was da - wir haben Gottes Wort und basta!", erst dann wurde ihm nach und nach deutlich, dass die weltfeindliche Ideologie des Christentums sich mit der Weltfreundlichkeit der Lebensreformer nicht vereinbaren ließ. Erst jetzt begann er sich mit seiner christlichen Herkunft kritisch auseinanderzusetzen und, Denkern wie Nietzsche oder Lagarde teil-weise folgend, sein eigenes Weltbild zu entwickeln. Aber auch dann blieb es dabei, dass seine religiöse Motivation eine religiöse Antwort finden musste.