Humanitas, Veritas,
Fraternitas
November
1900. Als die Brüder Gräser im Gebiet des Lago Maggiore
nach einem geeigneten Gelände für ihre geplante Siedlung
suchen, hören sie von einer vegetarischen Pension in Monti della
Trinità, auf der Höhe über Locarno. Nichts wie hin!
Hier ist ein Gesinnungsverwandter zu finden.
Die
Verwandtschaft erweist sich als enger denn gedacht. Denn der Inhaber
der Pension ist ein Mitgründer jenes ‘Pythagoräer-Bundes’
von 1884, der dann umbenannt wurde in ‘Internationaler
Bund für konsequente Humanität’,
dann in 'Bund
für volle Menschlichkeit',
kurz auch 'Bruder-Bund'
genannt. (Seit 1885 mit dem Organ Der
Bruder. Zeitschrift des Bundes für volle Menschlichkeit.)
Eine Umbenennung, die nichts anderes besagt, als dass den Beteiligten
das Korsett des Vegetarisch-Leiblichen zu eng erschien für ihre
Gesellschaft. Humanität oder Menschlichkeit umfasst sehr viel
mehr: den ganzen Menschen in jeder seiner Lebensweisen, nicht nur im
Feld der Ernährung. Auch z. B. das Feld des Politischen, auch
Kultur und Religion. Das Wort „international“ ebenso wie
das Wort „Humanität“ setzte diese Vereinigung klar
ab gegen jede Art von nationaler oder konfessioneller Beschränktheit.
Zu
den Gründern hatte der Exoffizier und zeitweise Redakteur des
‚Vorwärts‘
Johannes
Friedrich Guttzeit (1853-1935)
aus
Königsberg gehört und der Berliner Journalist,
Schriftsteller und Lebensreformer Robert
Springer (1816-1885),
Verfasser des Grundlagenwerks ‚Enkarpa.
Culturgeschichte der Menschheit im Lichte der pythagoräischen
Lehre‘.
Dann der Genossenschaftspionier Otto
Rabe (1862-1933)
und eben Max
Engelmann,
ihr jetziger Gastgeber in Monti, der Inhaber der Pension. Mindestens
zwei dieser Gründer waren Gymnasiallehrer gewesen, Kenner des
Griechischen, und wahrscheinlich alle waren humanistisch gebildet.
Daher die Wahl von Worten wie „Humanität“ und
„Humanismus“. Engelmann verfasste auch in Locarno noch
Dramen mit griechischen Göttergestalten.
Er
konnte erzählen – und auch Gusto wird seine Geschichte
erzählt haben. Es stellt sich heraus, dass der Bundesbruder
Guttzeit schon lange vor Gräser ein Mitarbeiter von Diefenbach
gewesen war und diesen – vermutlich – auf den Gedanken
gebracht hatte, seine bislang namenlose Lebensgemeinschaft in
Höllriegelskreuth mit dem Wort „Humanitas“
zu bezeichen. „Humanitas“ – eine Verwirklichung der
Idee, die mit dem ‚Internationalen
Bund für konsequente Humanität‘
(der anscheinend nie so recht gedieh) gemeint gewesen war. Diese
Erinnerung dürfte die im Hause Engelmann versammelten Neusiedler
dazu angeregt haben, ihre eigene Gründung später zwar nicht
mit „Humanitas“ – da dieser Titel schon vergeben
war -, dafür aber mit dem geistverwandten Wort “Veritas“
zu bezeichen, italienisch: „Monte
Verità“.
„Veritas“ gehörte aber auch zu den Symbolwörtern
der Freimaurerorden, zumal der theosophisch angehauchten. Das traf
sich wieder einmal gut.
Warum
und wie aber war der Lebensreformer Max Engelmann aus Berlin gerade
nach Locarno gekommen?
In
Locarno gab es die beiden Theosophen Franz
Hartmann
und Alfredo
Pioda,
die auf den Monesce von Ascona ein theosophisches Laienkloster
errichten wollten. Ihre Gesellschaft von 1889 nannte sich
„Fraternitas“
– was geradezu an den Berliner „Bruder-Bund“ von
1885 erinnert. „Fraternité universelle“ auch hier,
weltumfassende Brüderlichkeit. Für ihre Gemeinschaft auf
dem Berg suchten sie geeignete Kandidaten, und der Lebensreformer Max
Engelmann wird sich als ein solcher gemeldet haben. Nachdem dieses
Vorhaben jedoch mangels genügender Bewerber nicht zustande kam,
wird sich Engelmann eine andere Existenzgrundlage als
Pensionsbetreiber gesucht haben. Jedenfalls kannte er die Pläne
der Theosophen und wusste auch, dass diese bereits Grundstücke
auf dem Hügel über Ascona in Besitz hatten. Nichts lag
näher, als dass er die Neuankömmlinge auf dieses Projekt
aufmerksam machte, es ihnen sozusagen zu Füßen legte. Die
Geschichte, die er erzählte, war ebenso einleuchtend und
verheißend wie die Landschaft, die sich vor ihren Augen
ausbreitete. Die Gäste von Engelmann müssen begeistert
gewesen sein.
Ausschreibung
von Pioda, Locarno 1889
Freimaureremblem
Das
ist noch aus dem Bericht zu spüren, den Ida
Hofmann
Jahre später niedergeschrieben hat. Sie erzählt, die
Gräsers seien ihnen vorausgeeilt, hätten die Gegend um
Ascona entdeckt und ihrer Gruppe, die noch um den Comer See auf Suche
war, geschrieben: „Hier findet man Menschen“, „auch
langhaarige – vegetarische Pensionen u. s. w.“, „kommet
zu uns“ (Hofmann 1906, 15). Weiter:
„Wir
wurden [bei Engelmann] freundlichst empfangen. Die Brüder Gräser
schienen hier schon wie zu Hause. Tagsüber wurden nun, diesmal
gemeinschaftliche Streifungen in die Umgebung Locarno’s
unternommen. Der Abend war meist der musikalischen Unterhaltung im
Kreise der Familie Engelmann gewidmet. Vater Engelmann, eine
schöngeistig angehauchte Natur rezitirte Stellen aus Opern
Wagners und begleitete dazu am Harmonium; eine, unter einem Tisch
angebrachte Lampe verbreitete rotes Dämmerlicht, welches die
Wirkung dieser Vorträge wesentlich erhöhte“ (ebd.).
Auch
in der Verehrung Richard Wagners war man sich also einig, was sich
alsbald in Ortsbenennungen auf dem Gelände des Wahrheitsberges
niederschlagen sollte.
Doch
zurück zu „Humanitas“! Alle Anzeichen sprechen
dafür, dass die Benennung des neuen Siedlungsortes auf die
Bruderschaft jener vier Berliner Inellektuellen zurückgeht, die
ihren ursprünglich vegetarisch-lebensreformerischen Bund zu
einem die ganze Menschheit umfassenden Unternehmen im Sinne
unbegrenzter Aufklärung erweitert hatten. Aufklärend waren
die Schriften von Johannes Guttzeit und seiner Mitstreiter: auf
politischem, auf kulturellem, auf religiösem Gebiet. Auch auf
Monte Verità sollte es nicht nur um leibliche Gesundung gehen,
sondern um „eine freie Entwicklung nach Befreiung strebender
Menschen“ (Hofmann 1906, 3). „Wahrheit und Freiheit in
Denken und Handeln sollten künftig … teuerster Leitstern“
sein (ebd.).
In
diesem Sinne kann der Monte Verità als eine Fortsetzung, ja
als eine konkrete Verwirklichung des Berliner Bruderbundes verstanden
werden. Das Ideal urchristlicher Brüderlichkeit, das Guttzeit
verkündete, seine Ablehnung jeder Art von Herrschaft, wurde dann
von keinem anderen so konsequent in die Tat umgesetzt wie von dem
wandernden Propheten Gusto Gräser.
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Ein
Titel von Guttzeit, eines der wenigen Dokumente, die
die
kurzlebige Existenz des 'Internationalen Bundes für konsequente
Humanität' bestätigen:
Der
konsequente Humanismus, oder der natürliche Weg zu Gesundheit,
Veredlung, Lebensfreude, Gemütsruhe und langem Leben: Internat.
Bund f. konsequente Humanität.
Verteidigt gegen e. großen Pessimisten, nämlich Eduard v.
Hartmann, v. e. kleinen Optimisten, nämlich Johannes Friedereich
Guttzeit. Ein am 25. Nov. 1884 zu Berlin gehaltener Vortrag.
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