Auszüge
aus dem Buch von Heidemarie Hecht, S. 51ff. und 60f.:
Gräser
ist kein Kommunist sondern ein Revolutionär der Seele und des
Herzens.
Friedrich Muck-Lamberty
Am 24.
Juli kommt Gusto Gräser, der wandernde Dichter und Naturphilosoph,
Mitbegründer der alternativen Siedlung Monte Verità, ein Prophet aus
Siebenbürgen, den man vor dem Weltkrieg in ganz Europa kannte.
Nun fällt der Mann mit dem gewaltigen Bart und der malerisehen
Kleidung auch in Naumburg auf. Junge Leute aus der Stadt wandern hinauf
zur Villa am Buchholz, sitzen mit Gräser im Garten und hören seinen
Erzählungen zu.
Muck hat den Freund mit
Sehnsucht erwartet. "Ich freue mich," schreibt er, "daß ein so heiler und
mutige und froher Mensch, der so ganz verwurzelt ist mit Heimatlauge
und Wald, bei uns bleiben will. Dann soll sich hier ein
Strahlenbündel sammeln und dann und wann hinausströmen ins Volk. Alle, die
wirklich jetzt mithelfen können, sollen alles, was sie haben und
verwenden können, dafür einsetzen, dass dieser Gusto Gräser jetzt
hier bleiben kann."31
Welche Hoffnung auf
Neues nach dem Desaster der Leuchtenburg und seinen Folgen! Muck kennt
Gräser seit seiner Zeit in Stuttgart, Jahre vor dem Krieg.
Damals ist er an den Wochenende nicht selten ins nahe
Esslingen gefahren oder die 12 Kilometer gewandert, zu den
Diskussionen im Freundeskreis um Gräser. Inzwischen sieht ihn nicht
nur Muck, sehen ihn auch die anderen Mitglieder der Neuen Schar als
Vorbild und Lehrer. So wie wohl fast alle Propheten eines neuen
Lebens, die zu dieser Zeit predigend durch Deutschland wandern; und
wie er auch für Hermann Hesse ein Lehrer war, als beide in
Monte Verità lebten.
Zeitweilig war Gräser
bei der Wanderung durch Thüringen dabei, auch auf der Leuchtenburg lebt er
mit ihnen. Eines seiner Gedichte stand auf manchen der Handzettel,
die die Schar in den Orten verteilte, bevor sie selbst einzog:
„Bursche, laß was
flattern, wehen,
Tut mir doch nit so gesetzt!
Der „Inflationsheilige“ und Wanderprediger Gusto Gräser
Bissel stürmisch muß
es gehen,
Soll was Freudiges geschehen,
Tut was, was die Leut entsetzt!
Tut nit so vereist!
Glut ist Geist!“
Im Moment allerdings
versucht Lamberty, alles zu vermeiden, „was die Leut entsetzt“. Zu tief
sitzt wohl der Schreck vom Tribunal auf der Leuchtenburg. So kann die
Polizei, die sich dafür zuständig fühlt, dass sich
„ein sittenverderbendes Treiben nicht ausbreitet“, dann
auch beruhigt feststellcn, dass „weibliche Personen ... in einem
gesonderten Raum“ leben; „sittlich scheint keine Gefährdung vorzuliegen“.32
Immerhin wird im Mai 1922 endlich klar, dass er tatsächlich preußischer
Staatsbürger ist. Behörden in Cassel und in Neheim bestätigen das — sein
Vater stammt aus Neheim an der Ruhr, seine Mutter Franziska aus dem
Hessischen, aus Cassel, wo ihr Vater Bürgermeister war, auch letzt
wohnt sie hier, in der Schönfelderstraße 44. Zudem hatten die
Naumburger bereits am 24. Juli 1921 von der Kriminalabteilung Kahla
erfahren: „Gegen Lamberty ist sonst etwas Nachteiliges nicht bekannt
geworden.“
Eine Nachricht, die die
Behörden beruhigt? Wohl kaum. Wie ein Menetekel steht schon bald ein
Ereignis über der gesamten Schar: Am ersten Wbchenendc
im September wird Gusto Gräser verhaftet. Ein Kriminalbeamter dringt
mit einigen Schupoleuten in die Neidschützer Straße 27 ein und nimmt ihn
fest.
Zeitungen der Szene (Der
Zwiespruch, Die Zeitung für Wanderbünde) melden es sofort. Und auch
im Naumburger Tageblatt erscheint am 6. September 1921 eine
Notiz: "Soviel uns bekannt isr, erfolgte die Verhaftung, weil Gräser die
vorgeschriebene polizeiliche Anmeldung seines Auftnhalts unterlassen hat,
wodurch er als gebürtiger R u m ä n e verdächtig geworden ist,
Veranlassung zu Unruhen hervorzurufen." Wohl aus ähnlichen Gründen war er
bereits aus der Schweiz, aus Bayern und aus Baden ausgewiesen worden.
Durch die Tageblatt-Redaktion erfährt man nun in der Stadt, dass
der so ungewöhnlich Mann kein Vagabund ist, sondern ein Dichter. "Er ist
vor dem Kriege von Johannes Schlaf in Weimar als Dichter gewürdiigt
worden." Muck tut gut daran, Gräsers Verhaftung als Warnung aufzufassen.
Noch hat sich Deutschland noch nicht vom Schrecken der Revolution und den
nachrevolutionären Wirren erholt. Überall im Land brodelt es. Das Tageblatt
ist fair genug, die Verteidugung, die Muck schreibt, zu drucken. "Es
dürfte hier ein Irrtum vorliegen," so Muck, "Gräser ist kein Materialist,
somit auch kein Kommunist im Sinne der Russen, sondern ein Revolutionär
der Seele und des Herzens. Lassen wir doch seine eigenen Gedichte und
Sprüche zu uns sprechen ...". Drei Tage später meldet Die Zeitung für
Wanderbünde, dass Gräser "mit einem Transport abgeschoben worden
sein soll. Mit Muck planen sie ja auch einen Schub. Sie haben ihn
ausgefragt, woher er stammt, und da er im Elsass geboren ist, soll weiter
geforscht werden. Sie finden ja sicherlich etwas, denn sie suchen danach."
Mit der Ausweisung Gusto Gräsers sollte Muck
selber getroffen werden und mit ihm seine Neue Schar. Sie überlebte
als Handwerkergemein schaft. Gräser überlebte als Dichter.
Heidemarie
Hecht: »An alle Lebendigen« Friedrich Muck-Lamberty – Ein völkischer
Freigeist. Mit Erinnerungen von Ingo Lamberty, herausgegeben und mit
einem Nachwort versehen von Jens-Fietje Dwars, 172 Seiten,
Taschenbuch, quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2020.