Hermann Hesse und Gusto Gräser

Aus ‚Aussteigen um 1900‘ von B. Mahlmann-Bauer und P. M. Lützeler (Hg.)

  Paul Michael Lützeler über Gusto Gräser

In Die Schuldlosen von 1950 entwirft Broch das Bild eines weiteren Aussteigers: des heilkundigen Imkers als Personifikation einer postkolonialen und post-industriellen Ethik, in der Menschenwürde als „irdisch-absolut“ verteidigt wird. (11)

Der durch Europa vagabundierendes Künstler, Dichter, Einsiedler und Prophet Gusto Gräser gehörte ebenfalls zur Gründergeneration des Monte Verità. Mit seinen Lehren, in denen sich Weisheiten des Fernen Ostens mit christlichen Anschauungen mischten, wurde er zur zentralen Figur der Aussteiger- und Alternativbewegung. Er hatte Einfluss auf Hermann Hesse, dem er in Ascona wiederholt begegnete. In mehreren Dichtungen Hesses – etwa in dem Roman Demian von 1917 – tauchen Figuren und Themen auf, die erkennen lassen, wie stark die Persönlichkeit und die Philosophie von Gusto Gräser auf ihn gewirkt haben. Gräser war der Aussteiger par excellence, und es überrascht nicht, dass die Romane Hesses auf die alternative Bewegung der 1960er und 1970er Jahre besonders in den USA und Japan gewirkt haben. (30f.)

  Barbara Mahlmann-Bauer:

Mit seiner eklektischen Nietzsche-Aneignung beeindruckte Gräser Hermann Hesse. Wie dieser war er Pazifist. Er predigte Gewaltlosigkeit und forderte ein absolutes Tötungsverbot, das sich auf Tiere und Pflanzen mit erstreckte. Polemisch modelte er die Formel „Wille zur Macht“ in den „Willen zur Not“ um, denn das Herrenmenschentum war ihm ein Gräuel. Er wollte statt der Elite der Einsamen einen Bund der Dienenden, der Morgenlandfahrer. (83)

Zarathustras Wiederkehr zeugt vom Wandel der Zarathustra-Lektüre Hesses und Angehöriger seiner Generation. Hesses Nachkriegs-Zarathustra ist mit Laotse, Christus und Buddha eine Symbiose eingegangen. (126)

  Yahya Elsaghe:

Bachofen war und bleibt im Wesentlichen ein glorieux inconnu, mit plötzlichen Ausreißern und unterschiedlich lange intermittierenden Rezeptionsschüben. Für deren einen steht der seinerzeitige [1916-18] Zufluchtsort Hermann Hesses. Hier auf dem Monte Verità wie zuvor in Schwabing half Bachofen einer Aussteiger-bewegung dabei, in ihrem Lebensexperiment auch oder vor allem in sexualibus et eroticis die überkommenen Normen zu liquidieren. (240)

Wie vielleicht schon Hesse bemerkt hat, war Bachofen selber so etwas wie ein Aussteiger, wenn auch von ganz anderer Art als die Bewohner und Bewohner-innen des Monte Verità. (242)

Eine produktive Rezeption [von Bachofen] … lässt sich erst seit jener Krisenzeit nachweisen, da die Hesses nach Ascona kamen. (247)

Der vorderhand einzig zweifelsfrei identifizierbare terminus a quo für Hesses produktive Bachofen-Rezeption liegt im September 1917. … Im September 1917 soll es gewesen sein, als Hesse jenen … Roman niederschrieb …: Demian. (254f.)

Die große Liebe [in Demian] ist eine Magna Mater. Um diese, von den Ein-geweihten Frau Eva genannt, schart sich ein esoterischer Bund, der in sehr Vielem an den Monte Verità erinnert. Sinclair „erinner[]n“ die Esoteriker „oft an […] [s]eine[n] Pistorius“. Auch ihre „Studien“ und „Heilslehre[n]“ sind allesamt ostwärts orientiert …: „Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anhänger des Grafen Tolstoi und allerlei […] Anhänger neuer Sekten, Pfleger indischer Übungen, Pflanzenesser und andere“. … Religionsphänomenologisch gesehen ist der Bund um Frau Eva eine neognostische „Häresie“. (258f.)

Die Morgenlandfahrt. … Gegenstand seiner … fast schon autofiktionalen Erzählung ist oder wird zusehends sein Antagonist  … ein geheimnisvoller Diener und Lastenträger namens Leo, erst in der Schlucht von Morbio Inferiore verschollen (eine Tageswanderung vom Monte Verità entfernt), der sich dann aber als Sendbote vom Hohen Stuhl oder geheimnisvoller Leiter des Ordens entpuppt. Nach der communis opinio der Forschung bearbeitet Hesse damit wie schon mit der Erzählung vom Weltverbesserer sein Verhältnis zur Gemeinschaft des Monte Verità und namentlich seine Schuldgefühle einem ihrer Gründungs-mitglieder gegenüber, Gustav ‚Gusto‘ Gräser, dem Vater aller Aussteiger. (267)

Der erste einschlägige Roman, der mit jenem Kapitel Anfang vom Ende aufhört [Demian], zelebriert diesen Anfang im Zeichen einer Magna Mater und stilisiert dieses Ende folglich zu einem Ende des Patriarchats; und zwar in seiner unmittelbaren oder doch mittelbaren Gegenwart. (279)

  Doren Wohlleben:

… Brochs Wiener Künstler-Freundeskreis der frühen 1910er Jahre: Über seinen Malerfreund Anton Faistauer könnte er auf den künstlerischen Aussteiger ... von Ascona, Gusto Gräser, aufmerksam gemacht worden sein. Letzterer stand als prophetische Erlöserfigur Pate bei Emil Szittyas Monte Verità-Roman, von dem sich wiederum intertextuelle Querver-bindungen zu Hermann Brochs Berg-Roman herstellen lassen. (517)

1910 lud Faistauer Gusto Gräser – mit bürgerlichem Namen Gustav Arthur Gräser [1879-1958) – nach Wien ein, wo Gräser für ein Jahr in den Wiener Künstlerkreisen verkehrte: Gusto Gräser, künstlerischer Aussteiger und in Wien als auffällige Figur und Barfußprophet stadtweit bekannt, galt als Vater der Alternativbewegung und Gandhi des Westens. Hermann Hesse fand in ihm seinen Meister, Thomas Mann verteidigte ihn als Mann reinen Herzens, auch vielen anderen Künstlern der Moderne galt er als inspirierendes Modell alternativen Denkens und Lebens. (518)

Eine weitere verborgene Bindung Hermann Brochs zum Wahrheitsberg … : Ebenfalls im Künstlerkreis von Brochs Freund Faistauer bewegte sich der ungarische Maler, Journalist und Schriftsteller Emil Szittya (1886-1964), dessen Monte Verità-Roman Klaps oder wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt 1924 erschien. … Szittya hielt sich von 1906 bis 1907 [richtig: von 1908 bis 1909; H. M.] auf dem Monte Verità auf und lernte dort Gusto Gräser kennen. Sein expressionistischer Roman, der die Welt als Klapsmühle zeichnet, liest sich wie ein grotesker Gegenentwurf zu Thomas Manns Zauberberg: anti-bürgerlich, wahnhaft, endzeitlich. Dort tritt ebenfalls. wie in Hermann Brochs Verzauberung, ein Worthändler auf … angespielt wird auf den „Wahrheitshügel“ von Ascona. Über diesen Staat heißt es in einer karikaturistischen Café-Szene aus dem Mund eines in „eine orangefarbene Toga“ „phantastisch Gekleideten[n]“. der sich seine Stirn mit einem „Myrtenkranz gepinselt“ hatte: „… In unserem Staat wartet man auf all diejenigen, die sich in anderen Staaten nicht beugen können. In unserem neuen Staat findet die Allseele ein harmonisches Zusammenleben.“ (519f.)

Die prophetischen Erlöserfiguren Hermann Brochs … sind ambivalent: Einerseits begab sich Broch bis kurz vor seinem Tod … auf die Suche nach einem „Gnadenbringer“, der eine „neue Religiosität“ erahnen lässt. Andrerseits war Broch … sensibilisiert für den ideologischen Nährboden falscher Propheten. Sein Bergroman stellte, dies schreibt er seinem Verleger Daniel Brody am 16. 1. 1936 vom Tiroler Bergdorf Mösern aus, wo er sich über ein Jahr lang aufhielt, den „erste[n] religiöse[n] Roman“ dar, „wo das Religiöse nicht im Gottesstreitertum usw. liegt, sondern im Nacherleben“, im – hier lässt sich wieder an den Monte Verità denken -. „Erd- und Mutterkult“ (KW 13/1, 385f.). (521)

Eine derartige Einheit-Allheit, die auf eine noch utopische „Seins-Totalität“ (KW 5, 327) vorausweist und jenseits der Zeit und der Sprache liegt, gelingt neben Vergil einer einzigen weiteren Romanfigur Brochs: dem Imker aus den Schuldlosen. (530)

Der Imker ist naturverbunden und steht in der antiken Tradition bukolischer Hirtengedichte. Vergil als römischer Friedensdichter ist also auch im Imker präsent. Denkt man an die berühmte Ekloge der Bucolica, in der mit der Ankunft eines kleinen Knaben neue Geschlechter ausgerufen werden und das eiserne Zeitalter in ein goldenes umschlägt, ist es nicht verwunderlich, dass sowohl die Vergil- als auch die Imker-Figur in Begleitung eines Kindes auftreten: Wie Lysanias das messianisch hoffnungsvolle „Doch schon“ verkündet, wenn sowohl der Friedensherrscher als auch der Friedensdichter noch daran zweifeln, so ist auch die Ziehtochter des Imkers, Melitta, märchenhaftes Sinnbild einer neuen Zeit. Ihretwegen beginnt der Adoptiv-Vater sogar wieder zu singen. Zugleich ahnt der alternde Imker jedoch – hierin wiederum Vergil vergleichbar – seinen eigenen Tod, der ihn als „Wanderlehrer“ (KW 5, 93) zur rastlosen Wanderschaft nötigt, die ihm seine „Fremdartigkeit“ (KW 5, 92), sein Aussteigertum, erst recht bewusstmacht. Der lyrisch inszenierte Abgang des Imkers – kurz nach dem Tod des Protagonisten A. - wird nicht nur von „Gesang“ begleitet, sondern darüber hinaus von einer eigentümlichen Lichtmetaphorik und Dreieckssymbolik:

Von ungeheurer Wirklichkeit durchflutet strömte dort um die Dreiecks-grenzen das Nicht-Seiende, die Auflösung des Dreidimensionalen. Und getragen von dem blinden Blick der Mitte, eingeflutet in den Blick, umgeben von unsichtbaren Sternen, umkreist von unschaubaren Zentralsonnen, sichtbar das Unsichtbare, klingend die Sterne, flutete es herab, aufgenommen hier von dem Gesang, der nun in unendlich vielen Dimensionen erscholl. (KW 5, 273f.) (531f.)

Während sich der falsche Prophet Ratti selbstherrlich „auf seinem Wissen ausruht“, lehrt der Imker – wie sein lyrisches Vorbild Der Urgefährte (KW 8, 66) – „Entwissen“ (KW 8, 66) und ist sich seines Nichtwissens bewusst: Konsequenterweise verzichtet er am Ende, wie Vergil auch, auf die Sprache und gibt sich ganz dem Klang der Worte, dem „jenseits der Sprache“ (KW 4, 454) hin.  (533f.)