Von Wien nach Ascona
Wege
der
Kulturreform um 1900
Mitten im
vornehmsten Viertel von
Wien … lag unser verborgenes Vegetarierrestaurant …
War doch zu jener Zeit, gegen Ende der
Siebzigerjahre, der Vegetarismus noch kaum bekannt und die Zahl
seiner Anhänger
äußerst gering … Dort hörten wir oder hielten mitunter auch selbst
Vorträge
über die Greuel blutbefleckter Nahrung, über die edle und reine
Lehre der
Pythagoräer und der Neuplatoniker, über die Essener und die
Therapeuten und
über die weltabgewandten Gedanken des Shakya Muni. Immer wieder
schwebte uns
auch jene Vision des Empedokles vor von einem goldenen Zeitalter, da
es bei den
Menschen als der größte Frevel gegolten, „Leben zu rauben und edle
Glieder in
sich hineinzuschlingen“, und mächtig tönte uns der Ruf dieses
gewaltigen
Geistes in die Ohren: „Wollt ihr nicht aufhören mit dem misstönenden
Morden?
Seht Ihr denn nicht, wie Ihr einander selbst zerfleischt in der
Unbedachtheit
Eures Sinnes?“
Es waren
zumeist junge Menschen,
die sich da trafen …
Während ich
selbst, wie einige
meiner nächsten Freunde, nach den Thesen des Pythagoras, Sommer und
Winter
stets ganz in Leinen gekleidet ging, erschienen wieder andere in
naturfarbenen
härenen Gewändern; und wenn man dazunimmt, dass die meisten von uns
bis auf die
Schultern reichendes Haar und Vollbärte trugen, so mochte unser
Mittagstisch
einen unbefangenen Zuschauer wohl irgendwie an das berühmte Gemälde
des
Lionardo gemahnt haben.
In einem
gewissen Gegensatz zu
dieser Pythagoräer-Gruppe stand die andere, mehr rationalistische
der
jugendlichen Sozialisten, die sich dem Vegetarismus vor allem als
einem die
Völker versöhnenden, auf eine bessere Zukunft hinweisenden
Friedensideal
zugewandt hatten.
Friedrich
Eckstein
Gusto
Gräser hatte in
Wien studiert und kam nach Ascona. Franz Hartmann hatte in Wien
experimentiert
und kam nach Locarno. Rudolf Steiner hatte in Wien studiert und kam
ebenfalls
nach Locarno und Ascona. Sie trafen sich – körperlich und/oder im
geistigen
Sinn auf dem Wahrheitsberg, dem Monte Verità.
[Der Arzt und Schriftsteller Franz] Hartmann kannte seit Mitte der 1880er-Jahre den vielseitig gebildeten und esoterisch interessierten Friedrich Eckstein in Wien, dieser hatte die Theosophie bereits früher kennengelernt und war 1884 mit Blavatsky und Olcott in England zusammengetroffen. Hartmann fand hier einen Geistesverwandten und machte ihn, und später auch seine Frau Bertha Diener, neben der Theosophie mit verschiedenen Yogatechniken bekannt. Eckstein wiederum war eng mit Sigmund Freud befreundet, der auf diese Weise die Theosophie und Yoga kennenlernte. Zu Ecksteins Bekanntenkreis gehörte auch der zu dieser Zeit in Wien studierende Rudolf Steiner, der durch diese Quelle erstmals mit der Theosophie intensiv in Berührung kam. Eckstein, bekannt mit zahlreichen „Größen“ der Zeit um die Jahrhundertwende (19./20.), vermittelte seine theosophische Ideen auch u. a. an Anton Bruckner, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Adolf Loos, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Felix Salten, Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Hugo Wolf. Als Eckstein, durch eine von Helena Blavatsky 1886 ausgestellte Stiftungsurkunde ermächtigt, eine Wiener Theosophische Gesellschaft gründete, wurde Hartmann als Präsident gewählt. ....
Karl
Kellner, ein
Wiener
Papier-Industrieller, kam durch Hartmann mit der Theosophie und Yoga
in
Berührung. ... Hartmann, Kellner und Theodor Reuss betätigen sich ab 1902 bei der Verbreitung eines Ritus
ägyptischer Hochgradmaurerei, den
der
englische Okkultist John Yarker durch Zusammenlegung des Memphis- und des Misraim-Ritus
geschaffen hatte.
Wikipedia
Eckstein
war mit
Freud befreundet, und dessen Schüler wurde Otto Gross. Auch er zog
nach Ascona.
Sie alle brachten den Geist von Wien, den Aufbruchsgeist von Wien ins
Tessin,
den Geist der Sezession, den „heiligen Frühling“ der Jugend. Sie
brachten aber
eine bürgerlich-theosophisch-psycho-analytische Version nach Ascona,
die sich
für den Ort als verhängnisvoll erweisen sollte. Karl Kellner und Franz
Hartmann
wurden die Gründer des O. T. O., des Ordenstempels des Ostens.
Die
Wiener Kunstvereinigung
„Secession“ hat sich 1897 gegründet. Sezession heißt Abschneidung,
Abspaltung,
Aussteigen, Austritt. In Wien war sie das ästhetisch-kulturpolitische
Phänomen
einer aufgeklärten Kunst-Bohème, in Ascona wurde sie zu
nüchtern-praktischer
Tat: gelebter Alltag. Lebens-Reform.
Als
der Kunstverein
‚Secession‘ gegründet wurde, war ein echter Aussteiger schon sieben
Jahre in
der Stadt, einer, der die bürgerlichen Normen hinter sich gelassen
hatte und
dies offen zeigte: mit langen Haaren, Kutte und Sandalen. Zwar Maler,
aber
nicht nur Ästhet, auch Prophet: Karl Wilhelm Diefenbach. Er machte in
Wien
Sensation. Nicht nur durch seine Gemälde, nicht nur durch seine
Gewandung: er
wandte sich den Unterdrückten, den Opfern zu. In seinem Gemälde ‚Gretchen‘,
den „gefallenen“,
missbrauchten, verratenen Mädchen gewidmet, erkannten die Frauen Wiens
ihr
eigenes Schicksal wieder. Sie lagen ihm ebenso zu Füßen wie die
Proletarierkinder und Waisen, die er in seine Gemeinschaft aufnahm.
Dass er ein
missbrauchtes, in den Alkoholismus getriebenes Modell von der Straße
auflas und
zu seiner Lebensgefährtin machte,
muss
auch symbolisch verstanden werden.
Darin
unterschied er sich von den „Malerfürsten“, auch von einem Gustav
Klimt, die
sich Modelle quasi als jederzeit verfügbare Prostitutierte hielten.
Mit
Diefenbach wurde der „heilige Frühling“ ernsthaft, praktisch und
religiös.
Warum
genügte dem
Kunstschüler Gusto Gräser, der die Sezession von 1897 hautnah
miterlebte,
dieser Umbruch nicht? Warum ging er zu Diefenbach?
Eben, weil dessen Umbruch tiefer ging und
echter war.
Es
kann keine Frage
sein, dass das Beispiel Diefenbachs die geistige Jugend der Stadt
erschüttern,
ermutigen und beflügeln musste. Erst seit seinem Auftreten von 1890
vollzog
sich voll die künstlerische und wissenschaftliche Revolution. Seine
Schüler
zogen seit 1906 zu den Gräsers nach Ascona: Gustav Schütt, Robin
Christian
Andersen, Anton Faistauer und andere. Sie vollzogen als „Neukünstler"
den
nächsten Schritt. Egon Schiele war mit ihnen befreundet und der
angehende
Schriftsteller Hermann Broch. Broch würde 40 Jahre später in dem
Imker, Sänger,
Wanderlehrer und Propheten Lebrecht Endeguth ein dichterisches
Nachbild von
Gusto Gräser schaffen. Der Wiener Maler Adolf Stocksmayer würde zehn
Jahre
später engster Freund und Mitarbeiter von Gusto Gräser in Ascona
werden. Wie er
würde, nach einem Aufenthalt bei Rudolf Steiner in Dornach, auch
Heinrich
Goesch sich in der Nähe ansiedeln, zunächst in der von grossianischen
Anarchisten gemieteten Waldmühle von Ronco. Eben dieser Otto Gross
hatte ihn
auf den Weg gebracht, wie auch seinen Bruder Paul. Aber während Paul
an den
Erschütterungen seines Weltbilds zerbrach, schuf Heinrich in Ascona
und Dresden
sich einen fruchtbaren Wirkungskreis.
Das progressive
Wien war ein Vor-Ascona, blieb aber in den bürgerlichen Grenzen, die
nur unter
dem Deckmantel der Kunst überschritten wurden. In Ascona fielen die
Verkleidungen weg und es kam zum Vorschein, was eigentlich gemeint
war: eine
„neue Welteinsicht“ (Hermann Broch), ein Neuanfang auf unbebautem
Grund.
Dies
gilt freilich nur für die Brüder Gräser. Die bürgerliche Fraktion des
Monte
Verità, das Sanatorium von Oedenkoven und Hofmann, verfiel 1917 dem O.
T. O.
des Hochstaplers Theodor Reuß und damit dem eigenen Untergang. Die
kommerziell
fundierte und bürgerlich-konventionell gebliebene Wiener Okkult-Bohème
zog die
kommerziell fundierte Version des Monte Verità (Hofmann&
Oedenkoven) mit
sich in den Abgrund.
Hofmann&Oedenkoven
hinterließen ein weithin sichtbares Gebäude und eine
Selbstbeschreibung ihrer
Geschichte, die das öffentliche Bild des Monte Verità bis heute
verfälscht. Der
von ihnen vertriebene Gusto Gräser hinterließ kaum eine Spur am Ort,
umso mehr
Spuren in einer langen Reihe von Dichtungen, die sich von Thomas Mann
und
Hermann Hesse bis zu Gerhart Hauptmann und Hermann Broch erstreckt.
Das realitätsnaheste
und zugleich hellsichtigste Bild des Wahrheitsbergs hat freilich der
vagabundierende Ungar Emil Szittya geschaffen. In seinem Roman ‚Klaps‘
von 1923 erzählt er die
Geschichte des „Wahrheitshügels“ als eine Usurpation durch zwei
großstädtische
Intellektuelle (Otto Gross und Johannes Nohl), die mit einer
Kombination von
Psychoanalyse und Okkultismus auf dem Berg eine Schreckensherrschaft
errichten.
Sie enden im Irrenhaus, nachdem sie den phantastisch gekleideten
„Prediger der
Allseele“ (Gusto Gräser)
ermordet haben.