„Eldorado moderner Geistesrichtungen“

   Das Asconabild der Wiener Moderne

„Samstag kommt Nachmittag Gusto Gras aus Italien, der mich an Freilichttheater denken macht.  Du kommst ja bestimmt…“                             (Anton Faistauer an Andreas Thom, Wien, Sommer 1910)

Ein Blick in alte Aufzeichnungen zeigt: In Wien hatte sich in den Neunziger-jahren vor 1900 (oder schon früher) um den Polyhistor Friedrich Eckstein ein alternatives Milieu gebildet: lebensreformerisch, theosophisch, nietzsche-anisch, feministisch-matriarchal, idealsozialistisch, später auch psycho-ana-lytisch. Verstärkt wurde es durch den Arzt und Schriftsteller Dr. Franz Hartmann, der aus Indien kam, aus dem Indien der Madame Blavatsky. Ecksteins Kreis umfasste in geselliger Form die ganze Bandbreite von Kunst über Philosophie und Lebensreform bis zu  Religion und Politik.

Die Wiener Künstlersalons waren untereinander vernetzt und so verstand sich, dass Broch auch im Haus von Broncia Koller verkehrte. In ihrem Salon in Oberwaltersdorf bei Wien traf man die Vertreter der Sezession und der Avantgarde wie Anton Faistauer, Koloman Moser, Gustav Klimt, Emil Orlik, Egon Schiele und Carl Hofer. (Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und die Moderne. München 2011, S. 125)

In Wien saß man in Tuchfühlung: von Eckstein, Hartmann und Rudolf Steiner bis zu Diefenbach, Bruckner und Sigmund Freud. Eckstein, Steiners Jugend-freund und Esoteriklehrer, war auch mit Freud befreundet, unter-richtete ihn über Yoga.

Broch … begann in jenen Jahren (um1909) am literarischen Leben Wiens teilzunehmen: „Er verkehrte viel im Café Central und im Café Museum“, wo Karl Kraus, Franz Blei, Alfred Polgar, Robert Musil, Franz Werfel, Friedrich Eckstein häufig zu finden waren, „er war besonders befreundet mit dem Maler Anton Faistauer, auch mit Paris Gütersloh und später mit dem Maler Georg Kirsta“. (Manfred Durzak: Hermann Broch. Reinbek bei Hamburg, überarbeitete Neuausgabe 2001, S. 48)

Der liberalsozialistische Politiker und Reichsrat Ferdinand Kronawetter gehörte zum Eckstein-Kreis; er war gleichzeitig Mitglied im Unterstützungsverein für Diefenbach. Auch Peter Altenberg kannte und liebte den „Himmelshof“. Die Grundideen des Ecksteinkreises waren zweifellos mit denen von Diefenbach nah verwandt. Nur hatten die vermögenden Großbürger wenig Neigung zu apostolischer Armut und wenig Mut zu gesellschaftlicher Isolation. Diese Tugenden überließen sie gern vermögenslosen Namenlosen wie Diefenbach und Gräser, die Armut und Bescheidung von Jugend auf gewohnt waren. Von daher bestand eine gesellschaftliche Distanz, die nur wenige zu überschreiten wagten. Sonst hätte man erwarten können, dass ein Eckstein sich auch öffentlich für Diefenbach engagierte. Immerhin: der Riesenerfolg von dessen Ausstellung 1892 kam sicher nicht von ungefähr, war nicht allein der Propaganda des Kunstvereinsdirektors und dem Sensationellen von Diefenbachs Auftreten geschuldet. Die fortschrittlichen Kreise in Wien müssen in Diefenbach ihren künstlerischen Heros und Herold gesehen haben. Dafür spricht u. a. das Zeugnis der Schriftstellerin Marie Knitschke und von anderen Feministinnen, die sich dem exzentrischen Maler als einem „Erlöser der Frauen“ verehrend zu Füßen warfen.

Aus diesem Kreis führt ein gerader Weg nach Ascona. Möglicherweise wurde Franz Hartmanns Idee eines buddhistischen Laienklosters schon in Wien gefasst. Wohl möglich, dass Hartmann eben darum nach Locarno übergesiedelt ist, um im milden Klima des Tessin, zusammen mit Alfred Pioda, das Klosterprojekt zu verwirklichen. Als dann die anderen Siedler kamen, die echteren Lebensreformer, wurde er ein einflussreicher Berater speziell für die Gräser-Fraktion. Lotte Hattemer geriet völlig und bis zum Exzess in den Bann seiner Ideen. Und auch die Gräserbrüder blieben nicht unberührt, auch wenn sie sich später reaktiv gegen die Theosophie abgrenzten. Friedrich Brepohl, ein Schwager von Ida Hofmann und zugleich Schwager von Karl Gräser (er  war mit der Hofmann-Schwester Lilly verheiratet), betrieb in Locarno eine theosophische Buchhandlung, die auch Hermann Hesse frequentierte. Brepohl, Hartmann und Pioda versorgten die Monteveritaner mit theosophischer Literatur, durchtränkten den Berg mit ihren Ideen bis zu dem Grade, dass der mit Hartmann verbundene O.T.O.-Gründer Theodor Reuß um 1916 die geistige Herrschaft über den Berg erringen konnte.

Gleichzeitig gab es eine künstlerische Linie, die mit den Malern Schütt, Andersen und Faistauer aus Wien nach Ascona-Arcegno führte. Auch diese Leute waren, nach Szittya, sowohl von theosophischen wie von diefen-bachischen Ideen beeinflusst, brachten sie mit nach Ascona zu Karl Gräser und trugen sie bestärkt nach Wien zurück in den Kreis der Neukünstler.

Es ist klar, dass Gräsers Auftreten in Wien 1910 – eine Jesusgestalt mit Frau und fünf Kindern! – allgemeines Aufsehen erregen musste. Zumal Gräser werbend und seine Spruchkarten anbietend sich regelmäßig auf die Marktplätze und andere Zentren der Stadt begab, unübersehbar durch seine schockierende Gewandung und seine Körpergröße. Dass wir darüber kaum Zeugnisse haben, liegt nur daran, dass diese Thematik bisher unerforscht geblieben ist. Es muss Zeitungsartikel und auch Polizeiprotokolle sowie standesamtliche Dokumente (Geburt von Gräsers Tochter in Wien!) gegeben haben.

Kurz: Was in Wien reflektiert, erforscht und diskutiert wurde – in Ascona wurde es zur Tat. Die Leitfiguren der Alternativen – Diefenbach, Nietzsche, Darwin, Tolstoi, Kropotkin, Blavatsky -, sie bündelten sich in der Person des Siebenbürgers.  Was Gräser dem Wiener Ideen-Grundstock hinzufügte, war vor allem Eines: der Taoismus des Laotse. Der weise Chinese hat den missionarischen Eifer der Vegetarier-Lebensreformer umgelenkt und gemildert zu heiter-zornigem Gelten- und Gewährenlassen. Das Tao hat Gräser vor der Gefahr des Fanatismus und des Sektiererischen bewahrt, hat ihn ermutigt zu Humor und ihm zugleich einen Denkweg eröffnet, der über den europäischen Provinzialismus und den christlich-antiken Dualismus hinausführte. Mit Laotse war die Möglichkeit gegeben, den lebensreformerischen Ansatz auf philo-sophische Höhen zu heben. Bis dahin waren den „Vegetabilisten“ lediglich Pythagoras und die Essener als mythische Vorbilder zur Verfügung gestanden – sie nannten sich „Pythagoräer“, Johannes Guttzeit gründete einen „Pythagoräer-Bund“ -, hehre Gestalten, deren Denken höchst lückenhaft und eher nebelhaft überliefert ist, dazuhin judaistisch-antikisch infiziert. Nun bot sich ein jahrhundertealtes Denksystem auf ganz anderer weltanschaulicher, nämlich weltbejahender Grundlage. Auf diesem Grunde ließ sich bauen, auf diesem Grunde hat Gräser gebaut, Westliches und Östliches verschmelzend. Diese Synthese, praktisch und theoretisch durchexerziert, ist es, die Gusto Gräser vom Gros nicht nur der Lebensreformer, auch vom Gros der Zeitgenossen überhaupt, abhebt und auszeichnet. In dieser Ausweitung der geistigen Kampfzone lag auch seine Bedeutung für den Monte Verità begründet,  für dessen Anziehungskraft auf so viele und so verschiedenartige Geister.

Das neuere, das radikalere Wien – was Lebensweise und ideelle Anstiftung betrifft – wurde in Ascona gebaut. Neo-Wien strahlte auf Alt-Wien zurück und trug bei zu dessen enormer Kreativität. Auch zu dessen Widerstand: Im ‚Bergroman‘ von Hermann Broch haben wir vor uns liegen eine kritisch-produktive Auseinandersetzung mit jenem hinlänglich bekannten „Wander-prediger einer abstinenten Sekte mit kommunistischem Einschlag“ (Broch).

Nachbemerkung: Es gab um 1904 Zeitungsberichte in Wien, Diefenbach habe sich auf dem Monte Verità niedergelassen. Man verwechselte wohl Gräser mit seinem Ziehvater. Dass darüber ausführlich berichtet wurde, zeigt an, dass man in Wien den Wahrheitsberg aufmerksam beobachtete – und zugleich das Bild des seit Jahren verschwundenen Diefenbach immer noch vor Augen hatte. Nicht von ungefähr suchte im Jahre 1904 der aus Wien kommende Maler Adolf Stocksmayer „das Eldorado der Abenteurer und besonders neuer Geistes-richtungen“ in Ascona. Er schrieb dies am 30. Dezember 1904 aus Locarno, noch bevor er den Berg betreten hatte. Stocksmayer trug dieses Bild von Wien her in seinem Kopf.

Siehe die Ausstellung über ihn, die am 30.März 2014 in Überlingen eröffnet wurde: http://www.hirtheengel.de/kommunikation/publicrelations/aktuell/suchenachdemeldoradoadolfstocksmayr.php