Aus: RevierPassagen

Frei und radikal – Dortmunds gewichtige Beiträge zur Vagabundenliteratur


Publiziert am 24. August 2015 von Gastautorin / Gastautor

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zur Geschichte der Vagabundenliteratur in der Weimarer Republik:
In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock.

(Foto: Helfmann – Creative Commons / Wikimedia-Lizenz:  https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)



Gregor Gog wurde am 7. November 1891 in Schwerin an der Warthe als Sohn eines Zimmermanns geboren. Mit 18 Jahren meldete er sich freiwillig zur Kriegsmarine, verließ sie 1913 wieder und arbeitete zunächst als Gärtner in Pforzheim. Zu Kriegsbeginn wurde er wiederum eingezogen und 1917 als dauernd kriegsuntauglich aus der Marine entlassen. Während dieser Zeit musste er zweimal wegen antimilitaristischer Propaganda und Anstiftung zur Meuterei vor dem Kriegsgericht erscheinen. 1923 lernte Gregor Gog in Stuttgart die Kinderbuchautorin Anni Geiger kennen. Im April 1924 entschlossen sie sich, mit einer Gruppe von Lebensreformern, Abenteurern und Siedlern nach Brasilien auszuwandern. Nach der Rückkehr aus Brasilien lebte er als freier Schriftsteller und schrieb Beiträge für den „Anarchist“ und den „Syndikalist“, bevorzugt Aphorismen und kurze philosophische Traktate. 1927 wurde er Schriftleiter des „Kunden“, der „Zeit- und Streitschrift der Vagabunden“. Zudem initiierte er die „Bruderschaft der Vagabunden“, die er nicht nur als sozialpolitische Bewegung, sondern auch als Sammlungsbewegung der Künstler von der Landstraße verstand. 1930 wurde die Veröffentlichung des „Kunden“ eingestellt.1933 gab Gog erneut eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Vagabund“ heraus. Im April 1933 wurden Anni Geiger-Gog und Gregor Gog von der Geheimen Staatspolizei verhaftet. 1934 emigrierte Gog in die Sowjetunion. Nach Aufenthalten in Moskau, Ferghana (Usbekistan) und Taschkent erlag er am 8. Oktober 1945 in einem Taschkenter Sanatorium einem schweren Nierenleiden.
(Quelle: Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren – 1750-1950)

 

Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und „Tippelbrüder“ fanden sich zum „Ersten internationalen Vagabundenkongress“ auf dem Killesberg ein.

Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68-er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise inzwischen über 450.000 Obdachlose gab.

Keine Bindung, kein System

In teils pathetischen, teils sachlichen Reden wurde nicht etwa die Not der Obdachlosen beschrieben und angeklagt, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität, ihr Ja dagegen bedeutete Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne.

Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Die grenzüberschreitende Freiheit der Tippelbrüder, ihr Internationalismus also, stand gegen übersteigertes nationales Denken, dessen Gefährlichkeit sich bald zeigen sollte.

Grußtelegramme von Hamsun und Sinclair Lewis

Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne. Es war ein Höhepunkt einer sozialen und künstlerischen Bewegung, die heute leider völlig zu Unrecht weitgehend vergessen ist.

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher den „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und mit ihm eine literarisch-künstlerische Zeitschrift, die „Der Kunde“ hieß. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Etwa viermal im Jahr erschien diese Zeitschrift und enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

Selbst Hermann Hesse hat im „Kunden“ veröffentlicht, dessen „Knulp“ ja auch eine Vagabundengeschichte ist, freilich eine ohne soziale Einbettung, die für die Künstler um Gregor Gog aber typisch war. Gog tritt darin vor allem als Aphoristiker hervor: „Ob der liebe Gott den Betenden auch nur Kupfermünzen in den Hut wirft?“

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind da nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

Hans Tombrock, ein Künstler aus Dortmund

Wichtig aus dem Kreis um Gog war der Dortmunder Maler Hans Tombrock, der später vor den Nazis fliehen musste, nach Schweden kam, dort Brecht kennen lernte und mit ihm Freundschaft schloss. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft (u.a. auf dem Balkan) entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann.

Auch in Peter Weiß´ „Ästhetik des Widerstands“ taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Er hätte viel mehr Beachtung verdient, neulich aber wurde er in einer Ausstellung in den neuen Bundesländern endlich mal wieder gewürdigt. Tombrock schrieb auch kleine Erzählungen für den „Kunden“, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Tombrock ist eine Zeitlang sein Dortmunder Freund, der Lyriker Paul Polte gewandert. Polte war später Mitglied in allen Gruppierungen der Arbeiterliteratur (BPRS, Gruppe 61, Werkkreis) und eine Art proletarischer Erich Kästner, der Zeit seines Lebens (die Monate der Wanderschaft ausgenommen) im Dortmunder Norden lebte, wo er in bester Luthertradition dem einfachen Volk aufs Maul schaute.

Wertvolles Material im Fritz-Hüser-Institut

Überhaupt spielten Künstler aus Dortmund eine beachtenswerte Rolle in der Vagabundenbewegung, die Maler Hans Bönnighausen, Hans Kreutzberger und Fritz Andreas Schubert kamen aus dieser Stadt. So ist es kein Wunder, dass das wohl umfangsreichste Material zur Vagabundenliteratur im dortigen „Fritz-Hüser-Institut“ lagert. Eine Wand des Instituts ist behängt mit Bildern von Tombrock.

Artur Streiter aus Berlin, Maler und Schriftsteller, muss noch erwähnt werden, weil er in seiner Berliner Zeit den Bezug zwischen Vagabundendasein und Boheme herstellte. Der Vagabund als die radikalste Form der Boheme, so hat er sich und seine Kampfgefährten verstanden. Auch der Lyriker Hugo Sonnenschein, der sich „Sonka“ nannte, hat literaturgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er ist in fast jeder Nummer des „Kunden“ vertreten.

Die Vagabunden sind nicht immer „auf der Platte“ geblieben. Wenn sie sesshaft wurden, haben sie – wie Streiter – oft in anarchosyndikalistischer Tradition neue Lebensformen in Kommunen gesucht. Streiter gründete die Siedlung „im roten Luch“ östlich von Berlin.

Nazis verfolgten die Vagabunden als „Volksschädlinge“

Gregor Gog nahm eine andere Entwicklung. Nach einem längeren Besuch in der Sowjetunion schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, verlor das Interesse an den Landstreichern und kämpfte nun den Kampf um die soziale Besserstellung der Arbeiterklasse. Sichtbares Zeichen ist die Umbenennung seiner Zeitschrift, die nicht mehr „Der Kunde“ hieß sondern „Der Vagabund“.

Mit Machtergreifung der Nazis wurden die Vagabunden sofort als „Volksschädlinge“ bekämpft. Schon im September 1933 führten die Nazis eine „Bettlerrazzia“ durch und verhafteten tausende Vagabunden, auch Gregor Gog. Tombruck emigrierte, sein Freund Polte wollte Dortmund nicht verlassen und fand sich prompt in der „Steinwache“ wieder, dem berüchtigten Gestapogefängnis.

Nach seiner Freilassung wegen schwerer Krankheit (Rückenwirbeltuberkulose) konnte Gog durch Vermittlung von Johannes R. Becher in die Sowjetunion fliehen, den Krieg überleben, danach aber nicht mehr zurückkehren. Nach schwerer Krankheit ist er 1945, gerade mal 54 Jahre alt, in Taschkent gestorben.

Wer die Geschichte der Vagabunden und ihrer Kunst kennt, wird die aufblühenden Obdachlosenzeitungen heute vielleicht in einem anderen Licht sehen. Spannende, auch bedrückende Sozialreportagen kann man dort finden und auch interessante Buchbesprechungen, oft aus ganz anderem Blickwinkel als bei bürgerlichen Feuilletons. Mit dieser Tradition im Hinterkopf kann es nicht mehr allein Mitleid sein, das zum Kauf anregt, sondern – sehr viel besser – eine gehörige Portion Respekt.

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Blick in die „Kommune am Grünen Weg“ in Bad Urach um 1923: In der Mitte der Zinnschmied Karl Raichle, ganz links der Dichter Johannes R. Becher, ganz rechts der Rechtsanwalt und Christrevolutionär Dr. Alfred Daniel, am Boden sitzend rechts der sozialkritische Maler Max Ackermann.

Stuttgarter Zeitung, 23. 5. 2019
Beitrag zum Jahrestag! PR-Coup mit Tippelbrüdern

Geschichte. Ende Mai 1929 löst ein Kongress für Vagabunden in Stuttgart große Aufregung aus. Torsten Schöll

Stuttgart. Ein Garten auf dem Killesberg, darin ein einfaches Holzhaus mit kleiner Veranda, drumherum eine Wiese und ein Wäldchen. Fünf Minuten von der Kunstgewerbeschule entfernt soll der Ort gelegen haben, an dem sich vom 21. bis 23. Mai 1929 hunderte Menschen zum ersten Vagabundenkongress versammelt haben. Das Wetter meint es gut mit den Männern und wenigen Frauen, die hier im Freien unter Bäumen zusammentreffen. Es ist warm und trocken. 500 könnten es gewesen sein, so zählt der Organisator des Treffens, Gregor Gog. Ein Polizeibericht spricht von etwa 300 Teilnehmern. Schon damals wurde mit Zahlen Politik gemacht. Gog, Seemann, Gärtner, Dichter, Anarchist und Gründer der in Stuttgart ausgerufenen Bruderschaft der Vagabunden, war eh der Meinung, dass es nicht auf die Masse, sondern auf den einzelnen „Schicksalsmenschen“ ankomme.

Gog, der damals mit seiner Frau, der Autorin Anni Geiger-Gog, in einem selbstgezimmerten Holzhaus im Betzengaiern in Stuttgart-Sonnenberg lebt, war mit dem Vagabundtreffen in Stuttgart ein PR-Coup gelungen. Denn auch wenn seine viel zitierte Behauptung, 500 Zeitungen weltweit hätten von dem Ereignis berichtet, natürlich niemand nachprüfen konnte, so fanden sich an diesen drei Tagen vor genau 90 Jahren tatsächlich Reporter und Fotografen aus ganz Deutschland auf dem Killesberg ein, um vom ersten Internationalen Vagabundenkongress zu berichten. Die Schriftsteller Maxim Gorki, Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußbotschaften nach Stuttgart. Die angekündigten 2000 „Tippelbrüder aus ganz Europa“ kamen dennoch nicht. Gog behauptet später: weil die Stadt das Gerücht gestreut hatte, das Treffen finde nicht statt. Was die Polizei wiederum als „frei erfunden“ bezeichnet. So viel steht aber fest: Die Stuttgarter Behörden hatten vor dem Kongress mit Sorge von dem Vorhaben Kenntnis genommen, weshalb das Presseamt die Zeitungen vorab informiert hatte, „die Stadtverwaltung wünsche nicht, dass vor den Treffen die Öffentlichkeit auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht wird“. Stadtamtmann Schöck warnte in einer Korrespondenz mit der Polizeibehörde eindringlich davor, dass „die Stadt Stuttgart in den Ruf eines Sitzes der Vagabunden-Organisation kommt“. Von Seiten des Stuttgarter Polizeipräsidiums nahm sich der spätere württembergische Gestapo-Chef und Massenmörder Friedrich Mußgay der Sache an, der zu dieser Zeit schon den Ruf eines „Kommunistenjägers“ hatte.

Die Vagabunden, die von den Fotografen im Freidenkergarten abgelichtet wurden, als seien sie eine exotische Spezies, waren in der Mehrheit auffallend bürgerlich gekleidet. Ein Fotograf setzte eine Wiener Familie ins Bild, Frau, Mann und Kind im Gras ruhend, die vor dem „Impfzwang mit Ochsenblut“ auf die Landstraße geflohen war. Auch der langbärtige Naturapostel und Prophet Gusto Gräser, einer der Mitbegründer der Lebensreform-Kolonie Monte Verita bei Ascona, ist ein gesuchtes Motiv für die bürgerliche Presse. Echte sogenannte Tippelbrüder, die das Leben auf der Landstraße gezeichnet hat, finden sich nur vereinzelt.

Es werden Interviews gegeben, die Reden von Stenografen mitgeschrieben. Nach dem ersten Tag gibt das Stuttgarter Neue Tagblatt Entwarnung: „Kurze Hosen, lange Haare“, heißt es in einem knappen Beitrag des Blatts am 22. Mai. Was sich auf der Höhe über Stuttgart abspiele sei „ein Meeting von Wandervögeln und Naturmenschen“.

Doch auch wenn das Vagabundentreffen in Stuttgart vor allem eine Zusammenkunft von Freidenkern, Literaten, Philosophen und vor allem Neugierigen war: Die Not derer, die Ende der 1920er Jahre in Deutschland auf der Straße leben mussten, war groß und wurde stetig größer. „Zeitgenössische Schätzungen der Wanderer, die während der Weltwirtschaftskrise reichsweit unterwegs waren, reichten von 200 000 bis zu zwei Millionen“, schreibt Beate Althammer in ihrem Buch „Vagabunden“. Der 1891 in Schwerin geborene Gregor Gog, der in Stuttgart auch die Vagabunden-Zeitschrift „Der Kunde“ herausbrachte, war zur Zeit des Treffens auf dem Killesberg noch kein Sozialreformer. Das Vagabundische als Lebensform anzustreben, war für Gog vielmehr eine radikale Form des Widerstands: „Generalstreik das Leben lang!“ war sein Credo. Nur dadurch sei es möglich, „die kapitalistische, christliche, kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen“, sagte er in seiner Rede auf dem Killesberg. Das kam in manchen sozialrevolutionär gestimmten Teilen der Stuttgarter Gesellschaft gut an. Zumal Gog sich betont unparteiisch gab: „Zu einem Ableger der KPD geben wir uns nicht her“, sagte Gog noch 1929.

Doch letztlich verhallt der radikale Aufruf „lieber zu verrecken, als diese Welt noch länger zu stützen“. Zum Abschluss des Kongresses findet gegen die Widerstände der Behörden eine Radiosendung im Süddeutschen Rundfunk statt. Gogs Versprechen, dass der Vagabundenkongress im kommenden Jahr in Stuttgart erneut stattfinde, bleibt uneingelöst. Noch 1929 entzieht er sich einer Gefängnisstrafe und verlässt Stuttgart Richtung Berlin, nimmt dann an Dreharbeiten zu dem Film „Der Vagabund“ in Wien teil und reist schließlich vorübergehend nach Moskau, wo er doch noch zum überzeugten Kommunisten wird. Der Vagabundenkongress wird nie wiederholt, auch ein später Versuch im Jahr 1981 scheitert. Gog und seine Frau werden 1933 von der Gestapo verhaftet. In der KZ-Haft erkrankt er an Wirbelsäulentuberkulose, von der er sich nicht mehr vollständig erholen wird. Er stirbt 1945 im sowjetischen Exil in Taschkent.

Kommentar zum Artikel von Torsten Schöll in der Stuttgarter Zeitung vom 23. Mai 2019:

Dank für den kenntnisreichen und genauen Artikel von Torsten Schöll zum Stuttgarter Vagabundentreffen von 1929! Was der Verfasser nicht zu wissen scheint: Gusto Gräser war nicht  zufällig ein Gast dieser Veranstaltung sondern ihr geheimer Motivator und geistiger Vater. Nach der Niederschlagung der Revolution in München, wo er vergeblich zu Gewaltlosigkeit gemahnt hatte, war der wandernde Dichterprophet 1919 nach Urach gekommen, wo drei rebellische Matrosen sich niedergelassen hatten: Theodor Plievier, Karl Raichle und Gregor Gog. Gog und seine Kameraden hatten gemeutert, Gusto Gräser und sein Freund Alfred Daniel, ein Stuttgarter Rechtsanwalt, hatten den Kriegsdienst von vornherein verweigert. Sie folgten keiner Partei, keiner Ideologie, sondern spontan ihrem Gewissen. Alle fünf waren sie Opfer der deutschen Kriegsjustiz geworden. Das verband sie. Gusto Gräser, der schon 1900 die Aussteigerkolonie Monte Verità bei Ascona gegründet hatte, wurde ihr Vorbild. Plievier wandelte sich zum Wanderpropheten in Kutte und Sandalen; Gregor Gog und Alfred Daniel gründeten die „Christrevolutionäre Bewegung“, die sich am Urchristentum, an Kierkegaard und Gusto Gräser orientierte. Während Daniel, der Intellektuelle, sich literarisch betätigte, wandte sich Gog, von Beruf Gärtner, den Arbeitslosen und Vagabunden zu. Und so wie der besitzlose Wanderer Gusto Gräser 1920 den Zug der singenden und tanzenden „Neuen Schar“ durch Thüringen inspiriert hatte, einen Festzug und Protestzug der Wandervögel, an dem Zehntausende sich beteiligten, so wollte Gog die Arbeitslosen und Vagabunden mit einer höheren Zielsetzung inspirieren: sie, die besitzlosen Wanderer, sollten als geistrevolutionärer Vortrupp die kapitalistisch, autoritär und militaristisch geprägte Gesellschaft verändern. Von daher der starke Einschlag von Wandervögeln und idealistischen „Natur-menschen“ in dieser Versammlung. Als Gog mit seinem Treffen keinen durchschlagenden Erfolg hatte, zum Teil auch, weil von den Behörden behindert, wandte er sich mehr und mehr der kommunistischen Richtung zu. Er starb folgerichtig im sowjetischen Exil. Gusto Gräser aber kehrte 1931 und 1942 nach Stuttgart zurück, wo sein Bruder Ernst ein hochangesehener Maler war. Sein dichterisches Vermächtnis widmete er 1956 der Stadt Stuttgart und den Schwaben. Er nannte es „Brieflein Wunderbar“.

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