Die
Pädagogik
Tolstois
4.
Dezember
2014
Michael
Lausberg
Allgemein,
Feuilleton
0
Tolstoi
erbte
das Landgut Jasnaja Poljana im Alter von 18 Jahren. Zu dem Gut
gehörten damals über 1800 Hektar Land, fünf Dörfer
und 300 Leibeigene, worunter Männer im arbeitsfähigen Alter
gezählt wurden. Er wurde in Jasnaja Poljana in einem schlichten
Grab beerdigt Das Gut ist heute ein vielbesuchtes Museum, das seit
1921 existiert. Seine Hauptwerke Krieg
und Frieden
und Anna
Karenina, die
Tolstois literarischen Weltruhm begründeten, schrieb er auf dem
Landgut. Die politisch-soziale Situation in Russland war durch die
Entstehung eines Industrieproletariats in den großen Städten
wie Moskau oder St. Petersburg und auf dem Lande durch Armut und ein
Fortbestehen feudaler Herrschaftsverhältnisse geprägt. Es
fand eine Vielzahl von Bauernaufständen statt, die sich gegen
die zaristische Repression auflehnten. Insbesondere für die
ärmeren Schichten der russischen Bevölkerung forderte
Tolstoi den Zugang zur Bildung. Er gründete 1849 im Alter von 21
Jahren die erste Bauernschule auf diesem Gut, die jedoch keine zwei
Jahre nach ihrer Eröffnung wieder schließen musste. Die
mangelhafte finanzielle Absicherung begleitete das Projekt Tolstois
von Anfang an. Seine Bauernschule in Jasnaja Poljana galt als Ort
der
selbsttätigen, freiwilligen und alltagsorientierten Bildung.[1]
Sein
widerwilliger
Eintritt in die russische Armee 1851, wo er am
Kauskasus- und am Krimkrieg teilnahm, bedeutete die Hinwendung
Tolstois zu einer antimilitaristischen Überzeugung. Es gab
freundschaftliche Kontakte und einen Briefwechsel zwischen Tolstoi
und Mahatma Ghandi und dessen Widerstandsbewegung im von
Großbritannien kolonisierten und ausgebeuteten Indien. Gemäß
der reinen christlichen Lehre wandte er sich nun gegen Krieg und
Militarismus, Feudalismus, gegen Leibeigentum sowie gegen die Kirche
und ihre Dogmen. Nach dem Kriegsdienst kehrte er auf sein Landgut
zurück und gab den Leibeigenen 1856 die Freiheit. Das war eine
mutige Tat, denn die Leibeigenschaft in Russland endete erst 1861,
in
Wirklichkeit erst viel später.
Tolstoi
entwickelte
eine Abneigung gegenüber der rituellen Form der
Religiosität wie es in der russisch-orthodoxen Kirche damals
üblich war. Seine ideologischen Überzeugungen orientierten
sich am Urchristentum, das die starren Regeln und Dogmen der
russisch-orthodoxen Kirche ablehnte. Das Urchristentum bezeichnet
die
Anfangsjahre des Christentums, die vom Jesus von Nazareth bis zur
Abfassung der letzten urchristlichen Schriften reicht (30–ca.
100). Tolstoi orientierte sich besonders an der Jerusalemer
Urgemeinde und die als normatives Wort Gottes im Neuen Testament
gesammelten Schriften und am Gebot der
Nächstenliebe.[2]Ausgangspunkt
für seine Kritik an Gesellschaft und Kirche war die
„Bergpredigt“ aus dem Neuen Testament. In seinem Werk
„Das Himmelreich in Euch“ aus dem Jahre 1893 entwickelte
er seine grundlegenden christlichen Überzeugungen und deren
politischen und gesellschaftlichen Folgen. Er übersetzte
ebenfalls die Evangelien erneut ins Russische
Aus
Gründen
persönlicher pädagogischer Weiterbildung
bereiste er 1857 und 1860/61 westeuropäische Länder. Dabei
besuchte er Künstler wie Charles Dickens oder Iwan Sergejewitsch
Turgenew und Pädagogen wie Adolph Diesterweg. Tolstoi übernahm
Diesterwegs Ansätze der Anschauung und Selbsttätigkeit als
didaktische Grundsätze und die Ideen der Volksschule als
Lehranstalt für die arbeitenden Klassen. Außerdem war
Tolstoi von Diesterwegs Ziel der Heranbildung eines mündigen und
kritischen Bürger durch Bildung angetan, was im krassen
Gegensatz zum despotischen zaristischen Russland seiner Zeit stand.
Negative Eindrücke erhielt er bei der Hospitation in Preußen
an einigen Schulen und Kindergärten. Tolstoi bemerkte: „Außer
der abstumpfenden Wirkung der Schule, für die der Deutsche das
schöne Wort ‚verdummen‘ hat, und die in einer
dauernden Verkrüppelung der geistigen Fähigkeiten besteht,
gibt es noch eine andere viel schädlichere Wirkung, die darin
besteht, daß das Kind im Laufe von mehreren Stunden, durch das
Schulleben stumpf gemacht, täglich während dieser Zeit, die
für das Lebensalter so kostbar ist, aus jenen Lebensbedingungen
herausgerissen wird, die die Natur selbst für seine Entwicklung
vorbestimmt hat.“ [3] Nach seiner Rückkehr bemerkte er
außerdem, „daß die einzige Grundlage der Erziehung
die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“.[4]
Bildung interpretierte er als Begegnung von Menschen zum Zweck der
Emanzipation.[5]
Im
Jahre
1859 gründete er auf seinem Gut erneut eine Bauernschule,
die bis 1862 von ihm geleitet wurde. Zwischen 1859 und 1862 kam es
zur Gründung weiterer 20 dieser Schulen. Der Zeitraum von 1859
bis 1863 gilt heute als die Phase seiner intensivsten Beschäftigung
mit pädagogischen Fragen. Daneben gab er auch eine eigene
pädagogische Zeitschrift heraus, die von 1862 bis 1863 in zwölf
Ausgaben erschien. Sie diente der Verbreitung seiner Erziehungs- und
Bildungskonzeption und sollte im despotischen Rußland eine
Reformdiskussion innerhalb des staatlichen Erziehungswesens
darstellen. 1862 wurden seine Schulen durch die Staatsgewalt
geschlossen. Dies wurde damit begründet, sie seien „ein
Hort von Anarchie, Negation und Chaos“.[6] Tolstoi wurde
außerdem einer angeblichen Verschwörung gegen den Zaren
beschuldigt, was einen Vorwand darstellte, sein Wohnhaus sowie seine
Schule zu durchsuchen und zu verwüsten. 1863 zog sich Tolstoi
daraufhin aus der pädagogischen Arbeit zurück und
konzentrierte sich wieder verstärkt auf seine literarischen
Werke.[7] Der dritte Versuch, die „Universität der
Bastschuhe“, eine höhere Schule für die Bauernschaft,
scheiterte an den fehlenden Finanzen.
In
seiner pädagogischen Theorie ging Tolstoi davon aus, dass die
frühkindliche Erziehung hauptverantwortlich dafür ist, wie
sich Menschen im späteren Leben in ihrem Charakter entwickeln
würden. Sein Wille, die Gesellschaft zu verändern, wurde
für ihn vor allem eine Frage der künftigen Erziehung. Er
ging davon aus, dass Kinder ein im Vergleich zu Erwachsenen viel
stärker von „Bildern“, „Farben“ und
„Tönen“ geprägtes unterbewusstes Denken
besäßen.
Tolstoi wurde inspiriert von Jean-Jacques
Rousseaus pädagogisches Werk „Emile oder über die
Erziehung“. Besonders der weitgehende Verzicht der Autorität
gegenüber den Schülern und das Erfahrungslernen
beeindruckten Tolstoi. Neben dem Unterricht standen Schwimmen,
Schlittschuhlaufen, Reisen und Wandern und die dazugehörigen
Naturerfahrungen im Mittelpunkt.
Er
unterschied
ausdrücklich zwischen Erziehung als Anwendung von
Zwang und Bildung als eine freiwillige und freiheitliche Begegnung
zwischen Lehrer und Schüler: „Woran liegt es, daß es
eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung, wie
Zwang
in der Bildung, d.h. Erziehung Jahrhunderte existieren kann, so muß
die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln. Diese Ursache
glaube ich zu entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der
Religion, drittens im Staat und viertens in der Gesellschaft.“
[8]
In den Schulen Tolstois gab es keinen Zwang zur
Pünktlichkeit, was auch in der Realität funktionierte. Laut
Tolstoi waren nur diejenigen Schüler unpünktlich, die durch
Arbeit für ihre Eltern vom Schulbesuch abgehalten wurden. Seiner
notenfreien Beurteilung widersetzten sich seine Schüler, die
eine Einordnung ihrer Leistungen verlangten. Die Mitbestimmung bei
der Auswahl des Unterrichtsstoffes und eine Konfliktregelung, die in
den Händen der Schüler lag, stellten neuartige Ansätze
von Demokratisierung des Schulsystems dar. Demokratie in der Schule
bedeutet für Tolstoi eine Dynamik der
Lehrer-Schüler-Interaktion. Bildung wurde als Dialog mit den
Schülern verstanden, nicht als Belehrung oder Unterweisung
(Didaktik des Dialoges). Dies führte dazu, dass die Schule
Tolstois jedoch nicht nur die Lust am Lernen erhöhte, sondern
auch mit Lernerfolgen verbunden war.[9]
Jegliche
Erziehung
und Bildung sollte die Persönlichkeit eines Kindes
respektieren. Die Lehrer sollten Tolstois Ansicht nach nur wenig in
die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eingreifen und ihre
Schüler zu mündigen Persönlichkeiten erziehen.
Schroedter bilanzierte: „Der Zwang zum Stillsitzen und die
daraus resultierende fehlende Bewegung ist ein wesentliches Element
der Kritik an den Schulen sowohl Russlands als auch der Schulen
Westeuropas. Dies wurde in den von Tolstoi errichteten
Bauernschulen,
die nach dem Vorbild von Jasnaja Poljana entstanden, eine deutliche
Absage erteilt. Die Kinder durften sich unterhalten, sie durften,
ja,
sie sollten sich bewegen. In seinen Betrachtungen fasste er Bildung
tendentiell als die die freiwillige Teilnahme an einem ungezwungenen
Unterricht auf und sah in der Erziehung den zwangsweisen Unterricht.
Die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen sollte da beginnen, wo
sie mit ihrem Erfahrungsschatz anknüpfen können.“[10]
In
seinen
Schulen entwickelte er auch Ansätze für
Untersuchungen und Systematisierungen von Lernsituationen: „Erst
wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht wird, wenn die
Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist,
erst dann wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt
zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung im Stande sein,
feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu
schaffen.“[11]
Tolstoi
verfasste
Lesebücher zu den Fächern Geschichte, Physik,
Biologie und Religion, um Kindern moralische und soziale Werte zu
vermitteln. Generationen russischer Schüler erhielten bis in die
1920er-Jahre mit seinem erstmals im Jahre 1872 erschienen Schulbuch
Alphabet
die Grundschulbildung. Die überarbeitete Neuauflage aus dem
Jahre 1875, mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren, wurde in
mehrere Sprachen übersetzt.
[1]
Klemm, U.: Leo Tolstois gewaltfreier Anarchismus. In:
Graswurzelrevolution, Nr. 200/September 1995, S. 23-25, hier S.
24
[2] Es gibt nur sehr wenige nichtchristliche Quellen über
dieser Phase des frühen Christentums. Kurze Notizen zu
Einzelereignissen finden sich bei Flavius Josephus, Tacitus und
Sueton. Eine wichtige Quelle ist dann der Briefwechsel zwischen
Plinius d.J und dem römischen Kaiser Trajan, der einen Blick auf
die Ausbreitung des Christentums am Beginn des 2.Jh. in Pontus und
Bithynien (Nordkleinasien) und die römischen Gegenmaßnahmen
gestattete.
[3] Tolstoi, L.: Über Volksbildung, Berlin
1985, S. 22
[4] Ebd., S. 48
[5]
www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[6] Schroedter, T.:
Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und
Wiederaneignung eines verfemten Begriffes, Stuttgart 2007, S. 124
[7]
www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[8] Zitiert aus Bartolf,
C.: Ursprung
der Lehre vom Nicht-Widerstehen. Über Sozialethik und
Vergeltungskritik bei Leo Tolstoi. Ein Beitrag zur
Bildungsphilosophie der Neuzeit, Berlin
2006, S. 104
[9] www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[10]
Schroedter, Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und
Wiederaneignung eines verfemten Begriffes, a.a.O., S. 123
[11]
Zitiert aus Tolstoi,Über Volksbildung, a.a.O., S.