Einträge tagged Monte Verità - 18. Januar 2010

Um 1900 herum entwickelte sich in Ascona auf dem Monte Verità – zuerst als eine Enklave der Münchner Schwabinger Boheme – eine Siedlung, getragen von der Utopie einer autarken, modellhaften Gemeinschaftssiedlung. Für alle, die damals nach Alternativen zur bürgerlichen Gesellschaft suchten, galt diese Siedlung als “Zukunftswerkstatt” für alternative Lebensformen. Auf dem Monte Verità mischten sich Theosophie und Vegetariertum, Naturheilreformen, anarchistische Gedankengut und künstlerische Avantgarde. Die Siedlung zog so illustre Persönlichkeiten wie Max Weber, Hermann Hesse, M. Bakunin, W. J. Lenin, Trotzki, von Franziska zu Reventlow über C.G.Jung, Otto Groß und Erich Mühsam bis hin zu Isodora Duncan und Mary Wigman an. Direkt auf dem Monte Verità entstand eine Naturheilstätte und in der unmittelbaren Umgebung ließen sich verschiedene kommuneähnlichen Gruppierungen nieder. Nach und nach entwickelte sich das Projekt Monte Verità weg von dem Ort einer konkreten Utopie und wurde zunehmend kommerzialisiert. Aus der einstmaligen autarken Künstlerkolonie wurde ein Sanatorium mit zahlenden Kurgästen, mit teuren Kurhotels und pompösen Villen.

Otto Groß (1877-1920), Arzt und Psychoanalytiker war einer der ersten Schüler Sigmund Freuds und stieß um 1906 zur Münchner Bohème. Er entwickelte Therapien auf der Grundlage der Vorstellung das die Freisetzung des erotischen Potentials des Menschen die Voraussetzung für jegliche soziale und politische Emanzipation ist. Dementsprechend versuchte er sein Klientel zu “Sexualimmoralisten” zu entwickeln. Erich Mühsam (1878-1934) Dichter, Anarchist und Humanist verkehrte zu diesen Zeiten ebenfalls in den Kreisen der Münchner Boheme und vertrat ähnliche Positionen wie Otto Groß in puncto Kritik an der Institution Ehe und Familie und setzte sich in einer Reihe von Texten und in seinem Theaterstück “Die Freivermählten” (1909)für die freie Liebe ein. Im Rückblick auf seine Zeit in der Münchner Bohème schrieb er: “Die Formen des Liebeslebens, wie sie die künstlerische Bohème sorglos und um Theoreme unbekümmert im Genießen umsetzt, waren für mich… Schulbeispiel für die Möglichkeit freiheitlicher Weltgestaltung”

Gräfin Franziska zu Reventlow (1871-1918) theoretisierte nicht so sehr über die “freie Liebe”, sondern lebte sie. Reventlow galt vielen damaligen Zeitgenossen als die Inkarnation der erotischen Bewegung um die Jahrhundertwende, als Frau war sie für die Bohèmiens das Idealbild einer “freien Frau”. Erich Mühsam bezeichnete sie als den “innerlich freiesten und natürlichsten Menschen, dem ich begegnet bin”. Reventlow stand der damaligen bürgerlichen Frauenbewegung eher reserviert und skeptisch gegenüber. Sie war der Meinung, dass die Emanzipationsbestrebungen der bürgerlichen Frauenbewegung zwar zu einer äußerlichen Gleichstellung von Mann und Frau führen würden, aber nur auf Kosten der Entwicklung einer erotischen Kultur der Geschlechter. Von daher greift sie die bürgerliche Frauenbewegung radikal an: Solange die bürgerliche Frauenbewegung an der christlichen Moral festhalte und die Forderung, eine spezifisch weibliche erotische Kultur zu entwickeln, nicht berücksichtigt, sei sie “die ausgesprochene Feindin aller erotischen Kultur, weil sie die Weiber vermännlichen” wolle und “die Männer zur Askese” erziehe.

“So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! – weil ihr sie dazu bringt, ja! Weil ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet. Weil ihr kein Schönheitsgefühl im Leibe habt. Was ist denn ästhetischer und im wahren Sinne moralischer: wenn ihr euere blühenden Mädchen zu abgestorbenen Gespenstern macht und euere Söhne in Bordell schickt, oder wenn ihr sie sich miteinander in der Schönheit ihres Lebens freuen laßt.”

Trotz der Kritik an der Frauenbewegung hatte Reventlow freundschaftliche Kontakte zu verschiedenen Frauenrechtlerinnnen wie z.B. zu Anita Augsburg (1857-1943) und ihrer Lebensgefährtin Lydia Gustava Hyman (1868-1943), Lesbierinnen die dem radikalen Flügel der Frauenbewegung vorstanden. Aus materieller Not arbeitete sie gelegentlich als Prostituierte und engagierte sich bei dem “Deutschen Zweigs der Internationalen Abolitionistischen Föderation”, die gegen das staatlich reglementierte Bordellsystem und die sittenpolizeiliche Diskriminierung der von ihr erfassten Frauen kämpften. – Franziska zu Reventow verunglückte 1918 mit dem Fahrrad in Ascona tödlich.

In der Weimarer Republik radikalisierte die Boheme die Sexualreform zur erotischen Rebellion. Schwule und lesbische Subkulturen traten in den Großstädten in die Öffentlichkeit. Sexualisierte Tänze sorgten Anfangs für Skandale und kamen dann in Mode, bis hin zur Stilisierung von Anita Berbers „Tänze des Lasters“ auf der Bühne. In den 20er Jahren wurde die Homosexualität von Frauen als modisches Accessoire gesellschaftsfähig. Viele Bühnenkünstlerinnen wurden lesbische Neigungen nachgesagt ohne das dies ihrer künstlerischen Laufbahn schadete. Berühmte Beispiele waren neben Anita Berber und Marlene Dietrich u.a. Margo Lien, Jeanne Mammen und Renee Sintenis. Andere wie Claire Waldhoff bekannten sich offensiv in der Öffentlichkeit zu ihren sexuellen Vorlieben. Im Berlin der 20er Jahre entwickelte sich eine lebendige Subkultur von homosexuellen Frauen mit einer Vielzahl von Bars, Cafes und Clubs. Viele dieser subkulturellen Freiräume waren allerdings nur einer ausgewählten Bevölkerungsschicht zugänglich. Das Leben in vielen der Clubs und Varietes rund um Revuen, Gesellschaften und Tanzvergnügen stand denjenigen zur Verfügung die über ausreichend Geld, Zeit und Verbindungen verfügten, während ein großer Teil der Bevölkerung in Zeiten der Inflation und Arbeitslosigkeit existenzielle Sorgen hatte.

Mit der lesbischen und schwulen Subkultur entstanden auch zahlreiche Zeitschriften. Zuerst etablierten sich die Publikationen der Schwulenbewegung. Die erste Zeitschrift war „Der Eigene“, die bereits 1888 gegründet wurde und bis 1906 erschien und nach langer Pause im Zeitraum 1919 – 1932 wieder publiziert wurde. Eine weitere Zeitschrift war beispielsweise „Die Freundschaft“. Im Zeitraum 1924 – 1933 erschienen in Berlin eine Reihe von Zeitschriften für homosexuelle Frauen die größtenteils von den Verbänden „Deutscher Freundschaftsbund“ und dem „Bund für Menschenrechte“ in denen homosexuelle Männer und Frauen organisiert waren, herausgegeben wurden. Diese Zeitschriften waren am Kiosk und über den Versand erhältlich, wurden aber teilweise unter den Paragraphen §184 R Stg B (Verbreitung unzüchtiger Schriften) und dem 1926 erlassenen „Schund- und Schmutzgesetz“ verboten. So z.b. die Zeitschrift „Frauenliebe“ der dann als Ersatz die „Frauen, Liebe und Leben“ und später die „Garconne“ folgten, genauso wie „Die Freundin“ mit der Ersatzzeitschrift „Ledige Frauen“.

Schader Heike, 2003, „Virile, Vamps und wilde Veilchen“, Ulrike Helmer Verlag, Königsstein/Taunus

Auch reguläre Männermagazine gab es bereits um die Jahrhundertwende, Kunst und Photomagazine und Journale, die ihren Schwerpunkt auf der Berichterstattung des Varietegewerbes und ihrer Stars hatten. Eines der bekanntesten erotischen Magazine des 19. Jahrhunderts war das englische Magazin „The Pearl“, welches monatlich im Zeitraum zwischen Juli 1879 bis Dezember 1886 erschien. Die Gesamtausgabe in drei Bänden mit über 500 Seiten umfasst 36 „obszöne“, kolorierte Lithographien, sechs Romane, die in Fortsetzung erschienen und eine Vielzahl von Kurzgeschichten, Gedichten und verschiedenen Kolumnen. Das Magazin welches als erstes regelmäßig Nacktphotographien veröffentlichte, war „Camera Work“, seit 1902 von Alfred Stieglitz herausgegeben. Nicht alle Photos waren Aktphotographien, aber sie gehörten zum festen Bestandteil des Magazins, das z.b. Portofolios von Photographen wie Annie Brigman, Clarence Whitehead, Robert Demarchy, Renee Le Begue und Frank Eugene veröffentlichte. Die meisten Produktionen kamen zu dieser Zeit aus Frankreich, während Deutschland nach dem ersten Weltkrieg mit einer Vielzahl von Nudistenzeitschriften und Magazinen sexueller Subkulturen eine weitere Vorreiterstellung einnahm.



Die Reduktion der Sexualwissenschaft auf eine akademische Disziplin

Die Lebensreformbewegung mit ihren sexuellen Emanzipationsbestrebungen blieb, im Rückblick betrachtet, bei einigen zaghaften Fortschritten in Fragen der sexuellen Aufklärung, der Geschlechterrolle und Partnerwahl und der Enttabuisierung des menschlichen Körpers stehen. Die von ihnen propagierte Nacktkultur diente ihnen als „Hauptmittel gegen die geschlechtliche Überreizung“. Sie waren entschieden gegen die Prüderie und falsche Scham, aber die Nacktheit wurde, kaum das sie möglich geworden war, schnell wieder ritualisiert und ideologisiert, entweder unter eine „natürliche Reinheitsmoral“ gestellt oder dem Leistungszwang zur körperlichen Gesundheit und Tüchtigkeit unterworfen. Die Struktur und Geschichte der modernen Industriegesellschaft haben die Revolutionierung des Sexualverhaltens, im Sinne der kapitalistischen Logik, sowohl ermöglicht als auch legitimiert. Gleichzeitig- und nicht minder nachhaltig- haben sie die Entfaltungschancen und die Legitimität jener Impulse eingeschränkt die historisch ihren Ausdruck in sozialrevolutionären Gedanken und Aktivitäten fanden.

Die heutige Sexualwissenschaft, deren Wurzeln in den sexualreformerischen Bestrebungen in der Zeit zwischen den Weltkriegen liegen, hat nicht mehr den Stellenwert in der Gesellschaft wie zu ihrer Entstehungszeit. Nach ihrer Zerstörung durch den Faschismus in Europa, verblieben viele wissenschaftliche Ressourcen in den USA. Neben dem Kinsey Institute, welches über umfangreiche Materialien über die Entwicklung und den Umfang der Sexualforschung vor 1933 in Deutschland verfügt, gibt es das Masters-and-Johnson-Institute in St. Louis, welches zum Sexualtherapeuten ausbildet und in San Francisco befindet sich das Institute for Advanced Study of Human Sexuality, eine private sexualwissenschaftliche Hochschule. Weitergehend bieten verschiedene Universitäten, z.b. in San Francisco, Philadelphia und New York Studienprogramme über menschliche Sexualität an.

Unter dem Einfluss der Kriminalpsychologie wurden Theorien entwickelt, die u.a. besagen, dass jeder Mensch in seiner Kindheit, schon in seiner frühen Sozialisation, eine sogenannte „lovemap“ entwickelt, die den Grundbaustein für die späteren individuellen Sexualstrategien liefert. Heterosexualität gilt weiterhin als Norm. Abweichendes Sexualverhalten wird in sogenannten „Paraphilias“ systematisiert und psychologisch, sexualwissenschaftlich analysiert und erklärt. Der in der Gesellschaft weitverbreitete Hang zum Voyerismus gehört ebenso dazu wie Homosexuellen und Lesben und die sexuellen Subkulturen der Transvestiten. Sadomasochisten und Fetischisten bis hin zu den extremen Formen wie Geschlechtsverkehr mit Leichen oder Tieren und mit Gewalt behafteten Akten in denen mindestens eine Person unfreiwillig beteiligt ist. Gemäß dieses wissenschaftlichen Erklärungsmodels suchen viele Sexualwissenschaftler, Soziologen und Psychologen in den Lebensläufen von Prostituierten , bzw. Menschen die in der Sex-Branche arbeiten, nach abweichenden „lovemaps“ und einschneidenden Kindheitstraumatas und stellen damit einen Blickwinkel fest, der dem Versuch einer Entstigmatisierung und Anerkennung der Sexarbeit als regulären Geschäftsbereich entgegenläuft. Andererseits ist es den grundlegenden Initiativen der Sexualwissenschaft zu verdanken, das in den westeuropäischen und nordamerikanischen Metropolregionen eine weitgehende Akzeptanz oder zumindestens Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensentwürfen und zu Fragen der Verhütung und Abtreibung besteht. Weitergehend haben die Gender- und Queer- Diskussionen, hervorgegangen aus einer Schnittmenge der Kultur- und Sexualwissenschaften, seit den 80er Jahren erheblich mit dazu beigetragen den Emanzipationsprozess verschiedener sexueller Subkulturen zu fördern und die Kritik an der androzentrischen Weltsicht zu fundieren Diese aktuellen Diskurse verbleiben aber oftmals im universitären Milieu und in dem Bereich der betreffenden Szenen. Die Sexualwissenschaft vor dem 2. Weltkrieg hingegen, hatte den Anspruch sich in ihren gesellschaftspolitischen Ansätzen weitgehend an die gesamte Bevölkerung zu richten, was über eine Vielzahl von Sexualberatungsstellen und einer politische Massenbewegung auch versucht wurde.