ARTUR
STREITER
Einer, der von Beginn an in Kunde und
Vagabund
mit Grafiken und Texten vertreten war, konnte nicht zum
Vagabundentreffen nach Stuttgart anreisen: Artur Streiter. [31]
Heinrich Lersch berichtet in seinem Tagebuch: »Der Streiter
aus
dem roten Luch ist krank, verdammt, dass es keine vierte
Klasse mehr gibt, könnten wir ihm doch das Fahrgeld
telegrafisch schicken.«56 »Das Bild, dessen Photographie Sie mir schickten, kann ich nicht kaufen, weil grosse Ansprüche an mich gestellt werden, und natürlich auch meine Einnahmen sehr zurückgegangen sind. Ich schicke Ihnen gleichzeitig durch Postüberweisung zehn Mark, um Ihnen meinen guten Willen zu zeigen und hoffe, dass diese Andeutung immerhin eine kleine Erleichterung für den Augenblick für Sie bedeutet.«62 In der Not schrieb er Briefe mit der Bitte um Unterstützung auch an andere, etwa an Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, Theodor Pli(e)vier, Stefan Zweig, um nur einige zu nennen. Die Kontakte dokumentierte Streiter in seinem Stammbuch sowie in seinem sogennnten Buch der Widmungen. Bei Dichterlesungen zeichnete er außerdem Bleistiftporträts, die er sich signieren ließ. Porträtskizzen bzw. Widmungskarten zeigen u. a. Erich Mühsam, Max Nettlau, Alfred Döblin, Kurt Hiller, Theodor Lessing, Rudolf Rocker, Ernst Toller. Selbstständige Schriften gelangen ihm nur zwei, von denen die eine über den Verleger und Autor Paul Heinzeimann dazu noch verschollen ist. Die Anerkennung für seine Lyrik und Prosa blieb aus. Der eigene Blick auf sein Werk scheint dagegen von einem sehr selbstbewussten, manchmal selbstverliebten Umgang. Er
schreibt dazu im Tagebuch am 28. April 1930: »Wenig getan heute
-
lauter unproduktive arbeit - meine gedichte habe ich
gesammelt - dort,
wo sie gebracht wurden, herausgeschnitten und in hübsche kleine
oktavheftchen eingeklebt -zwei kleine schmucke heftchen sind es,
das
eine heißt - ich habe es wenigstens so genannt -
>Klarheit<, dort
habe ich meine mehr oder weniger tendenzmäßigen gedichte
eingeklebt, das andere >Kleine Melodien« -: es enthält
meine reine
lyrik. -Mit dem ordnen und lesen habe ich nun heute den tag
’rumgebracht.«63 Streiter hinterließ 23 Tagebücher
aus der
Zeit von 1925 bis 1935, die er offensichtlich mit Blick auf
die
Nachwelt anlegte. Die Bände sind sorgfältig beschriftet, in
sauberer Handschrift geschrieben, thematisch gegliedert und
datiert. Ebenso unveröffentlicht blieben umfangreiche
Studien und
Romanmanuskripte literatur- und kulturhistorischer Art über
Hölderlin
oder Vincent van Gogh. Im Kunden erschienen einige Abhandlungen zum
Vagabundenthema, u.a. der Text »Apologeten des
Vagabundentums«64
über Peter Hille, Frangois Villon und Arthur Rimbaud, sowie
mehrere
Linolschnitte, siehe auch S. 70 in diesem Band. [34] Dass
Streiter an
einer umfassenden Typologie des Vagabunden arbeitete und
sich zum Ziel
gesetzt hatte, die »Psychologie seines Seins« zu erforschen
und
zu ergründen, davon zeugen die im Nachlass erhaltenen,
bislang unveröffentlichten Fragmente seines
»Vagabundenbuchs«, die sich
in diesem Band erstmals abgedruckt finden.65 Der Maler Hans Baluschek (1870-1935) etablierte soziale Themen, Armut und Elend in der bildenden Kunst, was der Kunstauffassung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg widersprach, aber den Weg auch für Werke wie die der Künstlergruppe der Bruderschaft der Vagabunden öffnete. In ihnen spiegelt sich oftmals die eigene Lebenssituation wider: In der Regel ohne nennenswerte Schulbildung oder künstlerische Ausbildung und ohne jede materielle Absicherung zeichneten sie das Leben auf der Straße aus eigener Anschauung nach. Das schränkte ihre künstlerischen Möglichkeiten von vornherein ein: Statt Ölfarben, Leinwand, Druckplatten, Wachs und Radiernadeln verfügten sie bestenfalls über Bleistift, Wasserfarbe oder Tinte, als »Leinwand« diente ihnen das Papier, das sie gerade vorfanden, selbst ein nicht mehr verwertbarer Geldschein konnte noch für ein kleines Kunstwerk herhalten.66 [35] |
|
Hoffen auf Grünhorst. Aus dem Tagebuch von Artur Streiter
Aus dem Tagebuch von Artur Streiter wird ersichtlich, dass die Initiative zur Pachtung von Grünhorst von ihm ausging. Er wollte in einer Gemeinschaft leben. Ursprünglich sollte sein Freund Willy Maßen sich beteiligen. Alsdieser absprang, musste sich Streiter andere Teilnehmer suchen. Er scheint Gusto Gräser davon erzählt zu haben, den er seit Jahrenschon kannte. Gusto wird seiner Tochter Gertrud und ihrem Freund Henry davon erzählt haben, und die waren hocherfreut, eineSiedlungsmöglichkeit zu finden. Noch im Spätherbst von 1930 hat man sich offenbar geeinigt und beschlossen, gemeinsame Sache zu machen. Wer von den beiden Paaren nun offiziell und finanziell als Pächter fungierte, ist unklar. Da Streiter aber nach acht Monaten schon ausstieg und nichts von einer Ablöse erwähnt, ist anzunehmen, dass die Gräsers entweder schon von Anfang an die Pachtung innehatten oder sie ab diesem Zeitpunkt voll übernahmen. Von einer finanziellen Beteiligung Schulze-Söldes ist nirgends die Rede.
Hanneliese
Palm, Christoph Steker
(Hrsg.)
Künstler, Kunden,
Vagabunden
Texte, Bilder und Dokumente einer Alternativkultur der zwanziger
Jahre
Grafiken und Briefe,
programmatische Texte und
zeithistorische Dokumente lassen die Blütezeit der Vagabundenkultur in
Deutschland wieder aufleben.
Die »Bruderschaft der
Vagabunden«, eine anarchistisch, später
auch kommunistisch orientierte Bewegung von Landstreichern und
Vagabunden,
verschafft sich Ende der zwanziger Jahre aus dem gesellschaftlichen
Abseits
heraus weithin Gehör: Im »Verlag der Vagabunden« erscheinen ihre
Schriften, die
eine »Philosophie der Landstraße« entwerfen und propagieren. Ihr
künstlerischer
Anspruch äußert sich in den Werken der »Künstlergruppe der Bruderschaft
der
Vagabunden«, gegründet vom »König der Vagabunden« Gregor Gog sowie den
Malern
Hans Tombrock, Hans Bönnighausen und Gerhart Bettermann. In diesem
Umfeld
erscheint auch die Zeitschrift Der Kunde bzw. Der
Vagabund
mit sozialkritischen Artikeln, autobiografischen Berichten, Liedern und
Gedichten, Zeichnungen und programmatischer Prosa. Materialreich und in
Farbe
lässt dieser Band die durch die Zäsur von 1933 verdrängte vagabundische
Kultur
wieder lebendig werden und erinnert in einem breiten Panorama an das
Leben und
Wirken derer, für die das Unterwegssein einmal ein alternativer
Lebensstil
gewesen ist.
Neben Texten von Gregor Gog,
Jo Mihàly, Artur Streiter und
Rudolf Geist versammelt der Band zahlreiche Arbeiten der
Vagabundenkünstler
sowie Reaktionen und Kommentare von Briefpartnern und Freunden der
Bewegung wie
Martin Buber, Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann und Stefan
Zweig.
Der Band Künstler,
Kunden, Vagabunden bildet den
Auftakt der Reihe
BIBLIOTHEK DER ARCHIVE, die außergewöhnliche Schätze zutage fördern und
damit
gleichzeitig die wertvolle Arbeit der sie behütenden Archive vorstellen
will.
Herausgeber der Reihe sind der Editionswissenschaftler Bernd Füllner und
der
Literaturwissenschaftler Christoph Steker.
Herausgegeben von Hanneliese
Palm und Christoph Steker
Mit einem Beitrag von Walter Fähnders
Bibliothek der Archive, Band 1:
Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Dortmund
240 Seiten
Klappenbroschur
zahlreiche farbige Abbildungen
18,5 × 24 cm
(D) € 28,00, (A) € 28,80, sFr 38,00 (UVP)
ISBN 978-3-946595-08-3
Pressestimmen
»Eine äußerst lesenswerte und
wunderbar aufgemachte
Textsammlung.« – Christopher Wimmer, taz
»Programmschriften,
Autobiografisches, Lieder, Gedichte,
Zeichnungen aus dem reichen Fundus des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts,
sorgfältig zusammengestellt, kundig erläutert und fein präsentiert.«
– Erhard Schütz, Der Freitag
»Der Auftakt einer
bemerkenswerten Reihe.« – Buchkultur
»Diese kreativen
›Tippelbrüder‹ haben künstlerisch und
literarisch einiges hinterlassen. … Die Typografie und die liebevolle
Gestaltung machen das neu erschienene Buch zu etwas Besonderem.« –
Volker
Jakob, Westfalenspiegel
»Der Band ist gleichzeitig
Einführung, Quellensammlung und
›Bilderbuch‹ einer eigensinnigen Bewegung zwischen Kunst, Lebensreform
und
Revolte: ›Wo der Bürger aufhört, beginnt das Paradies.‹« – Asphalt
»Mit seiner vielfältigen
Auswahl … präsentiert dieser Band
einen besonderen Teil der Sammlung des Fritz-Hüser-Instituts und ruft
eine
heute vergessene … vagabundische (Sub-)Kultur wieder ins Gedächtnis. Der
Beitrag von Artur Streiter gibt einen guten Einblick in das radikale
politische
Denken dieser minoritären Gruppe.« – Bernd Hüttner, Contraste
»Neben der hervorragenden
Gestaltung besticht der Band vor
allem durch seinen umfangreichen Bildteil, bei dem man verschiedene
Nachlässe
und den Bestand der Bibliothek des ›Fritz-Hüser-Instituts‹ nutzte, das
sich aus
dem ›Archiv für Arbeiterdichtung und soziale Literatur‹ des Dortmunder
Bibliothekars Fritz Hüser entwickelt hat.« – Sax