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Gusto Gräser
Ein grüner Prophet aus Siebenbürgen
Vortrag von Hermann Müller im Stuttgarter Haus der Heimat,
30. März 2012

Der heutige Tag ist für mich ein feierlicher Moment, für die Stadt Stuttgart sogar ein geschichtlicher. Vor 56 Jahren habe ich von Gusto Gräser ein 20seitiges Gedicht erhalten, eine Botschaft an Stuttgart und die Schwaben. Ich sollte sie überbringen. Es handelt sich um eine Art geistiges Testament, um ein Vermächtnis. In diesem Brief, dem sogenannten „Brieflein Wunderbar“, nennt er Stuttgart seine berufene, seine auserwählte Stadt.  Heute, nach 56 Jahren, ist der Augenblick gekommen, diesen Brief erstmals vorzustellen.

„Brieflein Wunderbar“- das hört sich märchenhaft an. Bitte nehmen Sie diese Geschichte als Märchen. Sie ist ein Märchen – und doch – Wirklichkeit.

Mein Vortrag wird drei Teile haben: 1. Die Vertreibung Gusto Gräsers aus Stuttgart, 2. Der schwäbische Bund oder die heilige Schar, 3. Der Bundesbrief oder das Brieflein Wunderbar.

Es war einmal, vor rund hundert Jahren. Damals, im Jahre 1913, gab es in Stuttgart zwei Brüder aus Siebenbürgen. Beide Maler und Dichter: Der eine mehr Maler, der andere mehr Dichter: Ernst und Gusto Gräser. 

Es gibt eine Zeichnung von Ernst zu einem Gedicht von Gusto, die 1913 hier entstanden ist. Ein wohlhabender Bürger in Bratenrock und Zylinder lässt sich nobel durch die Stadt kutschieren. Aufrecht, straff die Zügel haltend, sitzt auf dem Kutschbock der Kutscher – es ist - der Tod.

Gesagt wird, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Das wilhelminische Bürgertum rollt dem Untergang entgegen, Eine Epoche, das Zeitalter des Patriarchats, geht zu Ende.

Ein zweites Bild von Ernst Graeser aus der selben Zeit:

Rechts im Bild ist die Bibel aufgeschlagen mit den Worten „Du sollst nicht töten“ und „Liebet eure Feinde“. Neues und Altes Testament in einem. Daneben sitzt, auf blankgezogenen Waffen, ein kannibalisches, an Knochen nagendes Monster: der Mensch.

Diese kriegslüsterne Bestie sitzt vor dem Altar einer christlichen Kirche. Deren Fassade steht noch, aber sie ist bedroht und unterwühlt von den Dämonen des Hasses, der Gier und der Rachsucht.

1914 war der Augenblick der Entscheidung gekommen. Werden die Deutschen sich an das Urgebot „Du sollst nicht töten“ erinnern – oder werden sie den Mächten der Finsternis die Hand reichen? Die Radierung „Kampf der Engel“ von Ernst Graeser stellt unmissverständlich diese Frage.

Wie werden die Brüder sie beantworten?

Ernst, der Maler, lässt sich mitreißen vom nationalistischen Rausch der Massen. Die preußische Pickelhaube hebt er wie ein Heiligtum in den Himmel. Der gepanzerte deutsche Michel fegt den Rest der Völker wie Schmutz von der Erde.

Gusto steht aufrecht zu seiner Überzeugung.  

Er wird verhaftet und nach Österreich ausgeliefert. Dort droht ihm die Erschießung. Drei Tage wartet er in der Todeszelle auf seine Hinrichtung, dann wird er in ein Irrenhaus gesteckt.

Sie werden fragen: Warum wurde er denn aus Stuttgart ausgewiesen? -  Die Begründungen der Stadtdirektion sind an den Haaren herbeigezogen. Den Verkehr habe er behindert, weil sich bei seinen Auftritten Aufläufe bildeten. Seine Gedichte habe er ohne Gewerbeschein in den Straßen verkauft. Er lebe in wilder Ehe, wolle seine Kinder nicht in die Schule schicken – und so fort. Was aber war der wirkliche Grund?

Dass er es wagte, die damalige Kultur in Frage zu stellen. Er stellte sie nicht nur in Frage, er rief auf zum Austritt aus dieser Gesellschaft. „Raus, raus, raus!“ – so stand es in seinem Sendbrief an die Freideutsche Jugend, so stand es in Riesenlettern auch auf seinem grünen Zigeunerwagen, in dem er mit Weib und Kindern durch die Lande fuhr. Und so rief und redete er Sonntag für Sonntag unter der Schillereiche im Stuttgarter Bopserwald.

„Macht euch frei von vorgeschrieben Pflichten! Euer Inneres macht Vorschriften überflüssig. Kein Tier trägt sich dem andern zum Fraß an. Aber das Menschentier tut das Tag für Tag.“ Nicht zufällig spricht er im Zeichen des Freiheitsdichters Schiller, nicht zufällig spricht er im Wald. Er rezitiert da Gedichte wie dieses:

„Wo Menschling hintritt, o Grauen, mit eisiger Vergewalt,
da wird es öd in den Auen, und kalt –
da muss die Heimat verderben, muss Lust und Liebe ersterben,
denn nieder tritt er – den Wald.

 

So stand es auf seinen Spruchkarten, die er in den Straßen von Stuttgart verteilte. Seine Sontagsreden zogen Menschen aus dem ganzen Land an. Nicht nur die Schillereiche war eine symbolische Wahl, sie stand für Freiheit. Auch sein zweiter Redeplatz, das Fischbachdenkmal. Dem Forstmeister Heinrich von Fischbach verdanken die Stuttgarter eine Fülle von Waldhütten und Waldwegen. Fischbach stand für Schutz des Waldes, Schutz der Bäume, Schutz der Natur. Was dieser Waldschützer und andere für Wald und Wildnis in der Praxis geleistet haben, das leistet Gusto Gräser im Wort. Dieser Mann hatte alle gesellschaftlichen Bindungen hinter sich gelassen, um allein für Waldwohl und Wildheil zu leben. Für den Wald, auch als Symbol einer anderen Art des Menschseins.

Erst wo wir hinter dem Grauen, dem grünen Walde gesellt,
die Gärten, die Hütten bauen, Bildung und Wildung trauen -
da erst tritt der Mensch in die Welt.

    

„Wildung und Bildung trauen“. Gräser ist, bei aller harten Kulturkritik, kein „Naturnarr“, kein Kulturverneiner. Er will Wildung und Bildung, d. h., Natur und Kultur, verbinden, versöhnen, ins Gleichgewicht bringen. Darum geht sein Kampf.  Damit aber reizte er die Beharrungsmächte seiner Zeit. Deshalb musste er ausgewiesen werden. Weil er nicht nur ein Kriegsdienstverweigerer war sondern auf geradezu allen Gebieten ein Normierungsverweigerer, ein Verdummungsverweigerer, ein Knechtschaftsverweigerer. Zitat: „Es ist widerlich, wenn man einen Hund seinen Maulkorb apportieren sieht. Aber das Menschentier tut das Tag für Tag“. Gräser war der „Mutbürger“ par excellence.

Nun sollte man meinen, dass er nach seiner Ausweisung auf Stuttgart und die Schwaben nicht gerade gut zu sprechen war, dass er sie vielleicht sogar verflucht hätte. Aber das Gegenteil ist der Fall. 40 Jahre später schreibt dieser Mann ein 20 Seiten langes Briefgedicht an die „Herzgesellen im Württemberge“, in dem er Stuttgart die auserwählte Stadt nennt, auserwählt und berufen, die große „Heimkehr“, die „Blütezeit des Erdensterns“, herbeizuführen. 

Wie kommt er dazu? Was treibt ihn an, dieser Stadt und diesem Land die Erfüllung seiner Mission anzuvertrauen?

Ganz einfach: Hier, in Stuttgart und im Schwabenland, hat er seine besten Freunde gefunden – und die begabtesten: Hermann Hesse, Martin Heidegger.

Es waren zunächst zwei Schwaben, denen er schon um 1900 in Zürich und Basel begegnet ist: der Gymnasiast Albert Einstein aus Ulm und der Buchhändler Hermann Hesse aus Calw. Hesse ist 1907 von Gaienhofen zu Gräser nach Ascona gezogen, auf den Monte Verità, in seine Felsgrotte im Wald von Arcegno. Die Felsen von Arcegno wurden sein „Heiliges Land“ und sein ganzes folgendes Lebenswerk eine einziges Gespräch – und ein Kampf -  mit seinem Freund und Vorbild Gusto Gräser.

In der Freundschaft mit Hesse begann der Bund vom Monte Verità, aus der Freundschaft mit Hesse und anderen entstand der Schwäbische Bund, der Bund der Morgenlandfahrer. Spätestens 1904 kam Gräser nach Stuttgart. Seit 1907 sammelten sich um ihn die „Esslinger Sieben“, zu denen am Rande auch der Jungdichter Theodor Heuss gehörte, der spätere Bundespräsident. Die Kerntruppe bildeten der Maler Willo Rall, der Dichter Georg Stammler und der Kaufmann Muck-Lamberty. 1913 wurde offiziell ein ‚Freundeskreis für Gusto Gräser’ gegründet, der seinen Sitz in Esslingen hatte. Aus diesem Kreis ging eine folgenreiche Flugschrift hervor: ‚Worte an eine Schar’. Gerufen wird da nach der „heiligen Schar“. Nach der heiligen Schar, die „mit der Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes ringt“, die darum ringt, „den technischen Apparat des Lebens in die Gewalt zu bekommen, ohne daß wir ihm ein geistiges Recht über uns einräumen.“

Das ist genau die Technikkritik Gusto Gräsers, wenn auch in einer abgemilderten Form.

Als erstes sollte ein Demonstrationszug durch ganz Deutschland veranstaltet werden, ein Zug in pferdebespannten Planwagen in die Reichshauptstadt Berlin. Am Ende unternahm Gräser diese Fahrt allein - im selbstgebauten Wohnwagen, mit seiner Frau und 6 Kindern. Im Frühjahr 1913 kam er von Berlin nach Stuttgart zurück, begann dort mit seinen Sonntagsreden. Er unterbrach sie nur im Oktober 1913, um am Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner teilzunehmen. Nach seiner Ausweisung aus Stuttgart und seiner Haft in Österreich wanderte er, frei geworden, ein halbes Jahr lang quer durch Siebenbürgen, von der jungen Intelligenz begeistert begrüßt. „Wir wären damals alle für ihn durchs Feuer gegangen“, so erinnert sich Oskar Krämer, der Gründer des Heimathauses in Gundelsheim.

Nach dem Krieg kam es dann tatsächlich zur Bildung einer „heiligen Schar“. 25 junge Männer und Frauen, inspiriert von Gusto Gräser, zogen singend, tanzend und spielend durch Thüringen. Sie rissen Zehntausende mit sich. „Ganz Thüringen tanzt“, schrieb damals der Verleger Eugen Diederichs. Hesse hat diesen Zug der Neuen Schar in seiner Erzählung ‚Die Morgenlandfahrt’ in die Legende, ja fast in den Mythos erhoben. Das eigentliche Ziel dieser Wanderung sei „die Heimat und Jugend der Seele“ gewesen. Also eben das, was Gräser in seinem ‚Brieflein Wunderbar’ die „Heimkehr zur Wirklichkeit“ nennen wird. Zur selben Zeit entstand in Stuttgart und Urach die „Christrevolutionäre Bewegung“ um den Gräserfreund Alfred Daniel. Daniel hatte wie Gräser den Kriegsdienst verweigert. Die Christrevolutionäre wollten Jesus und Marx im Geist der Bergpredigt zusammenführen. Sie gingen in Bergwerke und Zuchthäuser, um den Arbeitern und Sträflingen ein Beispiel christlicher Brüderlichkeit zu geben. Sie riefen auf zur Bildung einer Versöhnungsarmee, die in freiwilligem Dienst die Kriegsschäden in Frankreich beheben sollte. In diesem Kreis und aus diesem Geist entstand auch die ‚Bruderschaft der Vagabunden’, angeführt von dem Stuttgarter Gärtner Gregor Gog. Diese Bruderschaft rief auf Pfingsten 1929 zu einem Vagabundenkongress auf den Killesberg. Gusto Gräser war einer der Redner. Andere Freunde gründeten Siedlungen und Künstlerkomunnen im Schwäbischen Wald, bei Aalen, auf der Alb und bei Urach. Die Merzschule, heute Hochschule für Gestaltung, hat in diesen Experimenten ihre Wurzeln. Gräser selbst lebte auch 1931/32 wieder in Stuttgart. An Weihnachten 1931 schreibt er aus Stuttgart-Vaihingen, und zwar aus der Straße ‚Im Himmel’: „Hier in Württemberg – wo die Herzgeister Deutschlands: Schiller, Hölderlin, Vischer, Kerner, Uhland und andere, Grund zu ihrem Werden fanden, werd auch ich wohl … Nährboden zum Aufbau meines Werkes finden. … Bei meinen ersten öffentlichen Abenden in Stuttgart (werd ich) am besten von meinen großen Freunden – Laotse-Thoreau-Nietzsche ausgehn“. Seine freíe Nachdichtung des ‚Tao Te King’ von Laotse hatte er erstmals 1913 in einem Café der Königstraße vorgetragen. Schiller, Hölderlin und Laotse verbinden sich also in seiner Vorstellung mit dem Schwabenland – und auch darum ist ihm diese Gegend zur geistigen Heimat geworden.

Am meisten aber durch zwei Schwaben oder Alemannen, die seine Botschaft in die Welt getragen haben: der Dichter Hermann Hesse aus Calw, der Philosoph Martin Heidegger aus Meßkirch .

Ich beschränke mich hier auf Hermann Hesse, weil er die Geschichte des Bundes in seiner Erzählung  ‚Die Morgenlandfahrt’ symbolisch verdichtet hat, als Pilgerfahrt in die Heimat der Seele. Der bescheidene Diener dieser Wanderer, scheinbar nur ein Lastenträger, enthüllt sich am Ende als der heimliche Oberste des Bundes. Gemeint ist niemand anders als Gusto Gräser. Nur er trägt das Bundesgeheimnis bei sich, nur er den Bundesbrief. Nach eigener Aussage hat Hermann Hesse diesen Brief nicht zu lesen bekommen, deshalb nicht, weil er, zeitweise zumindest, untreu geworden war. Was Gräser um 1930 seinem Schüler Hesse vorenthalten hat, das hat er 25 Jahre später der Stadt Stuttgart zugedacht: eben, im ‚Brieflein Wunderbar’. Dieser Brief ist bis heute uneröffnet geblieben.

In den Dreißigerjahren lebte Gräser in der Siedlung Grünhorst bei Berlin. Als ihm dort, nach Verhaftungen und Schreibverbot, der Boden zu heiß wurde, flüchtete er 1942 nach Stuttgart. Von dort mit Hilfe seines Bruders nach München. In den Dachkammern befreundeter Professoren hat er, halb-verhungert, die Jahre der Schande und des Terrors überstanden. Nach dem Krieg, in der Zeit der Restauration, wollte ihn keiner mehr hören. Er war völlig vereinsamt.

Da kamen eines Tages zwei schwäbische Studenten zu ihm, die sich für ihn begeisterten. Das muss seine Erinnerung an die Freunde in Stuttgart geweckt haben, die ja zum Teil noch lebten. Im Winter 1955/56 verfasst er das ‚Brieflein Wunderbar’. Mit einem „Blitzgottfunk“ wollte er das Feuer wieder entfachen, das dort einmal gebrannt hatte.

Das Schreiben beginnt so:

Herz - ist - bereit -
Es führt den Tanz -
H e r z g e g e n d   n u r   b e g i n n e t    R r r E i n g a n g
i n s   h e i t r e   G a n z !
Drum seid gegrühst,
ihr Herzgeselln im Württemberge!
….
Stuttgart! - Allwelt - ihr Notmund ruft:
Bist uns berufen, heimlich auserlesen, Gutstart zu sein,
Q U E L LO R T
zu sein dem notgen Weltgenesen:
"Heimkehr zur Wirklichkeit!"

 

Das Schwabenland ist ihm die Herzgegend Deutschlands. Das Schwabenland ist ihm der „Urheimatborn“, aus dem das Wasser des Lebens fliesst. Aus diesem Brunnen (Zitat) „rinnt lauter Glück.

Hinsink ich, hin – gluckschluckeschluck – und trinketrink
tiefdurstentbrannt, froh, immer frohr, Rausch, Allerinnrungsrausch aus dem
Urheimatborn, aus holdem Schwabenland –
leibseelerquickend herzentzückenden
Wildwelthumor!

 

Höheres, Größeres kann von einem Ort nicht gesagt werden. Das ist entweder eine Verrücktheit - oder ein Ritterschlag, eine Tollheit - oder eine Prophetie. „Lasst mir die Torheit!“ schreibt er. Er weiß sehr wohl: Was er tut, und was er immer schon getan hat, ist jenseits des Verstandes, ist tiefer Ernst und tolles Spiel zugleich.

Wie schon 40 Jahre früher beruft er sich auf Friedrich Schiller. Er zitiert ihn:

„Dass der Mensch  zum Menschen werde, stift’ er einen heilgen Bund
gläubig mit der frommen Erde, seinem mütterlichen Grund!“ –
Das klingt nach Mann, klang längst aus schwäbschem Mund voll
Urgemüt, durch seinen Dichter ward es längst uns kund - - -
Kam nit von Rechts, von Links, aus Halbheit, Schiefe,
denn aus Weltmitteltum, - aus – RINGS – gelang’s, aus Inbrunsttiefe,
grundeignem Drang …
 
Hah, Freunde, jah – ein Blitzgottfunk, ein ahnungsgrohser –
und in Mannherz alldrein schwingt weiter wieder
der uraltjung neuneugeborne Geistkämpfer, Spieler:
Weltadler Schiller! –
Ist doch nit tot …
 
Los, Schwobabär mit deiner Schwälbleseel:
treuguterdingen dich aufzuschwingen voll Schwereschwung!
Zielnit, spielmit, so wunneseelig eigen im Wirweltreigen – triuwitscherrritt …
Nur einfach frischgewagt so ganz ein Mensch zu sein voll Treueruh,
so fällt wahrhaftig uns, Dir, Mir – wie Baum und Tier, jawohl,
das Heilnotwendige von selber zu! …
 
Nichts freilich, nichts gedeiht uneingesetzt – Einsatz -  ein Satz,
der wahrlich uns ergetzt – und – der – blitzt – jetzt! –
Jetzt setzt sich ein aus inniglichstem Gern, was Kerl, was Kern –
nach Dann – Dort – Drüben spekulieren die Herrn von Hoffnungsnarrn –
was wahrlich Freund, was Mann, geht Hopfn und Karrn im
Lebwirall!

 

Im Kampf um den Schloßgarten haben sich Menschen an Bäume gekettet. Sie haben sich in Bäume gesetzt, in ihren Kronen gewohnt. Diese Baumbesetzer  konnten mit Recht von sich sagen: „Ich bin im Baum“. Sie hätten sich auf einen Vorgänger berufen können, der schon 100 Jahre vor ihnen das „Binimbaum“ zur Losung seines Lebens erklärt hat. Genau das, diesen Losungsruf enthält das ‚Brieflein Wunderbar’. Denn was proklamiert er da, was nennt er die „Allweltordnungsfuge“? was ist seine Weltformel? Sie lautet:

Bin-im-Baum -, nein, mehr noch: Baum-bin-im-baun.

Baum-bin-im-baun lautet seine „Allweltordnungsfuge“. Baum-bin-im-baun, das  ist sein Gegenzauber gegen das cartesianische Cogito ergo sum, gegen das: Ich denke, also bin ich. Gräser widerspricht vehement: Ich bin nicht, weil ich denke, sondern ich denke, weil ich bin, weil ich im Baum bin, im Weltbaum, im Ganzen.

Er selbst hat sich auf Fotos und in Gedichten dargestellt als den Dichter, der im Baum sitzt. Aus ihm spricht der Geist des Baumes. Er ist der Baumgeist.

Heihoh, Baumgeist – fideles Haus, bau s’Notnest, bau’s!
In knorrgen Kronen, in der Armut Schoß, wie arm so warm, so wunder-wunne-groß,
drein unsres Heiteren Glückvöglein horsten,
umwogt, umwallt von Grüngoldseligkeit,
draus Urdung fällt, draus Ursam fällt, der Felsensprenger,
der, wie er Stein geborsten voll Stillgewalt,
mit Wonne birst den lumpigen Asphalt - - -
„Ping pink Triuring“ – grüßt schon ein Vögelein - ! –
Hei, glückhaft Ding!

 

Aus dem Nest des Baumvogels fällt Urdung, fällt Ursamen. Man kann es auch drastischer sagen: der Baumvogel scheißt auf den lumpigen Asphalt. Und eben dadurch bringt er ihn zum Blühen.

Das ist, in einer sehr verkürzten Fassung, die Botschaft des ‚Brieflein Wunderbar’. Damit soll nicht etwa Partei ergriffen werden für einen derzeit schwelenden Streit. Was Vorrang hat, der Baum oder der Beton, ist im praktischen Fall eine Sache der Abwägung. Bei Gusto Gräser geht es um mehr, um viel mehr: nämlich um „Heimkehr zur Wirklichkeit“. Aber wo ist sie, die eigentliche Wirklichkeit? Im Baum - oder im Beton?

Der Wanderer aus Siebenbürgen hat seine Antwort gegeben. Er hat sie an Stuttgart, er hat sie an das Schwabenland weitergegeben. Seine Hoffnung ist, dass die Herzgesellen im Württemberge den Tanz beginnen werden.

Ich schließe mit einem Satz von Hermann Hesse:

„Für die Taten und Leiden unseres Bundes, welche heut vergessen oder der Welt ein Gelächter sind, wird der Tag der Wiederentdeckung kommen.“

Hesse fügt hinzu:

„Die Unerfahrenheit, ich kann mir’s denken, / wird meinem Sange wenig Glauben schenken.“ Und doch ist „unsere Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrunde liegende Gemeinschaft, der Bund, das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen“.

 

Schillereiche, 31.3.2012