Harald
Szeemann
Museum der
Obsessionen
Das Getty Research Institute in Los Angeles, das vor Jahren den Nachlass des Ausstellungsmachers Harald Szeemann (1933-2005) übernommen hat, zeigt

vom 6. Februar bis 6. Mai 2018 ebendort

eine Ausstellung über Werk und Leben des berühmten Schweizers. Die Ausstellung wird anschließend auch in Bern, Düsseldorf und Turin zu sehen sein.

Das Begleitbuch zu diesem Unternehmen ist jetzt in deutscher Übersetzung im Verlag Scheidegger & Spiess in Zürich erschienen. (406 großformatige Seiten, viele Abbildungen, 68 €).

Carolyn Christov-Bakargiev in Glenn Phillips u. a. (Hg.): Harald Szeemann.

Museum der Obsessionen. Zürich 2018, S.208 (Auszug):

Gustav Gräser war visueller Poet und Prophet, ein früher Naturschützer und Ökologe sowie Pazifist, ursprünglich beeinflusst von Karl Wilhelm Diefenbach, einem Sozialreformer und Kommunitaristen, aber auch von Walt Whitman und Nietzsche (S. 166). Skeptisch gegenüber dem Gemeinschaftsleben, zog Gräser ab 1904 in eine Höhle auf dem Nachbarberg. Um 1911 verliess er die Gegend endgültig und zog nach Berlin.

Er hatte starken Einfluss auf Hermann Hesse (u.a. bei der Gestaltung von Siddhartha), nachdem die beiden zwischen 1906 und 1907 einige Zeit gemeinsam in der entlegenen Höhle über dem Monte Verità verbracht hatten, ln den 1920er Jahren schloss sich Gräser dann pazifistischen Bewegungen in München an und reiste bis nach Schweden, um seine Naturverehrung zu predigen. Er trug damit zur Geburt dessen bei, was später im 20. Jahrhundert zur Hippie-Bewegung der 60er und 70er Jahre, also Szeemanns eigener Generation, werden sollte. Gräser stand auch dem Wandervogel nahe, einer unter anderem von den Ideen Nietzsches beeinflussten Jugendbewegung: Menschen, die das Stadtleben ablehnten und die Rückkehr zu einem naturverbundenen, heidnischen Leben beschworen, die Sonne anbeteten, für den Nudismus, generell weniger beengende Kleidung sowie die sexuelle Befreiung eintraten. Doch Nietzsche fehlte in Szeemanns Monte Verità-Ausstellung und wurde nicht einmal als Quelle genannt.

Aus den 70.000 Objekten, die in mehrjähriger Arbeit aus dem Tessiner Maggiatal nach USA überführt wurden, haben die Initiatoren eine Inszenierung geschaffen, die Szeemanns wichtigste Ausstellungen wenigstens in Teilen rekonstruiert. Unter ihnen nimmt seine archäologische Erinnerung an die Reformsiedlung Monte Verità eine zentrale Stellung ein. Die begleitenden Kommentare und Interviews arbeiten heraus, dass Szeemann nach der höchst erfolgreichen und zugleich höchst anstrengenden documenta 5, die er in Kassel mit 220 Künstlern kuratierte, eine Neufundierung im Intimen und Bodenständigen nötig hatte. Er fand sie in einem „Sommer der Liebe“ im Tessin und in der Hinwendung zu der bis dahin verschütteten Geschichte des Monte Verità von Ascona. Auf dem Höhepunkt der damaligen Alternativ-bewegung entdeckte er ihre vergessenen Vorläufer und Vorbilder aus der Zeit um 1900. Zu ihnen gehörten die beiden Mitgründer der Siedlung Karl und Gusto Gräser. Ihnen ist in der jetzt restaurierten Ausstellung im Museum Casa Anatta in Ascona ein eigener Raum gewidmet. Im Begleitbuch der Getty Foundation spricht namentlich Carolyn Christov-Bakargiev, Kuratorin der documenta 13 von 2012, über die Bedeutung des „Poeten und Propheten“ Gusto und seinen Einfluss auf Hermann Hesse. (Ihre Darstellung enthält mehrere Fehler in Datierungen und Einzelaussagen, was zu beachten ist!).

Für seine Ausstellung von 1978 entdeckte Szeemann im Deutschen Monte Verità Archiv (damals in Urspring/Schelklingen befindlich) erstmals eine Fundgrube über den ihm bis dahin fast unbekannten Dichter, Sprachforscher und Propheten Gusto Gräser. Er bediente sich nicht nur freudig dieser Schätze, er fand dadurch auch zu dessen frühem Gemälde 'Der Liebe Macht', das er von den Erben in Ungarn für seine Sammlung erwerben konnte und in zahlreichen Ausstellungen quer durch Europa zeigte. Das Archiv in Freudenstein bewahrt unter anderem mehr als zwanzig meist handgeschriebene Briefe und Karten von Harald Szeemann aus den Jahren von 1976 bis 2000.


Knüppelholzmöbel von Karl Gräser,
Abbildung im Begleitbuch, S.167

Sie können gar nicht wissen, wie erfreut ich war, von Gusto Gräser mehr zu erfahren. Ich wusste, dass Hesse bei ihm war, aber hier konnte oder wollte niemand mehr richtig etwas über ihn wissen. Die Zusammenhänge, die Sie aufzeigen, sind erstaunlich und überzeugend und erschliessen für Ausstellung und Publikation neue Perspektiven. Kurz: es ist eine wahre Fundgrube für Richtigstellungen und eine faszinierende Aufgabe. Harald Szeemann an Hermann Müller, 21. 12. 1976


Es ist ja wieder viel Neues an den Tag gekommen und im Anhang sehe ich, dass Sie unterdessen eine Reihe von "Gräsern & Blättern" herausgegeben haben. Wäre es Ihnen möglich, mir in Zukunft alles zu senden? Vielleicht haben Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen, dass Gusto & Karl nun einen ganzen Raum für sich haben. Es wäre eigentlich schön, wenn das Bild noch von anderen Originalen begleitet würde, ev. Leihgaben aus Ihrem Archiv. Überlegen Sie sich’s. 27. 9. 1987

Wie versprochen haben wir an der letzten Sitzung der Kulturkommission des Monte Verità über ein Gräser-Archiv im Russenhaus gesprochen. Im Prinzip sieht alles sehr positiv aus, obwohl natürlich wie stets das leidige Geld fehlt. 4. 1. 1988

Ich bewundere Ihre Arbeit für Gräser und die davon ausgehenden Gedanken. Fourier steht natürlich am Beginn des hedonistischen Kommunegedankens. Ich habe ja in der Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ Fourier aufgenommen, aber auch Thoreau. Das Kennzeichen all dieser Schöpfer ist ja, dass sie mit jeder Geste das Ganze meinen, das Gesamtkunstwerk anvisieren. 19. 3. 1988

Szeemanns liebster Traum war es, auf dem Wahrheitsberg sein eigenes Kunstmuseum und einen Skulpturenpark zu errichten. Er hatte dafür schon die Zusagen von befreundeten Künstlern, von Mario Merz und anderen. Er sagte von sich selbst: „Ich bin vernarrrt in diesen Berg“. Es muss für ihn eine große Enttäuschung gewesen sein, dass er trotz all seiner Verdienste um die Geschichte des Monte Verità, trotz seines enormen Einsatzes, seiner Beredsamkeit und seinem Charme, dieses Ziel nicht erreichen konnte. Resigniert schrieb er mir am 21. 3. 200:

Ich wurde zwar gefragt, ob ich mir was einfallen lasse zum „Jubiläum“, aber der Elan fehlt angesichts der heutigen Nutzung. Ich hoffe, Sie verstehen das. Umso mehr freut mich, dass der Gräsergeist durch Sie immer noch weiterwirkt.“