Tessiner Zeitung, 15. September 2017, S. 15:

Menschen und Meinungen

Die Wahrheit über den Berg der Wahrheit

Weitverbreitete falsche Vorstellungen, zuletzt der Artikel von Corina Kolbe im SPIEGEL vom 17. März 2017, geben Anlass, Irrtümer richtig- und grundlegende Tatsachen ans Licht zu stellen.

Die Naturheilanstalt von Hofmann und Oedenkoven hat zwar dem Berg den Namen gegeben, ist aber nicht identisch mit dem Gesamtphänomen Monte Verità (MV). vielmehr dessen schwächstes, irreguläres Glied.

Die Naturheilanstalt entstand durch den Bruch mit den Vorstellungen der Begründer der Siedlung. Aus der ursprünglich gewollten Lebensgemeinschaft mit Gemeinbesitz wurde ein kommerzielles Privatuntemchmen. Die Mehrheit der sechs Gründer - Karl und Gusto Gräser. Lotte Hattemer und Jenny Hofmann - haben diesen Abfall vom gemeinsamen Ideal nicht mitgemacht. Sie haben sich ausserhalb des Sanatoriums angesiedelt.

Durch diese sogenannten "Sezessionislen“ (Erich Mühsam) blieb die rcformatorischc Grundidee am Leben und entfaltete sich in völlig freier Weise: ohne Regierung und Regulierung, ohne Satzung und Leitung, ohne Ideologisierung und Kollektivierung. Jeder und jede lebte auf eigene Faust und Gefahr, jeder kam und ging oder blieb, wie er wollte. Aus der ursprünglich gedachten Kommune wurde eine individualistische Künstler- und Rcformkolonie, Irgendwelche Regularien gab es nicht. Zwar waren die Vorstellungen der Lebensreform grundlegend, aber nicht verpflichtend. Der ursprünglich leibbezogene Ansatz der Lebensreform wurde geweitet und vertieft zu Sozialreform und Kulturreform. Deshalb werden hier als „Monteveritaner“ auch jene bezeichnet und einbezogen, die nur zeitweise auf dem Berg sich aufhielten - wenn sie den Grundideen der „Sezessionisten“ nahestanden.

Ihre verbindende Grundidee war nicht Nacktkultur oder Vegetarismus sondern: Freiheit von Zwang, von staatlichem, gesellschaftlichem und religiösem Zwang, also: praktische Freiheit. Darum der Auszug aus den autoritär-reaktionären Monarchien Russland. Deutschland und Österreich. Darum wurde der MV eine Zuflucht für Dissidenten namentlich aus diesen Ländern.

Der MV wurde anational. multiethnisch und multikulturell. Zu ihm gehörten Russen, DeuLschrussen. Slowaken, Ungarn. Polen, Franzosen. Dänen, Schweden, Holländer. Belgier, Amerikaner. Die Reichsdeutschen waren in der Minderheit. Doch war Deutsch die verbindende Sprache.

Juden waren überdurchschnittlich vertreten. So Erich Mühsam. Emil Szittya, Magnus Hirschfeld. Raphael Friedeberg. Emst Toller, Erich und Hetty Katzenstein, Emil Ludwig, Else Lasker-Schüler, Emst Bloch. Bernhard Mayer, Ivan Goll, Martin Buber und andere. Ebenso zog es Feministinnen und emanzipierte Frauen auf den Berg: Lotte Hattemer, Elly Lenz, Ellen Key, Gabriele Reuter, Isadora Duncan, Else Lasker-Schüler und andere. Und selbstverständlich Pazifisten und Sozialrebellen aus vielen Ländern.

Die staatlich und kirchlich sanktionierte Ehe war abgeschafft:

"freie Liebe" das Panier. Geistige und religiöse Freiheit war selbstverständlich: Taoismus, Buddhismus, Hinduismus hielten Einzug. Theosophie und Anthroposophie. Nationalitäten hatten keine Bedeutung mehr. Abgelehnt wurde besonders der Militärzwang, der MV wurde Zuflucht für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Während des Ersten Weltkriegs sammelten sich hier die Kriegsgegner aller Länder. Vorbild und Anziehungspunkt war der mehrfache Verweigerer Gusto Gräser, so z.B. für Hermann Hesse und Emst Bloch.

Durch ihn, den Maler, Dichter und Tänzer, wurde der MV zur Künstler-siedlung. Die Zahl der Maler ist kaum überschaubar:

Hans Arp, Arthur Segal, Alexcj Jawlcnsky, Marianne Wcrefkin, Heinrich Maria Davnnghausen, Carlo Mense, Anton Faistauer, Georg Schrimpf. Robin Christian Andersen. Lou Albert-Lasard. Julie Wolfthom... Ascona wurde zur Wiege des Ausdruckstanzes durch Rudolf von Laban, Mary Wigman, Suzanne Perrottet und andere.

Der MV strahlte aus in die Welt. Schon 1903 wurde von San Francisco bis Batavia über ihn berichtet. Sowohl durch Schüler von Gusto Gräser wie durch Literatur, vor allem durch das Werk von Hermann Hesse, wirkte der Berg mit an der Entstehung einer Alternativbewegung in den USA. Die Ausstellungen von Harald Szeemann seit 1978 und die Fiestas Monte Verità der selben Jahre beflügelten Umwelt- und Friedensbewegung auch in Deutschland. Freunde von Gusto Gräser waren beteiligt an der Gründung der Partei der “Grünen“. Künstler wie Joseph Beuys und Friedrich Hundertwasser konnten anknüpfen an die monteveritanische Tradition.

Das gesamte Lebenswerk des Naturphilosophen Gusto Gräser, der jahrzehntelang durch Deutschland zog. mit Reden und Flugblättern alle progressiven Regungen befeuernd, blieb ungedruckt. Staatliche Verfolgung und gesellschaftliche Achtung machten ihm das Leben schwer. Da half auch nicht die Fürsprache der Intelligenz, von Thomas Mann. Richard Dehmel. Amo Holz, Gerhart Hauptmann, Hans Thoma, Ferdinand Avenarius, Friedrich Naumann und anderen. Zu revolutionär, zu „anstößig“ war sein Denken und Auftreten. Nur verdeckt, nur unter dem SchuLzmanlel der Poesie konnte über ihn gesprochen werden. Im Stillen aber und unerkannt wirkte er durch die Werke von Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann. Emil Szittya, Oskar Maria Graf. Hermann Broch. Bruno Goetz und anderer. Um ihn. seine ganz ausserailtägliche Gestalt, seine prophetische Erscheinung und Praxis, bildete sich der "Mythos" Monte Verità. Er lebt heute weiter in Romanen. Gedichten. Liedern, Filmen, Oper, Theaterstücken, Tänzen und Festspielen als das eigentliche Herz, als die leibhafte Verkörperung des Geistes vom Berg der Wahrheit.

H. Müller, Deutsches Monte Verità-Archiv, Knittlingen/Ascona