Die Zeitschrift ‚KULTURKORRESPONDENZ ÖSTLICHES EUROPA‘ bringt in ihrer Nummer vom Januar/Februar 2021 auf den Seiten 14 und 15 einen Aufsatz von Hermann Müller über den Naturphilosophen Gusto Gräser. Das Monatsblatt ist ein Organ von ‚Deutsches Kulturforum östliches Europa‘ in Potsdam.

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   »Wald, heiliger, du wundergrüner Freund« 

Gusto Gräser, Naturphilosoph und Naturprophet aus Siebenbürgen

 

Gusto Gräser aus Kronstadt in Siebenbürgen entwarf 1898 in seinem Gemälde Der Liebe Macht das Bild einer neuen Weltsicht: den Glauben an die freie Liebe und das freie Denken, an die »heilige Hochzeit« von Mensch und Natur. Mit anderen Lebensreformern und Pazifisten gründete er die alternative Siedlung Monte Verità am Lago Maggiore, die heute als Wiege der Ökologiebewegung gilt.

 

»Auf seinem Lande haust er in einer malerischen Felsenspalte. Ich liebe das Herbe, sagte er mir am Wege zu seinem Heim. Dort erblickte ich ausser einigen Decken auf dem Boden nichts einer menschlichen Spur ähnliches als einen kleinen Trog aus vier flachen Steinen gebildet, in der Grösse etwa eines Zigarrenkistchens. Er enthielt Obstkerne. Er hebt die bei seinen Obstmahlzeiten verbleibenden auf und verwendet sie bei Gelegenheit seiner Spaziergänge in der Umgebung: er streut sie aus am Wege und rechnet auf den Genuss und Vortheil, den die aus den Kernen wachsenden Obstbäume dem durstigen Wanderer am Wege bieten werden.«

Wer ist dieser deutsche John Appleseed, der Samen für Bäume sammelt und ausstreut, damit eine künftige Generation in ihrem Schatten wandeln kann? Wer ist es, von dem geschrieben steht: »Er sah die Städte von Kohlenrauch beschmutzt und vom Geldhunger korrumpiert, das Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend, jede echte Lebensregung an der Wurzel bedroht« (Hermann Hesse, um 1908)?

Gemeint ist Gusto Gräser aus Kronstadt in Siebenbürgen. Als neunzehnjähriger Kunststudent in Wien hatte er sich der Lebensgemeinschaft um den Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach angeschlossen. Dessen dichterische Mahnung hatte ihn ergriffen: »Arme Menschheit!/ Gewichen einst vom Wege der Natur/ verfielst dem Irrtum du, der Quelle allen Übels/ Nicht mehr erkennst die eigne Mutter du,/ nicht mehr dich selbst!/ Deiner Mutter Erde Liebe,/ deines Herzens reine Stimme,/ die traute Stimme der Natur,/ verhöhnest oder überhörst du,/ heilig ist dir nur –/ dein Wahn!/ Erkenn Dich selbst!/ Erkenne, Menschheit, deine Mutter, die NATUR!«

Diefenbach wollte seine Schüler zu »Gottmenschen« erziehen, zu Sendboten des »Gott-menschen« Jesus. Sie sollten aber nicht mehr ein Jenseitsreich predigen, sondern die Heiligkeit der Natur. Eine mütterliche Welt, nicht eine leibfeindliche, autoritär-patriarchale. Eine gewaltlose Kultur, nicht eine kriegerische, erobernde, ausbeutende, zerstörende. »Frieden auf Erden für Menschen und Tiere, heiliger Frieden der ganzen Natur!« So lautete Diefenbachs frohe Botschaft von 1882.

Drei Jahre später gründete er die Künstlerfamilie »Humanitas« in Höllriegelskreuth bei München, im selben Jahr 1885 entstand in Berlin der »Bruderbund« seines Schülers Johannes Guttzeit. »Fort mit der formalistischen und negativen Kritik unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtum!« (Hesse) Diese Reformer forderten die Tat und die Umkehr der ganzen Kultur. Als Apostel einer naturfromm gewordenen Jesusreligion zogen die Jünger von Guttzeit durch die Lande. Barfuß in härener Kutte, einen Kupferreif im Haar und den Wanderstab in der Hand, klopften sie an den Häusern der Menschen an, besitzlose Wanderer wie die Jünger Jesu, doch mit einem anderen Weltbild, mit einer zeit- und notgemäß gewandelten Botschaft. Nicht eine Apokalypse verkündeten sie, sondern eine »Blütezeit«, »Erdsterns Dochblütezeit«.

So jedenfalls der Guttzeit-Jünger Gusto Gräser. In seinem Gemälde Der Liebe Macht von 1898 entwarf er das Bild dieser neuen Weltsicht. Es ist zweigeteilt: Die eine Hälfte zeigt die Todeswelt einer sich selbst zerstörenden Zivilisation. Die andere die Zukunftswelt einer naturfrommen Menschheit, bekrönt vom Felsentempel einer neuen Religion. Damit fasste Gräser ins Bild, was schon zur Zeit der Französischen Revolution die schwäbische Dreiheit von Hegel, Schelling und Hölderlin gefordert hatte: »Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. […] Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften.«

Gräser erträgt die Hässlichkeit der Städte nicht, nicht den Raubbau der Plünderkultur, nicht den Maschinismus der Ackerindustrie. Ein Leben lang wird er in seinen Reden und Schriften dagegen wettern. In Kutte und Sandalen, besitzlos und heimatlos, wird er durch die Lande ziehen, als lebendes Menetekel zur Umkehr aufrufen. Er schafft sich eine Eigentracht: keine Mönchskutte, sondern ein vielfarbiges wollenes Gewand, das an den Naturgeist Rübezahl erinnert, sinnigerweise mit einem kleinen Stoffschwänzchen am Hinterteil. Mit dieser ebenso poetischen wie prophetischen Gewandung wurde er unübersehbar, ein wandelndes Plakat seiner Gesinnung, ein Mahner ohne Worte. »Er lehrte immer«, schrieb Heinrich Zillich über ihn, »sein härenes Gewand zeigte, was er lehrte.«

Gräser geht über seine Lehrer Guttzeit und Diefenbach noch weit hinaus. Er schafft eine Plastik, die den biblischen Mythos auf den Kopf stellt. Der Sündenfall wird ihm zum Glücksfall: »Paaren, Allpaaren will Urlebens Geist!« Seine Dichtung feiert die »Allvermählung«, den »Lebenstausch« aller Wesen, die »heilige Hochzeit« von Mensch und Natur.

Freie Liebe und freies Denken! In diesem Sinne gründet er gemeinsam mit seinem Bruder Karl und anderen eine Siedlung, die die neue Lebensweise beispielhaft verwirklichen soll: die Siedlung Monte Verità am Lago Maggiore, auf einem Felskopf über Ascona. »Berg der Wahrheit« oder eher noch: »Berg der Wahrhaftigkeit«. Hier soll, im Sinn einer »natürlichen Lebensweise«, alles reformiert werden, von der Ernährung bis zur Rechtschreibung. Kein Fleisch, kein Alkohol, kein Nikotin, keine Butter, keine Milch, kein Leder – man lebt vegan. Korsett, Hut und steifer Kragen sind dahin. Weg mit dem ganzen viktorianisch-wilhelminischen Kleider- und Möbelplunder! Man haust in einfachen Holzhütten. Weg vor allem mit staatlichem und kirchlichem Zwang: Schulzwang, Ehezwang, Militärzwang. Kein Herr und keine Knechte: Selbstarbeit. Und allem voran: Suche nach der Wahrheit über alle nationalen, konfessionellen und kulturellen Grenzen hinweg.

So jedenfalls ist die Idee. Gegen ihre Verflachung und Verfälschung durch einen millionenschweren Geldgeber stemmt sich allein Gusto Gräser. Er zieht sich in eine Höhle in den Bergen zurück. Dort wird der junge, aber schon berühmte Schriftsteller Hermann Hesse sein Schüler. Eine solche Szene hatte es in der europäischen Geistesgeschichte bis dahin nicht gegeben: ein noch nicht dreißigjähriger Einsiedler und Dichter in einer Felsgrotte der Alpen, der zusammen mit einem anderen Dichter die heiligen Schriften der Inder liest. Eine Urszene, ein archetypisches Bild. Indien kennt es als Satsang: »Ein Zusammensein von zwei Menschen, die durch gemeinsames Hören, Reden, Nachdenken und Versenkung nach der höchsten Einsicht streben.« Beide befinden sich buchstäblich im Schoß der Mutter Erde, aus dem im Mythos die Helden, die Befreier, die Götter hervorgehen. Hesse hat die Szene im Sommer 1917 gemalt, nach einem erneuten Besuch auf dem Monte Verità: In finsterer Nacht beten oder tanzen zwei Gestalten in einer Felsgrotte um einen flammenden Feuer­altar. Ein Bild ihrer damaligen Situation: Als aktive oder potenzielle Kriegsdienstverweigerer standen sie außerhalb der herrschenden Gesellschaft. Gusto Gräser war kurz davor seiner Erschießung im Kronstädter Gefängnis entgangen. Hesse, der einstige Kriegsfreiwillige, findet an ihm Halt und Stütze, einen Freund in der Not. Er wird zum entschiedenen Kriegsgegner. Dichterisches Ergebnis seiner Erfahrungen ist der Roman Demian, der die Kriegsgeneration elektrisierte. Hesse zeichnet seinen Freund als Propheten einer Neukultur, einer Kultur, die im Zeichen der Mütterlichkeit steht. »Die Welt will sich erneuern!«, wie es in Hesses Demian heißt.

Der Monte Verità gilt heute, trotz seiner späteren Kommerzialisierung, als eine Wiege der Alternativkultur und der Ökologiebewegung. Mit vollem Recht allerdings nur durch Gusto Gräser, den wandelnden »Wahrheitsberg«. In seinem Gefolge, durch seine Freunde, entstanden nach dem Krieg in Deutschland Landkommunen und alternative Bewegungen, die pazifistisch-ökologische Forderungen stellten. So schrieb sein Freund Friedrich Lamberty in einer Flugschrift 1919: »Erhaltung der Naturdenkmäler, Belebung des Dorf- und Stadtbildes durch Erhaltung und Anpflanzung von Bäumen, Schutz der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt vor völliger Ausrottung und Schutz heimischer Gewässer vor Verschmutzung.« Er belässt es nicht bei Worten. Mit einer »Neuen Schar« von 25 jungen Männern und Frauen ziehen er und Gräser 1920 durch Thüringen, mit Gedichten, Reden, Spiel und Tanz die Menschen zur Umkehr aufrufend. Tausende schließen sich ihnen an; »ganz Thüringen tanzt!«, schrieb der Verleger Eugen Diederichs. Die Kirchen wurden ihnen geöffnet, namhafte Theologen setzten sich für sie ein. Man sprach von einem »Kreuzzug der Fröhlichkeit«. »Leben in Harmonie mit den Naturgesetzen«, lautete die Losung der Wanderschar. Hermann Hesse hat ihren Zug in einer Erzählung als Pilgerfahrt »in die Heimat des Lichts« gedeutet.

Ein anderer Freund, Willy Ackermann, rief die »Deutsche Gandhi-Bewegung« ins Leben, die ebenfalls übers Land zog und den Menschen vorführte, wie man aus Abfall wieder nützliche Möbel oder Kleider herstellen kann. Bei Berlin entstand die Landkommune »Grünhorst« von Gräsers Tochter Gertrud, die zu einem Treffpunkt der »Biosophischen Bewegung« um den Biologen und Dichterphilosophen Ernst Fuhrmann wurde. Diese Keimzelle einer frühen ökologischen Denkrichtung wurde 1933 zersprengt. Ihre Mitglieder, Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker, gingen in die Emigration oder in den Widerstand.

Gräser selbst, der in seinen jahrelangen Reden in deutschen Großstädten – in Leipzig und Stuttgart, München und Berlin, Hamburg und Karlsruhe, Freiburg oder Pforzheim – unermüdlich für eine »Waldgartenwelt« geworben hatte, der schon vor dem Ersten Weltkrieg vor einem kommenden Waldsterben gewarnt hatte, sah sich nach 1933 seiner öffentlichen Wirkungsmöglichkeit beraubt. Wie in einem letzten Aufbäumen war er 1933 mit seinem jungen Freund Otto Großöhmig in einer Eselsfuhre durch Deutschland gefahren, symbolisch auf einen großen Vorgänger verweisend. Die Fahrt endete für Großöhmig im KZ. Nach dem Krieg wurde er ein Mitgründer der Partei der »Grünen«. Gräser selbst, wiederholt verhaftet und mit Schreibverbot belegt, überstand in Münchener Dachkammern, halbverhungert, die Jahre der Schande und des Terrors.

Mehr als je warf er sich auf sein ureigenstes Feld, die Sprache. Nach dem Krieg entstand sein Hauptwerk, das siebenteilige Siebenmahl. Hatte er früher schon in Reden und Sprüchen leidenschaftlich für den »Wald und das Wohl der Welt« geworben, so wurde ihm jetzt der Baum zum symbolischen Bild, zum »Wonnewunderkugel-Weltenbaum«, in dem das Weltgeheimnis sich ausspricht. Hatte Hermann Hesse ihn schon 1914 als den »Waldheiligen« mit dem »Dritten Auge« gesehen, der das »heilige Waldlied« gedichtet hat, so machte Gräser diese Hellsicht nun endgültig wahr. Der Mann aus Transsilvanien, von jenseits des Waldes, hat weit entschiedener noch als Klingsor, sein sagenhafter Landsmann, den Baum als das Ursymbol allen Lebens in seine mythische Dichtung eingebracht.

Die Zeitschrift Le Point, das französische Gegenstück zum Spiegel, zählt Gräser in einem Sonderheft zu den Großen der Menschheit, zu Sokrates, Franziskus, Laotse, Jesus und Gandhi. Mit Recht. Sie alle waren Propheten eines einfachen, naturfrommen Lebens.

Hermann Müller