Verantwortlicher Autor: Sergej Perelman Kronstadt/München, 03.01.2025, 22:10 Uhr
Gusto Gräser (um 1909). Foto: Hermann Müller, Freudenstein Knittlingen
Kronstadt/München [ENA] Arthur Gustav Gräser (1879-1958), bekannt als Gusto Gräser, war eine schillernde, tiefsinnige, gütige, rätselhafte und zutiefst eigensinnige Person seiner Zeit, die jedoch ein zeitloses Vermächtnis für uns Heutige bereithält sowohl in Form von Anekdoten, die anspornen und inspirieren, als auch von meditativen Gedichten und Sentenzen, die uns ergreifen, erheben, erwecken wollen aus dem Tode des Unlebendig-seins.
Philosophische Geleitworte zur Einstimmung
Um dem Wesen des Gusto Gräser, aber auch unserem eigenen vielleicht näher zu kommen, wollen wir uns eine philosophische Reflexion des Theologen und Psychoanalytikers Dr. Eugen Drewermann zu Gemüte führen, die sich mit der tiefsten Problemstellung jedes Einzelnen überhaupt beschäftigt: "die Angst der Freiheit vor sich selbst".(2) "Offensichtlich ist es mit der Harmlosigkeit der philosophischen These nicht getan, das Böse entstamme letztlich der menschlichen Freiheit; denn das tut es zwar, aber es bleibt bei einer solchen Auskunft unverständlich, welch ein Interesse daran haben soll, sich selbst zum Bösen zu bestimmen."(3)
"Zwar gehört zur Freiheit auch die Möglichkeit zum Bösen; aber welch ein vernünftiger Mensch will denn das Böse wirklich, es sei denn unter dem Aspekt irgendeines Vorteils? Solange dieser Vorteil nicht verstanden ist, hat man von dem Geheimnis des Bösen nichts verstanden. Es ist hier die Hauptthese dieses Buches, dass der Jahwist vollkommen zu Recht das Böse aus der Angst des Menschen ableitet; dabei kommt aber alles darauf an zu verstehen, dass das Auftreten des menschlichen Bewusstseins selbst mit Angst verbunden ist, und zwar mit Angst nicht nur vor inneren und äßeren Bedrohungen, sondern mit Angst vor sich selbst."(4)
"Diese Angst durch Vereinseitigung der Daseinsspannungen, durch Zerstörung der eigenen Freiheit, durch Vernichtung des eigenen - und dann auch des fremden - Daseins zu beseitigen, ist der Hauptvorteil, den das Böse dem Menschen bringt. Ein derartiger Hang zur Deformation und Destruktion des Daseins in jeder Weise muss sich unausweichlich nahe legen, wenn der Akt der Bewusstwerdung, der die Daseinsangst auslöst, nicht sich selbst durchsichtig wird in Richtung auf den Grund des Seins, dem das Dasein sich selbst verdankt. Mit gewissem Recht hielt daher Hegel (und Jung) die Bewusstwerdung für das Böse an sich."(5)
"Unausweichlich entdeckt der Mensch, wenn er zu sich selbst erwacht, seine verheerende Nicht-Notwendigkeit, die seine Freiheit ausmacht, die aber zugleich seine Ohnmacht, seine 'Nacktheit' (Genesis 3, 7) darstellt. Und es ist nun die alles entscheidende Frage an den Menschen, wie er diese Nichtigkeit, wie er das Nichts, das in ihm selber liegt, erträgt. Wir glauben die jahwistische Darstellung des Bösen in Genesis 3 richtig wiederzugeben, wenn wir behaupten, ein jeder Mensch weiche seiner Nichtigkeit aus;"(6)
"es liege eine Art Zwang in ihm, vor lauter Angst, ein Nichts zu sein, Gott aus den Augen zu verlieren, und von diesem Moment an könne der Mensch sich selber nicht mehr akzeptieren; er müsse sich ohne Gott für sich selber schämen; und vor der Scham, die er vor sich selbst empfinde, vor dem Skandal der eigenen Obszönität, fliehe er in den Willen, wie Gott sein zu wollen. Ist es soweit gekommen, so befinden wir uns auf der Stelle mitten in den neurotischen Konflikten von Minderwertigkeitsgefühlen und Überkompensationen, von Selbstentwertung und Selbstübersteigerung, von tödlicher Konkurrenzangst und sadomasochistischen Gewaltakten;"(7)
"dann ist die Neurose das vermeintlich ontologische Schicksal des Menschen; und es erscheint dann als völlig glaubwürdig, dass am Ende alles auf die eine Frage des Jahwisten ankommt, ob der Mensch sein Dasein von Gott her empfängt oder ob er dazu verurteilt ist, in unendlichen Anstrengungen an dem Versuch zu scheitern, sich selber einen absoluten Grund und Halt für seine Angst und seine Nichtigkeit zu schaffen. Jede Neurose ist, gelesen als geistiger Ausdruck, ein solcher Versuch, die Nichtigkeit des eigenen Ichs in irgendeiner Weise erträglich zu machen; sie ist eine permanente Flucht vor sich selbst;"(8)
Ein paar Lebensdaten
Am 16.2.1879 kommt Gustav Arthur Gräser zu Kronstadt in Siebenbürgen (heutiges Rumänien) zur Welt. Sein Vater war ein Bezirksrichter, seine Vorfahren siebenbürgische Geschichtsschreiber und Bischöfe. Er stirbt am 27.10.1958 in Freimann bei München. Doch bei dem Wörtchen stirbt könnte man sich etwas anderes denken als die übliche, materialistische Vorstellung es einem aufzwingt: eine endgültige Auflösung von allem; viel eher stirbt er in ein neues Leben, denn nicht umsonst heißt es in einem seiner Gedichte an einer Stelle: "Schau den Lebendigen: / Sich innig verwendend, starrt ihm kein Ende, / stört ihn kein Tod. / Aufgehend im Eben, lässt auf ihn das Leben blühn, / weil er ihm traut, ist Es ihm grün."(9)
Gedicht
"Was ich getan auf meiner Lebensbahn? - Gewartet hab ich holdsten Lebenswahn, wenig erwartet, wenig nur erharrt und mich wie meine Welt drum nicht ums Heil genarrt. So wie ein Gärtner, eine Mutter tut, hegt ich den Keim, das Kind „Weltheil“ grundwohlgemuth. Was konnt ich, kann ich Bessres tuhen, treiben, werben, als aus Allkraft mit aller Lust und Lieb es zu entzeugen, zu entzücken dem ewgen Jetzt, ins Lebenswunder tiefhinein zu sterben !?"(10)
Zwei Anekdoten - Traum von einer "Neuen Schar"
Gerade heute, da hierzulande ständig nur die Rede ist von Kriegstüchtigkeit, Aufrüstung und immer tödlicheren Waffensystemen, lädt Gusto Gräser uns ein, einen ganz anderen, kaum betretenen Pfad zu nehmen. 1902 verweigert er den Militärdienst und kommt in Kerkerhaft in Österreich. Im Herbst 1915 wird Gräser aus Deutschland ausgewiesen. In Österreich verweigert er den Kriegsdienst, das Urteil lautet: Erschießung. Wie das dann am Ende ausgeht, erzählt die folgende Anekdote.
"Auf die Nachricht jedoch, dass ihrem Mann in Siebenbürgen die Verurteilung und möglicherweise seine Hinrichtung bevorstand, eilte sie im Dezember 1915 mit der fünfjährigen Trudel nach Kronstadt, um Gusto nahe zu sein. Gusto, vor die Entscheidung gestellt, die Uniform anzuziehen oder erschossen zu werden, war standhaft geblieben. Während die meisten anderen Frauen ihren Mann bestürmt hätten, um der Kinder willen sich sein Leben zu erhalten, tut sie nichts dergleichen sondern bestärkt ihn noch in seinem Entschluss."(11)
"Sie will sogar dabei sein, wenn er erschossen wird, hat aber das Gefühl, dass ihm nichts geschehen könne. Und tatsächlich: als sie frühmorgens an den Ort der Hinrichtung kommt, ist Gräser verschwunden. Über Nacht hatte man ihn nach Klausenburg in eine Irrenanstalt transportiert."(12) "Zu Kronstadt auf der Burg, [...], als Militärdienstverweigerer verurteilt, erschien ihm an der Kerkerwand ein Bild: eine endlose Schar von lachenden Erdensöhnen, die Menschen der Zukunft. 'Hei, wie das lacht und kracht!'"(13)
"Einer seiner jungen Freunde machte aus dieser Vision ein Büchlein, die 'Worte an eine Schar'. Er proklamierte die Hoffnung, dass sich aus der Mitte der Jugend heraus 'die heilige Schar bilden wird, die mit der Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes ringt. Ein anderer junger Freund, Friedrich Muck-Lamberty, unternahm es, diesen Bund im Wandervogelfeld zusammenzutrommeln. Ab Pfingsten 1920 zog die 'Neue Schar' singend, tanzend und spielend durch Thüringen. 'Ganz Thüringen tanzt … Tausende auf einem Platz!', schrieb der Verleger Eugen Diederichs. Gräsers Gedichte flatterten dem Zug voran, er sang und sprach an den Lagerfeuern der Schar. Von einem 'Kreuzzug der Fröhlichkeit' war die Rede, von einem 'Kinderkreuzzug'."(14)
(1) Dokumentarfilm über Gusto Gräser: https://www.youtube.com/watch?v=ukA-5cU8Dtw. (2-8) Eugen Drewermann: Heilende Religion. Überwindung der Angst, hrsg. v. Joachim Kunstmann, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2006, S. 61-64. Bzw. hier: https://www.youtube.com/watch?v=LW9RIVQXn28 (9) Gusto Gräser: TAO. Das heilende Geheimnis. Ein in den Wehen der Zeit wiedergeboren Meschheit-Buch zur großen Heimkehr – Genesung – unserer Welt, 3. erweiterte Aufl. 2016, Umbruch-Verlag, Buchrückseite.
(10) http://www.gusto-graeser.info, Reiter: "Leben". (11,12) http://www.gusto-graeser.info, Reiter: "Personen", "Elisabeth". (13,14) http://www.gusto-graeser.info, Reiter: "Leben". (15) Umfassende Informationen zu Person, Leben und Werk: https://www.gusto-graeser.de
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