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Der Lebensreformer
Karl Wilhelm Diefenbach

Aus: Biorama

Er war Prophet, Künstler und Rebell. Der Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach nahm Ende des 19. Jahrhunderts vieles vorweg, was in den 1960ern erst massentauglich wurde und heute als nachhaltiger Lebensstil bezeichnet wird.

Das 19. Jahrhundert konfrontierte die Menschen mit gravierenden Veränderungen, die Industrialisierung und das Anwachsen der Städte veränderten Leben und Denken. Die zunehmende Armut der Bevölkerung, deren Arbeitskraft ausgebeutet wurde, die Kriegspolitik und das Klassendenken fanden einen Gegenpol in der Lebensreformbewegung.

Karl Wilhelm Diefenbach, geprägt von der künstlerischen Persönlichkeit des Vaters, beschäftigte sich schon früh mit Malerei und Fotografie. An der Münchner Kunstakademie studierte er 7 Jahre, erhielt Stipendien, hielt sich aber wenig dort auf. Eine Typhuserkrankung in jungen Jahren und schlechte ärztliche Behandlungen, die ihm Folgeschäden bescherten, bildeten den Anfang eines lebenslangen Leidens, das sich stark auf die Kunst, aber auch auf die Lebensgestaltung Diefenbachs auswirkte.

Der Künstler erfährt zwar Zuspruch von Adeligen, für die er malen soll, überwirft sich aber auch schnell mit ihnen und tritt aus der Kirche aus. Nie ist er ein Gegner der Spiritualität, vielmehr aber stößt er sich am Dogmen-Denken und den konservativen moralischen Werten der Kirche.

Im fleischverliebten und trinkfesten München ist es ein schwieriges Unterfangen, wenn er "gegen das Verzehren von mit Salz und Pfeffer einbalsamierten Tierleichnamen" auftritt und auch den Alkoholgenuss anprangert. Der als "Kohlrabi-Apostel" bezeichnete Reformer wird als Weltfremder degradiert. Nicht unkontroversiell sind seine Ansichten bei seinen freidenkerischen Zeitgenossen, gibt es doch in München zahlreiche Vereine, die sich der Lebensreformbewegung widmen. Der Künstler selbst gründet den Verein "Menschheit", um seine Ideale zu proklamieren und findet auch zahlreiche Anhänger. Nacktheit ist für Diefenbach etwas Natürliches, Versöhnung mit der Natur notwendig. Zwar predigt er Keuschheit, setzt sich aber stark für uneheliche Kinder ein. In Kindern generell sieht er die Zukunft der Gesellschaftsreform.

Immer wieder wird Diefenbach von körperlichen Leiden geplagt. Schließlich zieht er sich mit Frau und Kindern sowie einigen Anhängern in die Einöde zurück und gründet die Kommune "Humanitas. Werkstätte für Religion, Kunst und Wissenschaft". Hier widmet er sich erneut stark der Kunst und nimmt die Natur in sich auf. Sein bekanntester Schüler, der Jugendstilmaler Hugo Höppener, genannt Fidus, ließ sich von der Nudistenkommune, der bald der Prozess gemacht wurde, stark beeinflussen. Es ensteht das gemeinsame und bekannteste Werk, das Fries "Per aspera ad astra". Nach einer erfolgreichen Zusammenarbeit und Freundschaft von Fidus und Diefenbach folgt der Bruch. Diefenbach hat finanzielle Probleme, ständig mit dem Gericht zu kämpfen, 1890 stirbt die Frau.

Diefenbach reist Anfang der 1890er Jahre nach Wien, wo er künstlerischen Erfolg genießt, aber aufgrund starker Differenzen mit dem Kunstverein verarmt. In Baden bei Wien kommt er mit seinen Kindern in einem Landhaus unter, wo er wieder auf die Füße kommt, vor allem durch die Unterstützung von Katharina Kolarik, die ihm bei der Erziehung der Kinder hilft. Die junge Magdalene Bachmann, mit er nach Wien zieht, fasziniert ihn. Der Künstler kann sich nicht mit der Monogamie anfreunden, was Katharina Kolarik in den Selbstmord treibt. Es folgen intensive künstlerische Arbeit und wieder mehrere Ausstellungen. Diefenbach kommt mit der Friedensbewegung und Bertha von Suttner in Kontakt, die von ihm beeindruckt ist.

1897 gründet Diefenbach eine neue Kommune am Himmelhof in Wien Ober St. Veit, worauf sich Suttner von ihm distanziert. Eine yberquerung der Alpen mit Kindern und Anhängern, die fotografisch dokumentiert wird, endet in Innsbruck, von wo Diefenbach an den Gardasee reist und neue adelige Mäzene kennenlernt, die ihm eine Reise nach Ägypten finanzieren, wo Bilder von der Sphinx von Gizeh entstehen und er ein Heim für Waisen plant. Gerade Wohlhabende finden starken Gefallen an der Kunst des Lebensreformers, der opulente Bilder seiner anderen Welt entstehen lässt.

Einem zweiten Wien-Aufenthalt folgt die letzte Phase seines Lebens in Capri, wo er sich der Natur dort widmet und sich gegen den Tourismus wendet. 1913 stirbt er an einem Darmverschluss.

Diefenbachs Wirken zeigt sich als radikales Lebenskunstwerk. Die von ihm gepredigten Grundsätze finden sich in abgeschwächter Form im heutigen urbanen Lebensstil wieder.

Die Kuratorin Claudia Wagner hat sich in ihrer Dissertation intensiv mit Leben und Wirken des Lebensreformers Diefenbach beschäftigt. Für das Museum Villa Stuck München stellte sie die Ausstellung "Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913). Lieber sterben, als meine Ideale verleugnen!" zusammen, die vom Wien Museum von 7. April bis 26. Oktober 2011 unter dem Titel "Der Prophet. Die Welt des Karl Wilhelm Diefenbach" in der Hermesvilla gezeigt wird. Erwin Uhrmann traf Claudia Wagner für Biorama zum Interview.

Könnte man Wilhelm Diefenbach als Gesamtkünstler bezeichnen?

Claudia Wagner: Durchaus! Allerdings ist der Begriff des Gesamtkunstwerks bei Diefenbach nicht so sehr im Sinne Wagners zu verstehen. Vielmehr ist es in seinem Fall angeraten, als besonderes Kennzeichen des Gesamtkunstwerks, nicht allein die multimediale Verbindung aller Künste in einem einzigen Kunstwerk gelten zu lassen, so wie er es bei einzelnen aufwendig inszenierten Ausstellung umgesetzt hat, sondern vor allem auch noch eine andere Verbindung zu beachten: die von Kunst und Wirklichkeit; zum Gesamtkunstwerk bei Diefenbach gehört auch die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität. Diese Einheit quasi von Kunst und Leben ist bei ihm aufs äußerste verwirklicht. Seine Kunst lässt sich ohne Kenntnis seiner Person nicht verstehen und umgekehrt bedarf es der Biografie und Erfahrungen des "Propheten", um entsprechend missionarische Gemälde zu entwickeln.

Welche Motive haben ihn am meisten beschäftigt?

CW: Diefenbachs Werk teilt sich in vier große Bereiche. Neben den Schattenrissen, zu dem sein Hauptwerk Per aspera ad astra gehört, treten die Gemälde mit lebensreformerischem Inhalt hervor. "Du sollst nicht töten" als Ikone des Vegetarismus, nackte Epheben als Sinnbilder von Nudismus und Natürlichkeit etc. Auch malt er zeitlebens spirituelle, häufig christliche Motive rund um den erlösenden Heiland. Jesus wird von Diefenbach allerdings primär als Identifikationsfigur für den Außenseiter und neuen Propheten instrumentalisiert.

Ab 1900, d. h. mit seiner Übersiedlung nach Capri, liegt der Schwerpunkt seines Werkes in symbolistischen, mystischen Landschaften.

Welche entscheidenden Einflüsse hatte Diefenbach?

CW: Diese Frage stellt man sich als Historiker natürlich immer und findet bei Diefenbach schwerlich eine Antwort. Geprägt ist er natürlich durch sein bildungsbürgerliches Elternhaus, der Vater Leonhard, der selber spätromantische Veduten malte und Kinderbücher illustrierte. In München dann die Jahre an der Akademie unter den Historienmalern Piloty und Kaulbach D doch von all dem spürt man künstlerisch wenig in seinem Werk. Auch auf Kontakte zu anderen zeitgenössischen Malern gibt es keine Hinweise. Vielleicht war er tatsächlich ein Vorläufer der "Outsider Art", d.h. der Autodidakten, die aus ihren persönlichen Erfahrungen heraus ganz eigene Wege gehen.

Diese persönlichen Erfahrungen, auf die er eine Antwort suchte, waren natürlich die Widrigkeiten einer Epoche, die im Umbruch steckte: Industrialisierung, wachsenden Großstädte, Überbevölkerung, schlechte Ernährung, Alkoholsucht und Luftverpestung, militärischer Aufrüstung etc. Ohne den lebenslangen Kampf Diefenbachs gegen ein solches "Jammertal" und sein Streben nach einer idealistischen Erneuerung ist das Werk des Künstlers nicht zu verstehen.

Wie stand er zur Kirche?

CW: Bezüglich seiner philosophischen Grundlagen war Diefenbach durch tiefen Katholizismus und hörige Gottgläubigkeit seitens seines Elternhauses geprägt. Er rebellierte allerdings sehr früh gegen die Institution Kirche, gegen die "Schwarzröcke" und den "tabakstinkenden Zölibaterich" und machte sich auf die Suche nach dogmenloser "Menschlichkeit", nach mystischen Mächten in der durchgöttlichten Natur, in exotischen Philosophien, die sich schließlich in der Theosophie verbanden, und in einem übersteigerten Individualismus, der in Nietzsches ybermenschentum kulminierte. "Natur" und "Selbst" mit diesen Schlagworten leitete Diefenbach einen Kulturwandel ein, der das gesamte folgende Jahrhundert prägen sollte.

Warum ist Diefenbach heute eher in den Hintergrund geraten?

CW: Bezüglich seiner lebensreformerischen Ambitionen, die Alltag und Kunst prägten und quasi Motor seines umstrittenen Lebenswandels waren, ist Diefenbach in der einschlägigen Literatur, die bisher allerdings nur Spezialisten vertraut war, als Vorkämpfer unbestritten. Allerdings brachte er nicht die Konsequenz der nachfolgenden Generation auf, blieb häufig in traditionellen Werten und gesellschaftlich-konservativen Vorgaben verhaftet - hingewiesen sei nur auf seine konventionellen Eheschließungen oder seiner Wahl adelig-anerkannter Fürsprecher und Mäzene. Diese Zwiespältigkeit zusammen mit einer ausgesprochen autoritären und wenig gewinnenden Persönlichkeit ließen ihn nicht zu einer "Gallionsfigur" für etwaige Bewegungen werden.

Auch folgte mit dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland auch eine Entwicklung, die einerseits Teile des lebensreformerischen Gedankenguts übernahm und pervertierte, andererseits auch eine tiefe Zäsur bildetet und eine unbedarfte Rezeption vorerst verhinderte.

Gibt es heute Bewegungen, die ihn als Gallionsfigur sehen und sich mit seinen Grundsätzen identifizieren?

CW: Nein, nicht dass ich wüsste.

Warum haben Sie sich so intensiv mit Diefenbach beschäftigt?

CW: Ausgang fand meine Beschäftigung mit Diefenbach in seiner symbolistischen Kunst, die mich - damals als Kunsthändlerin in einer Galerie für 19. Jahrhundert tätig - faszinierte. Im Anschluss hatte ich das Glück, den Enkel des Malers, Fridolin von Spaun, kennenzulernen und ihn in den letzten Lebensjahren bis ins Alter von 104 zu begleiten. Herr von Spaun hatte ein umfangreiches Familienarchiv mit wertvollem und bis dahin durch die Wissenschaft unbeachtetem Material aufgebaut. Das Potential, das in diesen Archivalien zu einem unerforschten aber wegweisenden Künstler und Kulturrebellen steckte, hat mich schnell und über viele Jahre begeistert. Diefenbach ist ein Künstler, der für den Kunsthistoriker mehr birgt, als bloße Bildbeschreibung und -interpretation!

Gibt es heute Ansätze, die damaligen Werte wieder aufzugreifen? Das Wien Museum zeigt die Diefenbach Ausstellung und auch eine große Rudolf Steiner Ausstellung.

CW: Diefenbachs Einflüsse reichen bis zu den ökologischen Kämpfern unserer Tage, womit man dort angekommen ist, wo Diefenbach bis heute relevant und aktuell bleibt. Denn mehr als 120 Jahre später hat sich an den Forderungen nicht viel verändert - mit Ausnahme der Begrifflichkeiten von Ökologie bis Nachhaltigkeit. Gerade der Kampf zwischen Mensch und Natur, den Diefenbach formulierte, ist noch lange nicht beigelegt und was Diefenbach äußerte, war dabei nur ein Anfangsverdacht. Damals war der "Kohlrabi-Apostel" Außenseiter in seiner Zeit, heute scheint er Prophet und seine Visionen vom Leben im Einklang mit der Natur, von einer Religion der "Menschlichkeit  und der allgemeinen Mäßigung der Bedürfnisse", also einer neuen Bescheidenheit, entsprechen den politischen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen unserer Zeit.

Ähnliche Parallelen , also auch die Suche nach einer neuen Spiritualität, die ab 1900 Steiner und davor die Theosophen befriedigten, lassen sich heute in zahlreichen Facetten herkömmlicher Religionen, in sektiererischen und okkultistischen Bewegungen wiederfinden. Die Flucht vor der Vernunft bewegte womöglich nicht nur die letzte Jahrhundertwende.

Kann man die Bewegungen der 1960er Jahre mit den damaligen vergleichen? Entstehen solche Bewegungen immer aus autoritären Verhältnissen heraus?

CW: Würde man Diefenbachs Einflüsse nachverfolgen, käme man über seinen Schüler Gusto Gräser und die Kommune des Monte Verità zu den Blumenkindern Amerikas und dann schließlich zur Hippie-Bewegung der 1960er Jahre. Vergleichbar ist sicher der Kampf beider gegen ein autoritäres Regime, der sich bei Diefenbach gegen das wilhelminische Kaiserreich entlud, in den 1960er Jahren gegen den "Muff von 1000 Jahren" und die elitären Strukturen der Nachkriegsgesellschaft protestierte. Bei der Protestbewegung der 1960er Jahre macht es den Anschein, als wäre der Kampf gegen überholte Traditionen teils erfolgreich, bei Diefenbach mündeten viele der auch von ihm vorformulierten Ideale pervertiert und missbraucht in einem noch autoritäreren Regime.

Wie war das Leben in der Kommune von Diefenbach? Kann man hier Vergleiche zu den Kommunen, die nach den 60er Jahren entstanden sind, ziehen?

CW: Hierbei müsste man die Kommunen der 1960er Jahre im Einzelnen betrachten. Grundsätzlich hatten Diefenbachs Kommunen eine autoritäre Struktur mit ihm als privilegiertem Meister. Der Charakter seiner Kommune erinnert damit in Teilen eher an den einer Sekte mit einem vorstehenden Guru, der seinen Schülern die Regeln diktiert. Das liberale und egalitäre Wesen, das man spontan mit den meisten Sekten der 1960er Jahre verbindet, ist Diefenbachs Gemeinschaft noch fremd.

Wie ist in der Kommune mit Sexualität umgegangen worden? Es gab strenge Grundsätze, aber wurden die eingehalten?

CW: Zu den klaren Grundsätze des Zusammenlebens gehörte unter anderem: keine erotische Beziehung innerhalb der Gemeinschaft. Dies war eine Regel für die Jünger, nicht für den Meister, der immer eine Dame an seiner Seite hatte, die er mit der Verpflichtung zu sexuellem Verkehr - würdigtet. Auch sind intime Beziehungen seiner Tochter Stella belegt.

Natürlich blickt man nicht unter die Kutte jedes einzelnen Jüngers. Zwar musste jedes Kommunenmitglied zur Kontrolle der folgsamen Unterwerfung ein detailliertes Tagebuch führen, allerdings wurden diese regelmäßig dem Meister zur Einsicht vorgelegt, sind demnach zensiert und nicht objektiv. Bei der Einschätzung der Sexualität innerhalb der Kommune, die in der Presse eines "unsittlichen" Treibens bezichtigt wurde, sollte man generell realistisch bleiben.

Was von Diefenbachs Gedankengut ist heute noch aktuell?

CW: Es bleibt sicher keinem, der sich intensiv mit Leben und Werk Diefenbachs auseinandersetzt, verborgen, dass er gerade in Bezug auf die Lebensreform unsere Epoche mit ihrem aufgeklärten und vielfach gelebten Vegetarismus, mit ihrer Öffnung zu Sonne, Luft und Licht, mit ihrer Begeisterung für sportliche Betätigung und ihrem heilpraktischen, alternativen und ökologischen Engagement viele Bewegungen weit vorausahnte. Auch die eng geschnürte Korsage wurde von Diefenbach endgültig geöffnet, die Nacktkörperkultur und die sexuelle Befreiung des 20. Jahrhunderts unter seiner Kutte und in seiner Kommune bereits gelebt. Nicht umsonst hat die Ausstellung den Titel "Der Prophet" und viele Besucher werden ihre eigenen ökologischen Ideale dort als frühe, vage Visionen wiederfinden.

TEXT: Erwin Uhrmann