In den Medien: von und zu Karl Wilhelm Diefenbach

Antonia Tafuri und Roberta De Martino


Diefenbach e Capri. Presentazione di Fabrizio Vona.
Leider ist zum 100. Todestag Karl Wilhelm Diefenbachs in Deutschland kein Buch erschienen. Anders in Italien: in 16 Kapitel beschäftigen sich die beiden Autorinnen u.a. mit Diefenbachs künstlerischer Einordnung, seiner Beschäftigung mit der Lebensreformbewegung und der Theosophie, der Bedeutung der Sonne und der Musik im Werk, der Inspiration durch die Monte Verita Bewegung, dem Göttlichen im Werk, den Silhouetten und der Bildhauerei, dem Fries »per aspera ad astra«, der Natur und Diefenbachs Nachlaß auf Capri. Das ist ein sehr breites Themenspektrum für ein Buch von 107 Seiten, und so können viele Aspekte auch nur angerissen und nicht bis in die Tiefe erörtert werden. Trotzdem bietet das empfehlenswerte Buch einen sehr guten Überblick und bringt selbst dem Diefenbach-Kenner viele neue Einblicke und Einsichten.

Herausgeber: Ulrich Schuch, M 1, 6, 68161 Mannheim
www.gabbiano-capri.de email: schuch@gabbiano-capri.de

Biblioteca Artistica Napoleta XIII. Napoli: Grimialdi & C. Editori 2013, 107 S., mit 78 meist farbigen Abb., engl. Broschur, € 30


ISBN 978-88-9819900-6. Sprache: Italienisch
     


Dissertation von Claudia Wagner 2007
Der Künstler Karl Wilhelm Diefenbach (1851 - 1913)

Claudia Wagner zum 100. Todestag Diefenbachs
in "Nassauische Neue Presse" vom 20.12.2013



Umbruch Verlag 2006 /  2009

Meister Diefenbachs Alpenwanderung - Ein Künstler und Kulturrebell im Karwendel 1895/96

Herausgegeben von Hermann Müller


Siehe dazu auch: Stefan König,
Die Alpenwanderer - Forscher, Schwärmer, Visionäre
167 Seiten,
Tyrolia, Innsbruck,  2009
ISBN: 978-3-7022-2986-3, 167 S.

Gebildete Männer des 19. Jh. – Heinrich Noé, Ludwig Steub, Joseph Kyselak oder Hans Conrad Escher von der Linth –, die zu Fuß aufgebrochen sind, um die touristisch gerade erwachende Alpenregion zu erkunden. 

Das Buch beschließt mit einem Kuriosum: Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913). Der Maler zieht als "Apostel" nach 1895 mehrere Monate durch die Alpen, vor allem in der Karwendel-Gegend, zeichnend und begleitet von seinem "Clan" um Schüler, seinen Kindern und weiteren Begleitern. Sie finden Obdach auf Heuböden oder unbewohnten Almhütten, Diefenbach malt und philosophiert über das Zusammenleben in der kleinen, engen Gemeinschaft.


Umbruch Verlag 2006

Das frühe Meisterwerk von Karl Wilhelm Diefenbach



Neu herausgegeben von Georg Temme





Dokumentation zur Ausstellung ‚Der Prophet’ in der Wiener Hermesvilla über das Kommune-Experiment des Kulturreformers Karl Wilhelm Diefenbach. In Wien, in Ober St. Veit bei Hütteldorf, hat er die weisse Fahne der „Humanitas“ aufgezogen, in Wien wurde sein revolutionäres Unternehmen erst enthusiastisch begrüsst, dann boykottiert, schliesslich buchstäblich in den Untergrund und in den Bankrott getrieben. Diefenbach wurde entmündigt und aus dem Lande gejagt.

Dieses Buch dokumentiert zum ersten Mal, anhand von Auszügen aus Tagebüchern und Briefen, die dramatische Geschichte dieser Künstlerkolonie, die als Urzelle einer neuen, naturfrommen Kultur gedacht war.


Im Mittelpunkt steht der Jünger Gusto Gräser, der sich gegen seinen Meister erhob, die Gemeinschaft sprengte, um dann auf dem Weinberg über Ascona, dem Monte Verità, eine freiere und weitere „Humanitas“ zu errichten. Auch sein Wirken blieb eine Geheimgeschichte, die zunächst nur in dichterischer und philosophischer Verkleidung sich in die Öffentlichkeit wagen konnte: durch die Werke von Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Martin Heidegger und anderen. Erst in den Alternativbewegungen der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts brach sie sich breitere Bahn und treibt seitdem den Umbruch zu einer spirituellen Natur-Kultur.


Hermann Müller (Hg.): Himmelhof. Urzelle der Alternativbewegung, 1897-1899. Umbruch-Verlag Recklinghausen 2011. 210 Seiten, viele Abbildungen. € 24.80
ISBN 978 393 772 60 83. www.umbruch-verlag.de. Mail: tg@umbruch-verlag.de

Fidus-Serie
Die 1904 in Zürich gezeichneten Illustrationen für die Preisliste der Günther Wagner

Karl Wilhelm Diefenbachs Schüler Fidus, eigentlich Hugo Höppener (1868–1948), prägte mit seinen Illustrationen für Bücher, Zeitschriften und Druckschriften, seinen Bildern und den Drucken und Postkarten davon sowie seinen Tempelentwürfen die Bilderwelt der Lebensreform in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Populär ist sein Lichtgebet, das zur Ikone der Jugend- und Freikörperkulturbewegung geworden ist.
1904 zeichnete Fidus in Zürich eine Serie von elf Vorsatzblättern, Kopfleisten und eine Schlussvignette für eine Preisliste der Günther Wagner (heute Pelikan). Die Serie ist ein exemplarisches Beispiel für die Konflikte zwischen der Reklame einerseits und Kunst andererseits, die für Fidus persönlicher Ausdruck von vielschichtigen seelischen oder psychischen und damit letztlich religiösen Empfindungen sein sollte und gleichzeitig Mittel zur Formulierung, aber auch Verwirklichung seiner künstlerischen und gesellschaftlichen Utopien.
Fidus hielt sich wiederholt in der Schweiz auf und setzte sich sogar mit dem Gedanken auseinander, sich mit seiner Familie hier niederzulassen oder jedenfalls längere Zeit zu leben und zu arbeiten. Mit Ausnahme der Aufenthalte in Amden im Sommer 1903 und vom Spätsommer oder Herbst 1903 bis Ende Jahr oder Anfang 1904 wurde bisher in der Literatur Fidus und seinen Aufenthalten in Zürich (1904 und 1906/07) sowie der Vortragsreise durch die Schweiz (1933) wenig Beachtung geschenkt.
Die Publikation ist die erste Veröffentlichung einer Reihe, die sich mit dem Künstler und seinen Beziehungen zur Schweiz und insbesondere zu Zürich auseinandersetzt.

Inhalt:
Einleitung – Über Amden nach Zürich – Zwischen Druckwerk und Tempelkunst – Das Unternehmen Günther Wagner – Theosophie und Reklame – Das geschlossene Bild – Doppelmenschen – Anspielungen und Spielereien
Anhang:
Fidus, «Zu den Katalogbildern» und «Theosophie und Kunst» – Zeittafel – Biographien.

ISBN 978-3-9523855-0-0. 128 Seiten, 16 x 22 cm, zahlreiche farbige und schwarzweisse Abbildungen. SFr. 21.80/EUR 17,80 (+ Versand SFr. 2.50/EUR 3,00).

Weitere Informationen und Bestellungen:
Monsalvat Verlag, Engimattstrasse 30, CH-8002 Zürich, Tel. +41 (0)43 539 65 26
‚Die deutsche Seele’
von Thea Dorn und RichardWagner
Albrecht Knaus Verlag, München 2011. 560 Seiten, viele Abbildungen. €26.99

Aus dem Vorwort:

„Wir machen uns keine Sorgen, dassDeutschland sich abschafft. Wir sehen nur, dass es sich herunterwirtschaftet.Sein Gedächtnis verliert. Die einen haben die deutsche Scham, die keinerablegen kann, der diesem Land entstammt, zum Schuldpanzer verhärtet, hinter demsie sich verschanzen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind ihnen wenigerSchmach und Schmerz als der Beweis, dass alles Deutsche mit der Wurzel ausgerissen gehört. Die anderen tummeln sich in dem Kahlschlag, den diewohl-meinenden Nashörner angerichtet haben. Ihnen fehlt nichts, solange derFernseher läuft und im Kühlschrank genügend Bier steht. Und dennoch spüren wirein wachsendes Deutschlandsehnen.“

Ein wichtiges Buch! Hier folgen einige Auszüge, die Diefenbach undGräser betreffen. Die Verfasser sind allerdings sehr im Irrtum, wenn sieglauben, der Monte Verità habe nicht mehr als Hüllenlosigkeit zu bieten gehabt.In Wirklichkeit erlebten hier die Emigranten aus Alteuropa – Reformer,  Dichter und Künstler –  eine „Revolution derSeele“, eine Ausweitung und Befreiung nicht der deutschen Seele allein, aber gerade auch derdeutschen, hin zu einem weltumgreifenden, menschheitumfassenden, anationalen,kosmopolitischen „Reich der Seele“, das Indien und China, Russland und Amerikagenauso in sich schloss wie die besten deutschen Traditionen. „Es gab hiereinfach alles, was im übrigen Europa nicht existieren konnte, verboten wurde,die Menschen nicht zu leben wagen konnten. Hier wurde es versucht; vorgelebt,existierend, nicht bloß theoretisch angeschaut“, schrieb damals der DramatikerReinhard Goering. „Entschieden, man war ja jenseits von Europa.“ Und einanderer Gast und Gräserfreund, Hermann Hesse: „Hier war Liebe und Seele, hierlebte das Märchen und der Traum“.

„Schick“ war das Leben dieser Aussteiger-Siedler nicht im geringsten,vielmehr härteste Realität: Arbeit und Hunger, Kampf und Gefahr. Nicht Wenigesind daran zerbrochen, starben durch Selbstmord oder im Irrenhaus. Erst imahnungslosen Nachschmecken des Feuilletons wurde daraus ein „schicker Mythos“.

 
  

Aufrufe von Gusto Gräser, um 1914

Raus! Rausaus den verpesteten Städten! Raus aus den engen Gassen! Raus aus dem „stahlharten Gehäuse“ von Bürokratie und Industrie, von Technik undGeldwirtschaft! …

Rousseau istseit über hundert Jahren tot – doch nie und nirgends fíndet sein Ruf „Zurückzur Natur!“ ein kräftigeres Echo als im deutschsprachigen Raum an der Wende vom19. zum 20. Jahrhundert.

Am wörtlichstennehmen das große anti-zivilisatorische „Raus!“ jene, die glauben, die Kluftzwischen Leib und Seele, zwischen Kosmos und Mensch, zwischen Reich und Armschließen zu können, indem sie die Hüllen fallen lassen.

Der ersteNudist aus Überzeugung ist der Maler Karl Wilhelm Diefenbach. Seine Konversion zum Lebensreform-Glauben geschieht in den 1870er Jahren: Nach einerTyphus-Erkrankung muss er operiert werden, sein rechter Arm bleibt verkrüppelt.Diefenbach ist überzeugt, Naturheilkunde und fleischlose Kost hätten ihnkuriert, weshalb er zum Verkünder einer vegetarisch-naturnahen Lebensweisewird. Barfuß, mit wildem Haarwuchs und in eine Kutte gekleidet wandelt er durchMünchen und predigt gegen den „Verzehr von Tierfetzen“. Obwohl man im Schwabingjener Jahre esoterische Exzentriker gewohnt ist, kommt es zu regelmäßigenZusammenstößen zwischen dem „Kohlrabiapostel“ und der Obrigkeit. 1887 ziehtsich Diefenbach nach Höllriegelskreuth ins Isartal zurück – und gründet dort ineinem stillgelegten Steinbruch die erste Kommune, in der nach seinen Vorstellungen gelebt werden darf bzw. muss. Der Aussteiger entpupptsich – wie manch einer nach ihm - als autoritärer Guru: Fleisch, Tabak, Alkohol,Privatbesitz und bürgerliche Ehe sind tabu, der Meister bestimmt, wer wann mitwem in welcher Weise verkehren darf oder auch nicht. Gemeinsam wird ein Körperkult zelebriert, der auf „Licht, Luft, Sonne, Nacktheit undBeschwingtheit“ fußt.

Weltanschaulich nicht weniger aufgeladen, aber deutlich mondäner gibt sich dieKünstler-Kolonie „Monte Verità“, die 1900 auf einem Hügel oberhalb des schweizerischenAscona u. a. von Gusto Gräser gegründet wird. Seine erstenErfahrungen mit alternativem Leben hat der siebenbürgische Dichter bei Diefenbach gesammelt. Der Friede zwischen Pazifisten und Anarchisten,Nudisten und Ausdruckstänzerinnen, Anthroposophen und Psychoanalytikern,Veganern und Vegetariern ist zwar stets ein wackliger, dennoch existiert die Koloniein ihrer ursprünglichen Form bis 1920. (Und kann heute noch alsHotel/Museum/Konferenzcenter besucht werden.) Prominente Gäste wie der dadaistische Künstler Hans Arp, der Philosoph Ernst Bloch oder dieSchriftsteller Gerhart Hauptmann und Hermann  Hesse machen den „Wahrheits-Berg“ zum radikal schicken Mythos.

Aus Thea Dorn, Richard Wagner: Die deutsche Seele, S. 153-155
(4.12.2011)

Capri-Revolution Spielfilm von 2018, Filmfestival von Venedig   

    Im Jahre 1900 kommt Karl Wilhelm Diefenbach, Maler, Lebensreformer, Gründer  und Haupt einer Künstlerkommune, Lehrer von Gusto Gräser, nach Capri und siedelt sich mit seinen Anhängern an. Er lebt und wirbt dort, als Naturapostel verspottet, für seine Ideen bis zu  seinem Tod im Jahr 1913.

   Rund hundert Jahre später lässt sich der Autor und Regisseur Mario Martone von Diefenbach inspirieren und produziert einen Spielfilm, der die Aussteigerkolonie von einst in eine fiktive  Geschichte verwandelt, zusätzlich angereichert mit Motiven des Monte Verità, der Hippies und der Popmusik. Nach Meinung der Kritik gelingt es ihm allerdings nicht, diese Fülle von Motiven zu einer überzeugenden Einheit zu verschmelzen. Eine Liebesgeschichte, die das Ganze zusammenhalten soll, drängt sich allzusehr in den Vordergrund. In dem Guru Seybu, Kopf der fiktiven Kommune, haben sich immerhin Diefenbach, Gusto Gräser und ein charismatischer bandleader zu einer zeittypischen Leitfigur vereinigt.

   She (twenty year-old Lucia) joins a nudist colony, despite warnings from the locals that they are "devils". They are a commune of young North Europeans has found on Capri the ideal place to live their alternative life style and practice their art. There she falls under the spell of painter and commune leader Seybu. He teaches her to read and soon she is multi-lingual. But the local doctor Carlo hopes to win her affections and the two men fiercely stating their points in the duel between science and art. This becomes very boring and Lucia soon has enough and wants "to go back to dancing in the woods".  (Kultfilm)

  Einst und Jetzt, Vorbilder und Nachbilder:

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Filmszene von 2018                                                                                       Fiesta Monte Verità 1978

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Filmszene von 2018 

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Lebensgemeinschaft von Diefenbach (Mitte), Wien 1898

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Diefenbach auf Capri um 1908

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Guru Seybuauf Capri um 2018

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Film 2018                                  Fiesta Monte Verità 1978

Theater und Kritik

    Capri-Revolution von Mario Martone. Eine Verbindung zum Monte Verità

   Von Marinella Guatterini
    17. Januar 2019

    Im Wettbewerb bei den Filmfestspielen von Venedig 2018 kam Mario Martones Capri-Revolution im Januar in die Kinos. Hier versuchen wir, den Kontext zu rekonstruieren, in dem der Regisseur die Erfahrung des Monte Verità neu erfand, eine grundlegende historische Tatsache für die Entwicklung des modernen Tanzes.

       Capri-Revolution von Mario Martone

Mitreissend, gelungen oder verfehlt, großartig in seinen Rückblicken, spektakulär aber unverständlich, und so weiter und so fort. Wie auch immer das Urteil über den Film Capri-Revolution von Mario Martone bereits gefällt wurde oder noch fallen wird, was diejenigen, die den Tanz des frühen zwanzigsten Jahrhunderts lieben, faszinieren sollte, betrifft die phantasievolle (aber nicht allzusehr) Ansiedlung einer Gruppe junger Nordeuropäer auf der Insel der Blauen Grotte, fast bei Anbruch des Ersten Weltkriegs. Sie sind Rebellen gegen jede soziale Konditionierung, Vegetarier, im Widerspruch zur offiziellen Medizin, verliebt in die Heliotherapie, den Nudismus, die Musik, die sexuelle Freiheit, insbesondere den Tanz, und daher unbeliebt bei der archaischen Bevölkerung, aber auch bei den politischen Flüchtlingen des Ortes. Einleuchtend die Verbindung mit der 1913 von dem Ungarn Rudolf von Laban de Varalja, dem Theoretiker des freien Tanzes, auf dem Monte Verità gegründeten Tanzgemeinde.

    Etwa in der Mitte von Martones Film wird sie erwähnt, als zwei Schweizer Kommunarden auf Capri zur Post gehen und einen Brief aus Ascona, auf dem Hügel von Monescia (Spitzname Monte Verità), erhalten und so ihre Verbindung zu diesem kleinen Hügel mit seiner besonderen tellurischen Energie und seinen illustren Gästen offenbaren: nicht nur Tänzer oder angehende Tänzer, sondern auch Theosophen, orientalische Mystiker, Okkultisten, Politiker, Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler.

    Die wahre Geschichte berichtet, dass von Laban nach mehreren Bildungsaufenthalten in Ascona – seit 1909 zusammen mit seiner Assistentin Mary Wigman - beschloss, seine Tanz- und Kunstschule in München dauerhaft, aber nur in den Sommermonaten, in die "Cooperativa Individualistica" auf dem Monte Verità zu verlegen,  die bereits 1900 unter diesem einzigartigen Namen von dem Belgier Henry Oedenkoven, Ida Hofmann, seiner Frau und Pianistin aus Montenegro, mit der ehemaligen preußischen Beamtin Lotte Hattemer und den siebenbürgischen Brüdern Karl und Gusto Gräser gegründet worden war. Alle hielten an einer radikal primitivistischen Ethik fest, die die Gleichberechtigung der Geschlechter, den anti-urbanen Eskapismus, den kooperativen Geist, die Einhaltung des strikten Vegetarismus und den Einsatz der Naturmedizin zur Heilung der Gäste von den Schäden der Zivilisation propagierte.

    Monte Verità wie Capri? Nein. In Capri, einem wahren Zufluchtsort für Verfolgte, aus Russland geflohene Rebellen und internationale Künstler, hat es noch nie eine Tanzgemeinschaft wie die von Rudolf von Laban gegeben. Und doch macht in Martones Film die Ansiedlung dieser angefeindeten Einwanderer Sinn und schafft jenen klaren und letztlich scheiternden Aufeinanderprall von Tradition und ihrem Gegenteil, in den die Protagonistin Lucia (Marianna Fontana) mit Eigenwilligkeit und wahrhaft rebellischer Kraft eingekeilt ist. Darüber hinaus gibt es echte Analogien. Diejenigen, die die Insel kennen, wissen in der Tat, dass die Kartause von San Giacomo die großen und düsteren Gemälde von Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) beherbergt, einem deutschen Maler und Utopisten mit charakteristischen Zügen, die, wie sein schweres Leben, denen des Co-Stars Seybu (Reinout Scholten van Aschat) nicht unähnlich sind, jenem "Teufel", wie er von der Schäferin Lucia bezeichnet wird, und Maler, an der Spitze der Gemeinschaft der "Andersartigen".

    Zuerst für seine Bildkunst gefeiert und dann in der Stadt München verflucht, wo er eine Philosophie entwickelte, die darauf abzielt, Kunst und Leben zu vereinen, den Militarismus und die Widersprüche des Deutschlands seiner Zeit zu bekämpfen. Diefenbach predigt den Verzicht auf alles Überflüssige, er trägt eine lange schwingende Tunika, barhäuptig, mit Sandalen an den Füßen (genau wie Seybu im Film). Er erlebt eine Wandlung und wird als Verrückter, als Unruhestifter erklärt, der in der Lage sei, junge Geister in die Irre zu führen. 1885 verließ Diefenbach München, um mit seiner Familie (Frau und drei Kinder) in einem verlassenen Steinbruch, dem Steinbruchhaus in Höllriegelskreuth im Isartal, zu leben. Hier sind die Lebensbedingungen sehr hart, aber sein Traum ist Wirklichkeit geworden: eine künstlerische Werkstatt zu errichten, in der er ein Leben im Sinn seiner nun theosophischen, radikal ursprungsnahen, vegetarischen, nudistischen Überzeugungen führen kann.

    Soweit wir wissen, hat Diefenbach den ersten Prozess in der Geschichte wegen FKK über sich ergehen lassen müssen. Er wurde zweimal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, aber hohe Geldstrafen bewahrten ihn vor dem Gefängnis. Es gibt viele Widersprüche in seiner Existenz. Als Bestätigung seines Ansehens in Künstlerkreisen wurde er 1889 erneut zu einer Ausstellung nach München in die Räume der Kunstgewerbehalle eingeladen, die ein Erfolg bei Publikum und Kritikern wurde. Doch ein Jahr später versuchte seine Frau, verärgert über die Schwierigkeiten der Existenz in Höllriegelskreuth, ihn zu vergiften. Martones Seybu, oder wer auch immer sich um ihn herum bewegt, zeigt hie und da dieselben Lebensepisoden, die Diefenbach durchlief, der 1900 nach Capri kam, wo er dreizehn Jahre lang isoliert lebte und in seinem Atelier in der Via Camerelle viele Werke schuf, und dennoch von Intellektuellen und einfachen Leuten wegen  seiner mönchischen Kleidung und der aufgeregten Predigten auf der Piazzetta der Seilbahn verspottet wurde. Er starb am 13. Dezember 1913 an einem Anfall von Bauchfellentzündung. Sein Werk verfiel in Verachtung und Vergessenheit, bis es schließlich in den 1970er Jahren wiederentdeckt und von Fridolin von Spaun, dem Sohn von Stella Diefenbach,  die eines der drei Kinder des in Schwierigkeiten geratenen Malers war, dem italienischen Staat geschenkt wurde.

    Kann Diefenbach als der Hauptvorläufer der Lebensreformbewegung angesehen werden, die sich in der deutschen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts entwickeln sollte und einen alternativen Weg zur kapitalistischen Gesellschaft und zum Materialismus der Arbeiterklassenorganisationen aufzeigte? Wahrscheinlich, ja. Aber in der freien und revolutionären Gemeinschaft, die in Martones Film neu erfunden wurde, gibt es nicht nur Sonnenbaden, Luft und Licht, Verzicht auf Alkohol und Tabak, Nacktgymnastik, Bekleidungs- und Lebensmittelreform, sexuelle Freiheit. Der Hauptakzent liegt auf dem Ausdruckstanz, für den Raffaella Giordano als Choreographin verantwortlich zeichnet. Die choreographische Bewegung ist hier, wie auf Monte Verità mit von Laban, nicht nur eine Reaktion auf die Hegemonie von Technik, Industrie und Urbanisierung, sondern eine Bestätigung der untrennbaren Einheit von Körper und Seele, eine Wiederentdeckung der ästhetischen Schönheit des Körpers, seine Aufwertung und Apotheose innerhalb einer unbestechlichen und reinigenden Natur.

   Raffaella Giordano kann zusammen mit Martone und seiner Co-Drehbuchautorin Ippolita Di Majo nur bestimmte Dokumente zur komplexen Geschichte des Monte Verità ausgewertet haben - und auch Le mammelle della Verità, die 1978 von dem verstorbenen Harald Szeemann kuratierte Fotoausstellung, und jenen Teil seines Archivs mit 975 Objekten, das als echtes Gesamtkunstwerk zu betrachten ist und seit 2007 in der Casa Anatta aufbewahrt wird – in einem der vielen Häuser, die der Kanton Tessin wieder aufgebaut hat, zusammen mit einem Bauhaus-Hotel und schließlich einem vegetarisch-veganen Restaurant, das für den Tourismus erforderlich ist, der jedes Jahr in diesen magnetischen Ort einschwebt, der nun kulturellen Tagungen gewidmet ist.

    Raffaella Giordano hat jedoch frei ihr eigenes persönliches Feuer entzündet, ekstatischer und bacchischer als Labans Tänze, im Unterschied zu früher immer komponiert und teilweise geometrisch, sehr beeinflusst von Émile Jaques-Dalcroze's eurythmischer Theorie. Oder freudig frei wie die von Isadora Duncan (1913 hielt sie sich kurz in der Schweizerkolonie auf), die  sicherlich inspirierend war für die fröhlichen  Rundtänze nackter weiblicher Körper der  vielern Anhängerinnden von Laban, berauscht von der Natur der Wälder von Ascona. Allerdings, und hier fast schon philologisch, muss die ausgezeichnete und gut vorbereitete Giordano auf eine der letzten Tanzleistungen des Monte Verità zurückgegriffen haben. In der Ausstellung Das Sonnenfest von 1917, die in drei Teile gegliedert ist (Die abnehmende Sonne, Die Dämonen der Nacht und Die siegreiche Sonne) und von der es in vielen Texten direkte Zeugnisse gibt, gab von Laban (ein praktizierender Freimaurer, der mit dem hermetischen Zweig des Ordo Templi Orientis, dem Tempel des Orients, verbunden war) zusammen mit seinem Schüler Otto Borngräber den Hintergrund eines esoterischen und heidnischen Rituals wieder, das von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen stattfand und von einigen Mitgliedern der Gemeinschaft sehr genossen wurde.

   Indem er den nächtlichen Teil heraufbeschwört, der durch maskenhafte Silhouetten und dunkle Hexenlarven im höllischen Sabbat der Dämonen der Nacht verstörend wirkt, fügt Giordano-Martone in die Capri-Revolution den Ritus des Blutes ein, das nach der Tötung eines Hirsches von einem verrückten Psychoanalytiker, der wegen seiner überwältigenden Gewalt gegen Tiere und Menschen sofort von Seybu vertrieben wurde, einem schwachen Mitglied der Gruppe zu trinken gegeben wurde. Unter den vielen Psychoanalytikern, die wie Carl Jung auf dem Monte Verità verkehrten, dürfte dieser in Wirklichkeit mit jenem Otto Gross zusammenfallen, der "nachdem er persönlich alle möglichen Drogen erprobt hatte, schließlich interniert wurde, weil er den Selbstmord einer Patientin begünstigt hatte [...] und mit hoch erhobenem Kopf behauptete, das Richtige getan zu haben", wie Eugenia Casini Ropa in ihrem noch immer unverzichtbaren Buch Der Tanz und das Agitprop schreibt. Untheatralisches Theater in der deutschen Kultur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts (Il Mulino, Bologna , 1988; CuePress, 2014).

  Wir könnten abschließend an die Bestürzung der inzwischen emanzipierten Hirtin Lucia erinnern, als sie vor ihrer Abreise einem Tanz beiwohnt, der auf einem Tisch und nicht mehr im Busch organisiert wird. Der Maler, der die fast "theatralische" Vielfalt erklärt, stellt das Konzept des "Codes", der Evolution, der notwendigen Reifung vor. Tatsächlich geschah dies im labanianischen Kontext mit Hilfe seines Schülers Kurt Jooss, Vater eines Synkretismus zwischen Ausdruckstanz und akademischem Tanz, der später auch von seiner eigenen Schülerin Pina Bausch stammen wird. Die Reaktion der ehemaligen Ziegenhüterin Lucia ist jedoch negativ. Sie spürt das Scheitern der Utopie von der Freiheit des tanzenden Körpers noch vor dem der Brüder, die entschlossen sind, sich im Krieg zu opfern, noch vor dem Schrei des Malers Seybu und seinen Gedanken an den Tod, noch bevor die Erde bebt und die Töpfe aus Ton, die zwischen zwei Bäumen im Busch stecken, fallen lässt, zeichenhaft für die fast labanische Gemeinschaft der Capri-Revolution,  die zeitweise untergeht und doch weiterlebt in der unbesiegbaren Stabilität einer immerwährenden Revolte.

    Marinella Guatterini