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Dokumentation
zur Ausstellung ‚Der
Prophet’ in der Wiener Hermesvilla über das Kommune-Experiment des
Kulturreformers Karl
Wilhelm Diefenbach. In Wien, in Ober St. Veit bei Hütteldorf, hat
er
die weisse Fahne der „Humanitas“ aufgezogen, in Wien wurde sein
revolutionäres Unternehmen erst enthusiastisch begrüsst, dann
boykottiert, schliesslich buchstäblich in den Untergrund und in
den
Bankrott getrieben. Diefenbach wurde entmündigt und aus dem Lande
gejagt.
Dieses Buch dokumentiert
zum ersten Mal, anhand von Auszügen aus Tagebüchern und Briefen,
die dramatische Geschichte dieser Künstlerkolonie, die als Urzelle
einer neuen, naturfrommen Kultur gedacht war.
Im
Mittelpunkt steht der Jünger Gusto Gräser, der sich gegen seinen
Meister erhob, die Gemeinschaft sprengte, um dann auf dem Weinberg
über Ascona, dem Monte Verità, eine freiere und weitere
„Humanitas“
zu errichten. Auch sein Wirken blieb eine Geheimgeschichte, die
zunächst nur in dichterischer und philosophischer Verkleidung sich
in die Öffentlichkeit wagen konnte: durch die Werke von Hermann
Hesse, Gerhart Hauptmann, Martin Heidegger und anderen. Erst in
den
Alternativbewegungen der sechziger und siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts brach sie sich breitere Bahn und treibt
seitdem den Umbruch zu einer spirituellen Natur-Kultur.
Hermann Müller (Hg.):
Himmelhof.
Urzelle der Alternativbewegung, 1897-1899. Umbruch-Verlag
Recklinghausen 2011. 210 Seiten, viele Abbildungen. € 24.80
ISBN 978 393 772 60 83. www.umbruch-verlag.de. Mail: tg@umbruch-verlag.de
Fidus-Serie
Die 1904 in Zürich
gezeichneten Illustrationen für die Preisliste der
Günther Wagner
Karl Wilhelm Diefenbachs
Schüler Fidus, eigentlich Hugo Höppener
(1868–1948), prägte mit seinen Illustrationen für Bücher,
Zeitschriften
und Druckschriften, seinen Bildern und den Drucken und
Postkarten davon
sowie seinen Tempelentwürfen die Bilderwelt der
Lebensreform in
Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. P opulär
ist
sein Lichtgebet, das zur Ikone der Jugend- und
Freikörperkulturbewegung
geworden ist.
1904 zeichnete Fidus in Zürich eine Serie von elf
Vorsatzblättern,
Kopfleisten und eine Schlussvignette für eine Preisliste
der Günther
Wagner (heute Pelikan). Die Serie ist ein exemplarisches
Beispiel für
die Konflikte zwischen der Reklame einerseits und Kunst
andererseits,
die für Fidus persönlicher Ausdruck von vielschichtigen
seelischen oder
psychischen und damit letztlich religiösen Empfindungen
sein sollte und
gleichzeitig Mittel zur Formulierung, aber auch
Verwirklichung seiner
künstlerischen und gesellschaftlichen Utopien.
Fidus hielt sich wiederholt in der Schweiz auf und setzte
sich sogar
mit dem Gedanken auseinander, sich mit seiner Familie hier
niederzulassen oder jedenfalls längere Zeit zu leben und
zu arbeiten.
Mit Ausnahme der Aufenthalte in Amden im Sommer 1903 und
vom Spätsommer
oder Herbst 1903 bis Ende Jahr oder Anfang 1904 wurde
bisher in der
Literatur Fidus und seinen Aufenthalten in Zürich (1904
und 1906/07)
sowie der Vortragsreise durch die Schweiz (1933) wenig
Beachtung
geschenkt.
Die Publikation ist die erste Veröffentlichung einer
Reihe, die sich
mit dem Künstler und seinen Beziehungen zur Schweiz und
insbesondere zu
Zürich auseinandersetzt.
Inhalt:
Einleitung – Über Amden nach Zürich – Zwischen Druckwerk und
Tempelkunst – Das Unternehmen Günther Wagner – Theosophie
und Reklame –
Das geschlossene Bild – Doppelmenschen – Anspielungen und
Spielereien
Anhang:
Fidus, «Zu den Katalogbildern» und «Theosophie und Kunst» –
Zeittafel –
Biographien.
ISBN 978-3-9523855-0-0. 128 Seiten, 16 x 22 cm, zahlreiche
farbige und
schwarzweisse Abbildungen. SFr. 21.80/EUR 17,80 (+ Versand
SFr.
2.50/EUR 3,00).
Weitere Informationen und Bestellungen:
Monsalvat Verlag, Engimattstrasse 30, CH-8002 Zürich, Tel.
+41 (0)43
539 65 26
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‚Die
deutsche Seele’
von
Thea Dorn und RichardWagner
Albrecht Knaus Verlag, München 2011. 560 Seiten, viele
Abbildungen. €26.99
Aus
dem
Vorwort:
„Wir
machen
uns keine Sorgen, dassDeutschland sich abschafft. Wir
sehen nur, dass es sich
herunterwirtschaftet.Sein Gedächtnis verliert. Die einen
haben die deutsche Scham, die
keinerablegen kann, der diesem Land entstammt, zum
Schuldpanzer verhärtet,
hinter demsie sich verschanzen. Die Verbrechen des
Nationalsozialismus sind ihnen
wenigerSchmach und Schmerz als der Beweis, dass alles
Deutsche mit der Wurzel
ausgerissen gehört. Die anderen tummeln sich in dem
Kahlschlag, den diewohl-meinenden Nashörner angerichtet
haben. Ihnen fehlt nichts, solange
derFernseher läuft und im Kühlschrank genügend Bier steht.
Und dennoch
spüren wirein wachsendes Deutschlandsehnen.“
Ein
wichtiges
Buch! Hier folgen einige Auszüge, die Diefenbach undGräser
betreffen. Die Verfasser sind allerdings sehr im Irrtum,
wenn
sieglauben, der Monte Verità habe nicht mehr als
Hüllenlosigkeit zu bieten
gehabt.In Wirklichkeit erlebten hier die Emigranten aus
Alteuropa –
Reformer, Dichter und Künstler – eine
„Revolution derSeele“, eine Ausweitung
und Befreiung nicht der deutschen Seele allein, aber
gerade auch derdeutschen,
hin zu einem weltumgreifenden, menschheitumfassenden,
anationalen,kosmopolitischen „Reich der Seele“, das Indien
und China, Russland und
Amerikagenauso in sich schloss wie die besten deutschen
Traditionen. „Es gab
hiereinfach alles, was im übrigen Europa nicht existieren
konnte, verboten
wurde,die Menschen nicht zu leben wagen konnten. Hier
wurde es versucht;
vorgelebt,existierend, nicht bloß theoretisch angeschaut“,
schrieb damals der
DramatikerReinhard Goering. „Entschieden, man war ja
jenseits von Europa.“ Und
einanderer Gast und Gräserfreund, Hermann Hesse: „Hier war
Liebe und
Seele, hierlebte das Märchen und der Traum“.
„Schick“
war das
Leben dieser Aussteiger-Siedler nicht im
geringsten,vielmehr härteste Realität: Arbeit und Hunger,
Kampf und Gefahr. Nicht
Wenigesind daran zerbrochen, starben durch Selbstmord oder
im Irrenhaus. Erst
imahnungslosen Nachschmecken des Feuilletons wurde daraus
ein „schicker
Mythos“.
Aufrufe
von
Gusto Gräser, um 1914
Raus!
Rausaus
den verpesteten Städten! Raus aus den engen Gassen! Raus
aus dem
„stahlharten Gehäuse“ von Bürokratie und Industrie, von
Technik undGeldwirtschaft! …
Rousseau
istseit
über hundert Jahren tot – doch nie und nirgends fíndet
sein Ruf
„Zurückzur Natur!“ ein kräftigeres Echo als im
deutschsprachigen Raum an der
Wende vom19. zum 20. Jahrhundert.
Am
wörtlichstennehmen
das große anti-zivilisatorische „Raus!“ jene, die glauben,
die
Kluftzwischen Leib und Seele, zwischen Kosmos und Mensch,
zwischen Reich und
Armschließen zu können, indem sie die Hüllen fallen
lassen.
Der
ersteNudist
aus Überzeugung ist der Maler Karl
Wilhelm
Diefenbach. Seine Konversion
zum Lebensreform-Glauben geschieht in den 1870er Jahren:
Nach einerTyphus-Erkrankung muss er operiert werden, sein
rechter Arm bleibt
verkrüppelt.Diefenbach ist überzeugt, Naturheilkunde und
fleischlose Kost hätten
ihnkuriert, weshalb er zum Verkünder einer
vegetarisch-naturnahen
Lebensweisewird. Barfuß, mit wildem Haarwuchs und in eine
Kutte gekleidet wandelt
er durchMünchen und predigt gegen den „Verzehr von
Tierfetzen“. Obwohl man im
Schwabingjener Jahre esoterische Exzentriker gewohnt ist,
kommt es zu
regelmäßigenZusammenstößen zwischen dem „Kohlrabiapostel“
und der Obrigkeit. 1887
ziehtsich Diefenbach nach Höllriegelskreuth ins Isartal
zurück – und gründet
dort ineinem stillgelegten Steinbruch die erste Kommune,
in der nach seinen
Vorstellungen gelebt werden darf bzw. muss. Der Aussteiger
entpupptsich – wie
manch einer nach ihm - als autoritärer Guru: Fleisch,
Tabak, Alkohol,Privatbesitz und bürgerliche Ehe sind tabu,
der Meister bestimmt, wer
wann mitwem in welcher Weise verkehren darf oder auch
nicht. Gemeinsam wird ein
Körperkult zelebriert, der auf „Licht, Luft, Sonne,
Nacktheit undBeschwingtheit“ fußt.
Weltanschaulich
nicht
weniger aufgeladen, aber deutlich mondäner gibt sich
dieKünstler-Kolonie
„Monte Verità“, die 1900 auf einem Hügel oberhalb des
schweizerischenAscona u. a. von Gusto
Gräser
gegründet wird. Seine erstenErfahrungen mit alternativem
Leben hat der siebenbürgische Dichter bei
Diefenbach gesammelt. Der Friede zwischen Pazifisten und
Anarchisten,Nudisten
und Ausdruckstänzerinnen, Anthroposophen und
Psychoanalytikern,Veganern und
Vegetariern ist zwar stets ein wackliger, dennoch
existiert die Koloniein
ihrer ursprünglichen Form bis 1920. (Und kann heute noch
alsHotel/Museum/Konferenzcenter besucht werden.)
Prominente Gäste wie der
dadaistische Künstler Hans Arp, der Philosoph Ernst Bloch
oder dieSchriftsteller Gerhart Hauptmann und Hermann
Hesse machen den „Wahrheits-Berg“ zum radikal schicken
Mythos.
Aus
Thea Dorn, Richard Wagner:
Die deutsche Seele, S. 153-155
(4.12.2011)
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Capri-Revolution Spielfilm von 2018,
Filmfestival von
Venedig
Im
Jahre 1900 kommt Karl Wilhelm
Diefenbach, Maler, Lebensreformer, Gründer
und Haupt einer Künstlerkommune, Lehrer von Gusto
Gräser, nach Capri und
siedelt sich mit seinen Anhängern an. Er lebt und wirbt
dort, als Naturapostel
verspottet, für seine Ideen bis zu
seinem Tod im Jahr 1913.
Rund
hundert Jahre später
lässt sich der Autor und Regisseur Mario Martone von
Diefenbach inspirieren und
produziert einen Spielfilm, der die Aussteigerkolonie
von einst in eine fiktive
Geschichte
verwandelt, zusätzlich angereichert
mit Motiven des Monte Verità, der Hippies und der
Popmusik. Nach Meinung der
Kritik gelingt es ihm allerdings nicht, diese Fülle von
Motiven zu einer
überzeugenden Einheit zu verschmelzen. Eine
Liebesgeschichte, die das Ganze
zusammenhalten soll, drängt sich allzusehr in den
Vordergrund. In dem Guru
Seybu, Kopf der fiktiven Kommune, haben sich immerhin
Diefenbach, Gusto Gräser
und ein charismatischer bandleader zu einer
zeittypischen Leitfigur vereinigt.
She (twenty
year-old Lucia) joins a nudist colony,
despite warnings from the locals that they are
"devils". They are a
commune of young North Europeans has found on Capri
the ideal place to live
their alternative life style and practice their art.
There she falls under the
spell of painter and commune leader Seybu. He
teaches her to read and soon she
is multi-lingual. But the local doctor Carlo hopes
to win her affections and
the two men fiercely stating their points in the
duel between science and art.
This becomes very boring and Lucia soon has enough
and wants "to go back
to dancing in the woods". (Kultfilm)
Einst und Jetzt, Vorbilder und Nachbilder:
Filmszene
von
2018
Fiesta Monte Verità 1978
Filmszene
von 2018
Lebensgemeinschaft
von Diefenbach (Mitte), Wien 1898
Diefenbach
auf Capri um 1908
Guru
Seybuauf Capri um 2018
Film
2018
Fiesta Monte Verità 1978
Theater und Kritik
Capri-Revolution von Mario Martone. Eine Verbindung zum Monte Verità
Von Marinella Guatterini
17. Januar 2019
Im Wettbewerb bei den Filmfestspielen von
Venedig 2018
kam Mario Martones Capri-Revolution im Januar in die
Kinos. Hier versuchen wir,
den Kontext zu rekonstruieren, in dem der Regisseur die
Erfahrung des Monte
Verità neu erfand, eine grundlegende historische
Tatsache für die Entwicklung
des modernen Tanzes.
Capri-Revolution von Mario Martone
Mitreissend, gelungen oder
verfehlt, großartig in seinen Rückblicken, spektakulär
aber unverständlich, und
so weiter und so fort. Wie auch immer das Urteil über
den Film Capri-Revolution
von Mario Martone
bereits gefällt wurde oder noch fallen wird, was
diejenigen, die den Tanz des
frühen zwanzigsten Jahrhunderts lieben, faszinieren
sollte, betrifft die
phantasievolle (aber nicht allzusehr) Ansiedlung einer
Gruppe junger
Nordeuropäer auf der Insel der Blauen Grotte, fast bei
Anbruch des Ersten
Weltkriegs. Sie sind Rebellen gegen jede soziale
Konditionierung, Vegetarier,
im Widerspruch zur offiziellen Medizin, verliebt in die
Heliotherapie, den
Nudismus, die Musik, die sexuelle Freiheit, insbesondere
den Tanz, und daher unbeliebt
bei der archaischen Bevölkerung, aber auch bei den
politischen Flüchtlingen des
Ortes. Einleuchtend die Verbindung mit der 1913 von dem
Ungarn Rudolf von Laban
de Varalja, dem Theoretiker des freien Tanzes, auf dem
Monte Verità gegründeten
Tanzgemeinde.
Etwa in der Mitte von
Martones
Film wird sie erwähnt, als zwei Schweizer Kommunarden auf
Capri zur Post gehen
und einen Brief aus Ascona, auf dem Hügel von Monescia
(Spitzname Monte
Verità), erhalten und so ihre Verbindung zu diesem kleinen
Hügel mit seiner
besonderen tellurischen Energie und seinen illustren
Gästen offenbaren: nicht
nur Tänzer oder angehende Tänzer, sondern auch Theosophen,
orientalische
Mystiker, Okkultisten, Politiker, Wissenschaftler,
Intellektuelle und Künstler.
Die wahre Geschichte
berichtet,
dass von Laban nach mehreren Bildungsaufenthalten in
Ascona – seit 1909 zusammen
mit seiner Assistentin Mary Wigman - beschloss, seine
Tanz- und Kunstschule in
München dauerhaft, aber nur in den Sommermonaten, in die
"Cooperativa
Individualistica" auf dem Monte Verità zu verlegen, die bereits 1900
unter diesem einzigartigen
Namen von dem Belgier Henry Oedenkoven, Ida Hofmann,
seiner Frau und Pianistin
aus Montenegro, mit der ehemaligen preußischen Beamtin
Lotte Hattemer und den
siebenbürgischen Brüdern Karl und Gusto Gräser gegründet
worden war. Alle
hielten an einer radikal primitivistischen Ethik fest, die
die
Gleichberechtigung der Geschlechter, den anti-urbanen
Eskapismus, den
kooperativen Geist, die Einhaltung des strikten
Vegetarismus und den Einsatz
der Naturmedizin zur Heilung der Gäste von den Schäden der
Zivilisation
propagierte.
Monte Verità wie Capri?
Nein. In
Capri, einem wahren Zufluchtsort für Verfolgte, aus
Russland geflohene Rebellen
und internationale Künstler, hat es noch nie eine
Tanzgemeinschaft wie die von
Rudolf von Laban gegeben. Und doch macht in Martones Film
die Ansiedlung dieser
angefeindeten Einwanderer Sinn und schafft jenen klaren
und letztlich scheiternden
Aufeinanderprall von Tradition und ihrem Gegenteil, in den
die Protagonistin
Lucia (Marianna Fontana) mit Eigenwilligkeit und wahrhaft
rebellischer Kraft
eingekeilt ist. Darüber hinaus gibt es echte Analogien.
Diejenigen, die die
Insel kennen, wissen in der Tat, dass die Kartause von San
Giacomo die großen
und düsteren Gemälde von Karl Wilhelm Diefenbach
(1851-1913) beherbergt, einem
deutschen Maler und Utopisten mit charakteristischen
Zügen, die, wie sein schweres
Leben, denen des Co-Stars Seybu (Reinout Scholten van
Aschat) nicht unähnlich
sind, jenem "Teufel", wie er von der Schäferin Lucia
bezeichnet wird,
und Maler, an der Spitze der Gemeinschaft der
"Andersartigen".
Zuerst für seine
Bildkunst
gefeiert und dann in der Stadt München verflucht, wo er
eine Philosophie
entwickelte, die darauf abzielt, Kunst und Leben zu
vereinen, den Militarismus und
die Widersprüche des Deutschlands seiner Zeit zu
bekämpfen. Diefenbach predigt den
Verzicht auf alles Überflüssige, er trägt eine lange
schwingende Tunika,
barhäuptig, mit Sandalen an den Füßen (genau wie Seybu im
Film). Er erlebt eine
Wandlung und wird als Verrückter, als Unruhestifter
erklärt, der in der Lage
sei, junge Geister in die Irre zu führen. 1885 verließ
Diefenbach München, um
mit seiner Familie (Frau und drei Kinder) in einem
verlassenen Steinbruch, dem
Steinbruchhaus in Höllriegelskreuth im Isartal, zu leben.
Hier sind die
Lebensbedingungen sehr hart, aber sein Traum ist
Wirklichkeit geworden: eine
künstlerische Werkstatt zu errichten, in der er ein Leben
im Sinn seiner nun
theosophischen, radikal ursprungsnahen, vegetarischen,
nudistischen
Überzeugungen führen kann.
Soweit wir wissen, hat
Diefenbach den ersten Prozess in der Geschichte wegen FKK
über sich ergehen
lassen müssen. Er wurde zweimal zu einer Gefängnisstrafe
verurteilt, aber hohe
Geldstrafen bewahrten ihn vor dem Gefängnis. Es gibt viele
Widersprüche in
seiner Existenz. Als Bestätigung seines Ansehens in
Künstlerkreisen wurde er
1889 erneut zu einer Ausstellung nach München in die Räume
der
Kunstgewerbehalle eingeladen, die ein Erfolg bei Publikum
und Kritikern wurde.
Doch ein Jahr später versuchte seine Frau, verärgert über
die Schwierigkeiten
der Existenz in Höllriegelskreuth, ihn zu vergiften.
Martones Seybu, oder wer auch
immer sich um ihn herum bewegt, zeigt hie und da dieselben
Lebensepisoden, die
Diefenbach durchlief, der 1900 nach Capri kam, wo er
dreizehn Jahre lang
isoliert lebte und in seinem Atelier in der Via Camerelle
viele Werke schuf,
und dennoch von Intellektuellen und einfachen Leuten wegen
seiner
mönchischen Kleidung und der aufgeregten
Predigten auf der Piazzetta der Seilbahn verspottet wurde.
Er starb am 13.
Dezember 1913 an einem Anfall von Bauchfellentzündung.
Sein Werk verfiel in
Verachtung und Vergessenheit, bis es schließlich in den
1970er Jahren
wiederentdeckt und von Fridolin von Spaun, dem Sohn von
Stella Diefenbach, die
eines der drei Kinder des in
Schwierigkeiten geratenen Malers war, dem italienischen
Staat geschenkt wurde.
Kann Diefenbach als der
Hauptvorläufer der Lebensreformbewegung angesehen werden,
die sich in der
deutschen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts entwickeln
sollte und einen
alternativen Weg zur kapitalistischen Gesellschaft und zum
Materialismus der
Arbeiterklassenorganisationen aufzeigte? Wahrscheinlich,
ja. Aber in der freien
und revolutionären Gemeinschaft, die in Martones Film neu
erfunden wurde, gibt
es nicht nur Sonnenbaden, Luft und Licht, Verzicht auf
Alkohol und Tabak,
Nacktgymnastik, Bekleidungs- und Lebensmittelreform,
sexuelle Freiheit. Der
Hauptakzent liegt auf dem Ausdruckstanz, für den Raffaella
Giordano als
Choreographin verantwortlich zeichnet. Die
choreographische Bewegung ist hier,
wie auf Monte Verità mit von Laban, nicht nur eine
Reaktion auf die Hegemonie
von Technik, Industrie und Urbanisierung, sondern eine
Bestätigung der
untrennbaren Einheit von Körper und Seele, eine
Wiederentdeckung der ästhetischen
Schönheit des Körpers, seine Aufwertung und Apotheose
innerhalb einer
unbestechlichen und reinigenden Natur.
Raffaella Giordano kann
zusammen
mit Martone und seiner Co-Drehbuchautorin Ippolita Di Majo
nur bestimmte
Dokumente zur komplexen Geschichte des Monte Verità
ausgewertet haben - und
auch Le mammelle
della Verità, die
1978 von dem verstorbenen Harald Szeemann kuratierte
Fotoausstellung, und jenen
Teil seines Archivs mit 975 Objekten, das als echtes
Gesamtkunstwerk zu
betrachten ist und seit 2007 in der Casa Anatta aufbewahrt
wird – in einem der
vielen Häuser, die der Kanton Tessin wieder aufgebaut hat,
zusammen mit einem
Bauhaus-Hotel und schließlich einem vegetarisch-veganen
Restaurant, das für den
Tourismus erforderlich ist, der jedes Jahr in diesen
magnetischen Ort einschwebt,
der nun kulturellen Tagungen gewidmet ist.
Raffaella Giordano hat
jedoch
frei ihr eigenes persönliches Feuer entzündet,
ekstatischer und bacchischer als
Labans Tänze, im Unterschied zu früher immer komponiert
und teilweise
geometrisch, sehr beeinflusst von Émile Jaques-Dalcroze's
eurythmischer
Theorie. Oder freudig frei wie die von Isadora Duncan
(1913 hielt sie sich kurz
in der Schweizerkolonie auf), die sicherlich
inspirierend war für die fröhlichen
Rundtänze
nackter weiblicher Körper
der vielern
Anhängerinnden von Laban,
berauscht von der Natur der Wälder von Ascona. Allerdings,
und hier fast schon
philologisch, muss die ausgezeichnete und gut vorbereitete
Giordano auf eine
der letzten Tanzleistungen des Monte Verità
zurückgegriffen haben. In der
Ausstellung Das
Sonnenfest von 1917,
die in drei Teile gegliedert ist (Die
abnehmende
Sonne, Die Dämonen
der
Nacht und Die
siegreiche Sonne)
und von der es in vielen Texten direkte Zeugnisse gibt,
gab von Laban (ein
praktizierender Freimaurer, der mit dem hermetischen Zweig
des Ordo Templi Orientis,
dem Tempel des Orients, verbunden war) zusammen mit seinem
Schüler Otto
Borngräber den Hintergrund eines esoterischen und
heidnischen Rituals wieder,
das von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen stattfand
und von einigen
Mitgliedern der Gemeinschaft sehr genossen wurde.
Indem er den nächtlichen
Teil
heraufbeschwört, der durch maskenhafte Silhouetten und
dunkle Hexenlarven im
höllischen Sabbat der Dämonen der Nacht verstörend wirkt,
fügt Giordano-Martone
in die Capri-Revolution den Ritus des Blutes ein, das nach
der Tötung eines
Hirsches von einem verrückten Psychoanalytiker, der wegen
seiner
überwältigenden Gewalt gegen Tiere und Menschen sofort von
Seybu vertrieben
wurde, einem schwachen Mitglied der Gruppe zu trinken
gegeben wurde. Unter den
vielen Psychoanalytikern, die wie Carl Jung auf dem Monte
Verità verkehrten,
dürfte dieser in Wirklichkeit mit jenem Otto Gross
zusammenfallen, der
"nachdem er persönlich alle möglichen Drogen erprobt
hatte, schließlich
interniert wurde, weil er den Selbstmord einer Patientin
begünstigt hatte [...]
und mit hoch erhobenem Kopf behauptete, das Richtige getan
zu haben", wie
Eugenia Casini Ropa in ihrem noch immer unverzichtbaren
Buch Der Tanz und
das Agitprop schreibt. Untheatralisches
Theater in der deutschen
Kultur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts (Il
Mulino, Bologna , 1988;
CuePress, 2014).
Wir
könnten
abschließend an die Bestürzung der inzwischen
emanzipierten Hirtin Lucia
erinnern, als sie vor ihrer Abreise einem Tanz beiwohnt,
der auf einem Tisch
und nicht mehr im Busch organisiert wird. Der Maler, der
die fast
"theatralische" Vielfalt erklärt, stellt das Konzept des
"Codes", der Evolution, der notwendigen Reifung vor.
Tatsächlich
geschah dies im labanianischen Kontext mit Hilfe seines
Schülers Kurt Jooss,
Vater eines Synkretismus zwischen Ausdruckstanz und
akademischem Tanz, der
später auch von seiner eigenen Schülerin Pina Bausch
stammen wird. Die Reaktion
der ehemaligen Ziegenhüterin Lucia ist jedoch negativ. Sie
spürt das Scheitern der
Utopie von der Freiheit des tanzenden Körpers noch vor dem
der Brüder, die
entschlossen sind, sich im Krieg zu opfern, noch vor dem
Schrei des Malers
Seybu und seinen Gedanken an den Tod, noch bevor die Erde
bebt und die Töpfe
aus Ton, die zwischen zwei Bäumen im Busch stecken, fallen
lässt, zeichenhaft für
die fast labanische Gemeinschaft der Capri-Revolution, die zeitweise
untergeht und doch weiterlebt in
der unbesiegbaren Stabilität einer immerwährenden Revolte.
Marinella Guatterini |
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