Der Dichter

nf Jahre nachdem Hermann Hesse seinen Freund und Meister im Wald von Arcegno verlassen hatte, regt sich in ihm ein Gefühl von Heimweh sowohl wie eine wachsende Wut. Er ist hinundhergerissen zwischen Sehnsucht und Aufbegehren, zwischen Verehrung und Hass. Nach Jahren der Abwendung wird ihm bewusst, wie unverändert anhänglich er doch an den Freund gebunden ist. Er will sich dieser Fessel entledigen, und sei es durch Ermordung des Meisters.

In dem Märchen ‚Der Dichter‘ von 1913 rekapituliert Hesse noch einmal seinen Weg der letzten sieben Jahre: Die Gemeinsamkeit mit Gusto Gräser in der Felsgrotte und in der Farnhütte in den Felsen zwischen Arcegno und Losone im Frühjahr 1907 und seine Heimkehr zu Frau und Kind in Gaienhofen. Zugleich nimmt er phantasierend seine Rückkehr zu dem Einsiedler im Walde vorweg,


Es wird erzählt, daß der Dichter Han Fook in seiner Jugend von einem wunderbaren Drang beseelt war … Er empfand, daß ihm bei allen Festen und aller Lust dieser Erde doch niemals ganz und gar wohl und heiter ums Herz sein könnte, daß er auch inmitten des Lebens ein Einsamer und gewissermaßen ein Zuschauer und Fremdling bleiben würde …

Kaum wußte Han Fook, ob er noch wache oder eingeschlummert sei, als er ein leises Geräusch vernahm und neben dem Baumstamm einen Unbekannten stehen sah, einen alten Mann in einem violetten Gewande und mit ehrwürdigen Mienen. ...

Der Fremde lächelte abermals mit dem Lächeln der Vollendeten und sagte: "Wenn du ein Dichter werden willst, so komm zu mir. Du findest meine Hütte bei der Quelle des großen Flusses in den nordwestlichen Bergen. Mein Name ist Meister des vollkommenen Wortes." ...

Als er sehr lange gewandert war, erreichte er die Quelle des Flusses und fand in großer Einsamkeit eine Bambushütte stehen, und vor der Hütte saß auf einer geflochtenen Matte der alte Mann, den er am Ufer bei dem Baumstamm gesehen hatte. Er saß und spielte die Laute ... Da folgte ihm Han Fook mit Ehrfurcht und blieb bei ihm als sein Diener und Schüler. ...

Der Meister sprach kaum ein Wort mit ihm, er lehrte ihn schweigend die Kunst des Lautenspieles, bis das Wesen des Schülers ganz von Musik durchflossen war. ...

Als zwei Jahre vergangen waren, spürte der Jüngling ein heftiges Heimweh nach den Seinigen, nach der Heimat und nach seiner Braut ... Das eine Mal lief er heimlich in der Nacht davon ... Das andere Mal aber träumte ihm, er pflanze einen jungen Baum in seinen Garten, und sein Weib stünde dabei, und seine Kinder begössen den Baum mit Wein und Milch. Als er erwachte, schien der Mond in seine Kammer, und er erhob sich verstört und sah nebenan den Meister im Schlummer liegen und seinen greisen Bart sachte zittern; da überfiel ihn ein bitterer Haß gegen diesen Menschen, der, wie ihm schien, sein Leben zerstört und ihn um seine Zukunft betrogen habe. Er wollte sich auf ihn stürzen und ihn ermorden, da schlug der Greis die Augen auf und begann alsbald mit einer feinen, traurigen Sanftmut zu lächeln, die den Schüler entwaffnete. ...

Und er blieb und lernte die Zither spielen, und danach die Flöte, und später begann er unter des Meisters Anweisung Gedichte zu machen, und er lernte langsam jene heimliche Kunst, scheinbar nur das Einfache und Schlichte zu sagen, damit aber in des Zuhörers Seele zu wühlen wie der Wind in einem Wasserspiegel.


Aus Hermann Hesse: Der Dichter (1913). In: GW VI, S. 32-39