Flötentraum


Das Märchen Flötentraum von 1913 wie auch die Märchen Augustus und Der Dichter (beide ebenfalls von 1913) bezeichnen Hesses beginnende Heimkehr zu seinem Freund und Meister. Nach seinem Zusammensein mit Gusto Gräser in der Felsgrotte von Arcegno im Frühjahr 1907 hatte er sich ins bürgerliche Leben zurückgezogen, hatte den Freund in der Satire Doktor Knölges Ende als in den Bäumen hangelnden Affen verhöhnt. Seine Wiederanpassung machte ihn jedoch nicht glücklich. Nachdem sowohl seine Ehe wie sein Fluchtversuch nach Indien gescheitert waren, wendet er sich tastend und ahnungsvoll wieder zu seinem Freund und Führer zurück. Der Schluss des Märchens Flötentraum nimmt den Schluss der Erzählung Demian von 1917 bis in wörtliche Einzelheiten vorweg.   

Da stand eine Mühle, und bei der Mühle lag ein Schiff auf dem Wasser, darin saß ein Mann allein und schien nur auf mich zu warten, denn als ich den Hut zog und zu ihm in das Schiff hinüberstieg, da fing das Schiff sogleich zu fahren an und lief den Fluß hinunter. Ich saß in der Mitte des Schiffs, und der Mann saß hinten am Steuer, und als ich ihn fragte, wohin wir fahren, da blickte er auf und sah mich aus verschleierten grauen Augen an.

„Wohin du magst“, sagte er mit einer gedämpften Stimme. „Den Fluß hinunter und ins Meer, oder zu den großen Städten, du hast die Wahl ...“…

Ich nahm mich zusammen, es war mir bange vor dem ernsten grauen Mann, und unser Schiff schwamm so schnell und lautlos den Fluß hinab. Ich sang vom Fluß, der die Schiffe trägt und die Sonne spiegelt … und auch er sang vom Fluß und von des Flusses Reise durch die Täler, und sein Lied war schöner und mächtiger als meines, aber es klang alles ganz anders.

Der Fluß, wie er ihn sang, kam als ein taumelnder Zerstörer von den Bergen herab, finster und wild …

Wenn das richtig war, was dieser alte, feine und kluge Sänger mit seiner gedämpften Stimme sang, dann waren alle meine Lieder nur Torheit und schlechte Knabenspiele gewesen. Dann war die Welt auf ihrem Grund nicht gut und licht wie Gottes Herz, sondern dunkel und leidend, böse und finster ...

Der Mann am Steuer sang nun vom Tode, und er sang schöner, als ich je hatte singen hören. Aber auch der Tod war nicht das Schönste und Höchste, es war auch bei ihm kein Trost. Der Tod war Leben und das Leben war Tod, und sie waren ineinander verschlungen in einem ewigen rasenden Liebeskampf, und dies war das Letzte und der Sinn der Welt, und von dorther kam ein Schein, der alles Elend noch zu preisen vermochte ...

Ich hörte zu und war ganz still geworden, ich hatte keinen Willen mehr in mir als den des fremden Mannes. Sein Blick ruhte auf mir, still und mit einer gewissen traurigen Güte, und seine grauen Augen waren voll vom Weh und von der Schönheit der Welt. Er lächelte mich an, und da faßte ich mir ein Herz und bat in meiner Not: "Ach, laß uns umkehren! Mir ist angst hier in der Nacht, und ich möchte zurück ... " ...

"Zurück geht kein Weg", sagte er ernst und freundlich, "man muß immer vorwärts gehen, wenn man die Welt ergründen will. ... Aber fahre du immerhin, wohin du magst, ich will dir meinen Platz am Steuer geben!“ ...

Darum stand ich auf und ging durch das Schiff zum Steuersitz, und der Mann kam mir schweigend entgegen, und als wir beieinander waren, sah er mir fest ins Gesicht und gab mir seine Laterne.

Aber als ich am Steuer saß und die Laterne neben mir stehen hatte, da war ich allein im Schiff, ich erkannte es mit einem tiefen Schauder, der Mann war verschwunden, und doch war ich nicht erschrocken, ich hatte es geahnt. …

Ich begriff, daß ich den Mann nicht rufen dürfe, und die Erkenntnis der Wahrheit überlief mich wie ein Frost.

Um zu wissen, was ich schon ahnte, beugte ich mich über das Wasser hinaus und hob die Laterne, und aus dem schwarzen Wasserspiegel sah mir ein scharfes und ernstes Gesicht mit grauen Augen entgegen, ein altes, wissendes Gesicht, und das war ich.

(Aus: Hermann Hesse: Flötentraum (1913). In: GW VI, S. 40-47)