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Bereit zu Aufbruch und Reise

Aus August 2012

Vor fünfzig Jahren starb der Schriftsteller und Nobelpreisträger Hermann Hesse

Helmut Kremers

Im Urteil seiner Zeit und der Nachwelt schwankt das Bild Hermann Hesses – mal gilt er als neoromantischer Idylliker, mal als Künstler von edler Einfalt und stiller Größe und schließlich als egozentrischer Zerrüttmeister. Etwas Wahres ist an alledem, meint Helmut Kremers.

Hermann Hesse in der Casa Camuzzi, 1929. Foto: akg-images
Hermann Hesse in der Casa Camuzzi, 1929. Foto: akg-images

"Born to be wild". Im Roadmo­vie "Easy Rider" von 1969 kreuzten zwei junge Leute auf ihren Motorrädern durch Amerika, auf der Suche nach so etwas wie Freiheit, ein Wort für "nothing left to lose" oder für die Chance, alles zu gewinnen.

Natürlich war das Scheitern an den Anderen, den Dumpfen, den Ge­fängniswärtern der repressiven Gesell­schaft programmiert. Wer damals im Kino saß, kannte den Namen der Band, die da sang: "Steppenwolf" – und die meisten hatten den Roman von Her­mann Hesse gelesen, nach dem sich die Gruppe benannt hatte. Ausbruch (aus jeder Art bürgerlichem Milieu), Auf­bruch (in jede Art von Weite, Freiheit eben), Protest (gegen den Vietnam­krieg zum Beispiel), Drogenkonsum ("zur Bewusstseinserweiterung", wie der schöne Euphemismus hieß) und die Bücher von Hermann Hesse, das war ein Amalgam, das gehörte zusammen.

Letzteres war weder naheliegend noch voraussehbar. Der Schriftsteller weilte längst nicht mehr unter den Le­benden, als der Film über die Leinwand flimmerte, er war am 9. August 1962 ge­storben, 85-jährig, ein Zeitgenosse der Mann-Brüder, Döblins, Kafkas, und so fort, er gehörte nicht zu den sehr le­bendigen Greisen, denen die Jugend so gern lauschte, weil die ihr versicher­ten, sie sei dazu auserkoren, endlich zur Wirklichkeit werden zu lassen, was einst schmählich unterdrückt worden war. Und: Das altmodische Deutsch, in dem Hesses Romane verfasst sind, wird auch in Übersetzungen nicht zum Jugendjar­gon.

Eigentümliches Lento

Für längst verstaubt galt Hesse der deutschen Literaturwissenschaft. Ihren Ansprüchen an eine literarische Avant­garde genügte der Nobelpreisträger von 1946 umso weniger, je länger die Nachkriegszeit währte, für sie war er nur Neoromantiker, nur ein Spitzweg unter den Schriftstellern. Hesses welt­weiter phänomenaler Erfolg unter der revoltierenden Jugend der Sechziger erwischte die deutsche Germanistik auf dem falschen Fuß.

Doch sie hatten ja auch gründlich schief gelegen: Texte aus dem Wohlfühlwinkel lieferte Hesse nie, schon in seinen frühen Erzählungen nicht, die in dem ihm eigentümlichen Lento das Harmoniegesättigte und Da­seinszufriedene als dünnen Firnis über tiefem Ungenügen an allem Behagen erscheinen lässt. Eine Dialektik des un­ruhigen Herzens.

Zurück zum Anfang. Als der kleine Hermann sechs war, dachten seine Eltern ernstlich darüber nach, ob sie ihn nicht anderwärts er­ziehen lassen wollten. Der Junge war einfach nicht zu bändigen. Es kam nicht dazu. Erst 1891, als Hesse das württem­bergische "Landexamen" bestanden und damit einen der begehrten Plätze im Internat Kloster Maulbronn gewon­nen hatte, verließ er sein Elternhaus. Nicht ungern fürs Erste, aber bald schlug das Ungebärdige wieder durch, mit grö­ßerer Macht. Er war begabt, vielleicht hoch begabt, aber besonders begabt war er für selbstquälerischen Eigensinn – das sollte sich im Laufe seines Lebens als stabiler Charakterzug erweisen.

Nun, als Fünfzehnjähriger, stahl er sich eines Wintertags heimlich aus Maulbronn, wanderte landeinwärts, verbrachte die Nacht in einem Stadel. Erst am nächsten Tag erschien er wieder in der Schule: ei­ne Tat, die ausreichte, um bei den Päd­agogen schwerste Bedenken gegen den Verbleib des Schülers auszulösen.

Gefühle mit Untiefen

Später sollte Hesse die ganze Ge­schichte der Vorbereitung auf das Landexamen und sein Scheitern in Maul­bronn in dem Roman Unterm Rad (1906) verarbeiten. Dabei spielten seine Eltern wohl eine wichtigere Rolle für seine Kri­se als die Schule, er spürte, wie skep­tisch Vater und Mutter seinen Weg be­obachteten. Er fühlte sich abgelehnt. Zu Unrecht? Gefühle haben bekanntlich ih­re Untiefen: Vom Ausrücken ihres Soh­nes erfuhr die immer liebevolle Mutter noch am Abend des selben Tages – und schrieb in ihr Tagebuch, viel lieber wür­de sie die Nachricht erhalten, dass ihr Sohn tot als dass er vielleicht wegen ei­ner Schändlichkeit geflohen sei.

Liest man andererseits die Briefe, die der Heranwachsende in dieser Zeit seinen Eltern schrieb, können einem diese freilich leidtun: In einer für sein Alter erstaunlichen Virtuosität klagt er sie ihrer vorgeblichen Lieblosigkeit an, äußert sich höhnisch über ih­ren Glauben, kokettiert mit der Möglichkeit seines Selbst­mordes – kurz, er stilisiert sich, ganz im Geiste Nietzsches, als der verkannte Einsame.

Ja, die Eltern waren fromm. Beide kamen aus Missionars­familien und waren in Indien tätig gewesen. Die Atmosphä­re im Elternhaus war zwar vom Pietismus geprägt, aber kei­neswegs eng. Dennoch lastete der Druck, ein guter Mensch zu sein, und zwar nach den pie­tistischen Maßstäben granite­ner Untadeligkeit, schwer auf dem Jungen – was Wunders in Zeiten, in denen das Sitt­lichkeitsverständnis die Natur leugnete.

Lebensreformerisches Projekt

Hesse verließ die Schu­le, wurde in Nervenanstalten behandelt, brach eine Buch­händlerlehre nach drei Tagen ab, hielt dann immerhin vier­zehn Monate als Lehrling in einer Turmuhrenfabrik aus, absolvierte schließlich doch noch eine Buchhändlerlehre, war schließlich Buchhändler in Basel. Und er veröffentlich­te: Gedichte, Erzählungen und schließlich, 1904, seinen ersten Roman, Peter Camenzind, bei S. Fischer verlegt, sein erster Erfolg. Hermann Hesse hatte erreicht, wovon er schon als Dreizehnjähriger geträumt hatte, er war ein Schriftsteller.

Noch im gleichen Jahr hei­ratete er die einige Jahre ältere Fotografin Marie Bernoulli (was damals fast ein künstlerischer Beruf war), baute sein eigenes Haus in einem abgelegenen Dorf am Bodensee, Gaienhofen, zeug­te Kinder und war entschlossen, dieses sein Leben gewissermaßen als lebensre­formerisches Projekt zu genießen.

Das gelang nicht, zu sehr steckte in diesem Konzept die Kopie dessen, was er auf immer hatte fliehen wollen. So häuften sich bald die Ausbrüche, 1907 hauste er zeitweise am Monte Verità in Italien, in einer Lebensreformkolonie, zusammen mit dem Guru, dem zwei Jahre jüngeren Gusto Gräser – in einer Felsgrotte. Zu­rück in Gaienhofen führte Hesse zu Hau­se ein strenges Veganer-Regiment ein. Doch blieb dies nicht seine letzte Flucht, immer öfter und immer länger ließ er die Familie allein. Seine Frau, nicht zur Unterordnung geboren, aber zu Depres­sionen neigend, wurde schließlich in ei­ne Nervenheilanstalt eingeliefert. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Ehe am Ende.

Die Rolle des Gescheiterten

Der Krieg war für Hesse ein tiefer Einschnitt. Zunächst meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Wegen sei­ner Augenschwäche abgelehnt, arbeite­te er in der Kriegsgefangenenbetreuung der deutschen Botschaft in Bern. Von Anfang an aber bereitete ihm die allge­meine Kriegshysterie tiefes Unbehagen, schon im November 1914 wandte er sich in einem Artikel "Oh Freunde, nicht diese Töne", gegen den schäumenden Chauvinismus, in dem die meisten deut­schen Schriftsteller begeistert aufbraus­ten. Das trug ihm Anfeindungen in der deutschen Presse ein, in ihren Augen war er ein vaterlandsloser Geselle. Hes­se aber wandelte sich bald zum ent­schiedenen Kriegsgegner, eine Haltung, die er nie mehr verleugnen sollte.

Seit 1919 lebte Hesse in einer Bezie­hung mit der zwanzig Jahre jüngeren Verehrerin Ruth Wenger, die Hochzeit erfolgte 1924. Es blieb eine Lebensge­meinschaft mit vielen von beiden ge­wollten räumlichen Distanzen, 1927 ließ sich Ruth Wenger scheiden.

Wieder einmal fand sich Hesse in der Rolle des Gescheiterten, gescheitert aus Eigensinn und künstlerischer Sensibilität – "eine Lieblingsrolle aller Romantiker und romantisch Veranlagten", ließe sich boshaft anmerken. Nun schrieb er sein bekanntestes Ich-Buch: Heinrich Haller heißt der Protagonist im "Steppenwolf", er ist so alt wie Hesse, hat ungefähr das gleiche Schicksal wie Hesse und stürzt sich wie Hesse in einer Existenzkrise ins Großstadtgetümmel. Doch im Grunde handelt es sich wieder um eine Reise ins eigene Innere. Dort aber wartet keine kompakte Wahrheit auf Haller, das Ich erweist sich als Irrlicht. Haller ist einer­seits der Gutbürgerliche, andererseits der "Wolf", der einsame Künstler. Aber nicht wechselweise und unbewusst fällt er von der einen in die andere Rolle, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sondern er steckt immer in beiden zugleich – eine Achterbahnfahrt.

Der Weg der Selbsterlösung

In vielen Romanen Hesses findet sich diese dichotomische Struktur – Mann und Weib, Bürger und Künstler und so fort. Im Steppenwolf wird die Geschichte aus der Perspektive dreier Erzähler vermittelt, der "Traktat vom Steppenwolf", eine langer Exkurs im Roman, bietet in kühler Außenpers­pektive eine tiefenpsychologische Ana­lyse des Protagonisten.

Im Übrigen aber findet sich in die­sem Roman so ziemlich alles, was bür­gerliche Sittenwächter seiner Zeit auf die Palme brachte: Drogen, Sex als The­rapeutikum, ein geschlechtlich unein­deutig konnotierter Eros … alles Dinge, die in den Zwanzigerjahren diskutiert wurden, aber doch der Hessegemeinde viel zumuteten.

Nein, das Leben leicht zu nehmen, war Hesse nicht gegeben. Immer blieb er auf der Suche nach Erlösung, immer wieder stieß ihn sein starkes Ego auf den Weg der von den Frommen so ver­pönten "Selbsterlösung": Nur auf dem "Weg nach innen" sei die Harmonie mit dem kosmogonischen Sinn zu er­reichen; entscheidend die Gewissheit, dass das im eigenen Innern Gefundene im Einklang mit dem All-Einen stehe. Im Grunde sei dies in allen Religionen die letzte mögliche Erkenntnis.

Literarisch hatte das Hesse schon in seinem Roman Siddharta (1922) ausgeführt, seinem ei­gensinnigen inneren Weg nach Indien: Siddharta, ein Zeitgenosse und Vorna­mensvetter Gautamas, beschreitet mit zäher Beharrlichkeit nacheinander alle möglichen Such-Wege nach Erkennt­nis, den asketischen, den erotischen, den luxuriös-ausschweifenden – und gelangt am Ende zur letzten Weisheit: "Jeder muss die Wahrheit in sich selbst finden." Dies blieb Hesses ureigenste Überzeugung, die Formel für den Auf­trag an sich selbst. Jeder religiöse Abso­lutheitsanspruch blieb ihm ein Gräuel.

Kommunität von Sinnsuchern

Hesse hatte 1927 die Frau geheiratet, die bis zu seinem Ende an seiner Seite bleiben sollte, Ninon Dolbin. Sie gehör­te zu den Schriftstellerfrauen, die sich dem vom Kunstwillen gesteuerten Le­ben ihres Gatten bedingungslos unter­ordnen, sie tat es nicht ohne Reflexion, aber sie tat es – dass dies eine abzuleh­nende Rolle sei, wird erst in Zeiten femi­nistischer Aufklärung dekretiert.

Doch "Solipsist" war Hesse nicht, schon gar kein Egomane, der seine Mit­menschen nur als Komfortlieferanten benötigt, durchgehend verspürt man bei ihm die Sehnsucht, endlich einmal unter Gleichgesinnten aufgehoben zu sein. Wenigstens literarisch erträumte er sich eine Kommunität von Sinnsu­chern und -findern. Dahinter stand viel­leicht die Erinnerung an die von den El­tern hochgehaltene Vorstellung von der großen Bruderschaft frommer Christen, bestimmt aber die Erinnerung an die Kommune am Monte Verità.

1931 be­gann Hermann Hesse mit seinem letz­ten großen Werk, das er erst fünfzehn Jahre später vollenden sollte: "Das Glas­perlenspiel" (einschließlich der "Morgen­landfahrt", in der er, wie im "Demian", jenem Gusto Gräser ein Denkmal setz­te). Der Protagonist Josef Knecht gehört einem Geheimorden an, dessen Mit­glieder, ausschließlich zölibatär lebende Männer, ein Spiel spielen, das, in seinen Anfängen mit Glassteinen betrieben, in­zwischen aber nur noch in Formeln, das All-Eine zu einer wenn auch hochtheo­retischen Anschauung bringt, in dem mit ihm alle denkbaren Verknüpfungen zwischen allen möglichen Wissens­gebieten hergestellt werden können. "Nerds" (Computerfreaks), die neben­bei noch lesen, finden darin die antizi­pierende Vision vom Worldwide net.

Der Weg nach Innen

Im Zweiten Weltkrieg wurde Hesses Haus im schweizerischen Montagnola zu einer Durch- und Anlaufstation für viele Schriftsteller auf dem Weg ins Exil. Auch Thomas Mann mit Frau besuchte ihn. Zwischen Thomas Mann und Her­mann Hesse gab es schon lange eine stabile Freundschaft, und dies, obwohl Mann ihn als Gleichrangigen behandeln musste, für ihn keine leichte Übung.

Im Alter wurde Hermann Hesse im­mer mehr zum alten Weisen, der gern in seinem Garten Laub brannte und sich auch schon einmal vor Neugieri­gen scheu hinter Büschen verbarg. Er war nun für seine Leser selbst zu einer Art Guru geworden, ungezählte Briefe erreichten ihn, in denen Menschen um Rat baten. Den erteilte er, indem er sein Mantra immer neu variierte: Es gelte, in aller Ehrlichkeit den "Weg nach innen" zu beschreiten und immer wieder Neu­es zu wagen. "Stufen", das Gedicht aus dem Glas­perlenspiel von 1941, schon fast zu Tode zitiert, ist tatsächlich die bündi­ge Summe von Hesses Lebensweisheit. Und noch etwas tat er wie eh und je un­ermüdlich: lesen und Bücher rezensie­ren – in der Regel nur die, die ihm zusag­ten (eine erstaunliche Ausnahme war der Verriss von Horst Langes "Schwarze Weide", auf den ersten Blick ein Werk aus derselben Tradition, auf hohem Niveau).

Es gab noch andere Überraschun­gen: 1959 pries er das neueste Buch von Ernst Jünger "An der Zeitmauer", selbst eine Art Glasperlenspiel am Rande des Wissbaren. Dass Jünger als sein Anti­pode galt, kümmerte Hesse nicht, er lobte, was ihm gefiel. Eine Marotte war das nicht, die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Autoren sind größer als die Unterschiede: hier der Experimentator in tiefenpsychologischen Sphären, dort der in Drogen, beide in Traumwelten zu Hause, Traumtänzer vielleicht gar. Beide behaupteten lebenslang ihre ex­zentrische Position, beide waren "born to be wild" – Jünger war unter Acht­undsechzigern mit seinem Drogenbuch Annäherungen ein Geheimtipp. Und für Hesse, den Apostel des All-Einen, waren Grenzüberschreitungen längst kein Pro­blem mehr.

Hesse ist heute Schullektüre, kein geringes Hindernis, die Herzen poten­zieller junger Leser zu erobern. Doch unter denen, die es ernst meinen – mit sich, mit dem Leben –, wird er immer wieder Leser finden. Sie werden in sei­nen Büchern all die Gefühlsauf- und -ab­schwünge, all die Schmerzen und Kämp­fe finden, mit denen sie sich allein wäh­nen, und vielleicht gar die Kraft, aufzu­brechen: Der Weg nach Innen beginnt mit einer Reise in die Welt. Es ist ja nicht so, dass das Scheitern programmiert wäre.


Literatur
Heimo Schwilk: Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers. Piper Verlag, München 2012, 432 Seiten, Euro 22,99.

Ezzelino von Wedel: Hermann Hesse. Wichern-Verlag, Berlin 2011, 143 Sei­ten, Euro 14,95.

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