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Zur Forschungslage:

Gusto Gräser und Hermann Hesse 

I. Erstes Zusammensein 1907

Licht von den Felsen

Von Frank Milautzcki

Hermann Hesse kam zu einer Zeit nach Arcegno und zu Gusto Gräser in die Höhle, in der er sein Leben neu ordnen wollte. Frau, Familie, Haus und Garten am Bodensee erdrückten ihn, bremsten das aus, was er gerne im Eigentlichen geworden wäre. Er hatte sich arrangiert und schmeckte das Fade des Bürgerlichen. Eigentlich war er bereit, alles wegzuwerfen und ein anderes Leben anzufangen. Nur wo? Alleine? Was tun? Es konnte so nicht weiter gehen, das sah er, aber er konnte nicht: weiter sehen.

Durch die Begegnung mit Gräser erfüllten sich ihm zwei Dinge: die romantische Sehnsucht nach „dem Süden“ und die elementare Sehnsucht nach „dem Sinn“. Die Erfahrungen an der Pagan-Grotte gingen tief in sein Herz. Nicht nur das Licht, die karge, sonnenstrotzende Vegetation und der phantastische Blick auf den Maggiakegel, dieses Ensemble von Wüchsigkeit und Öde, das atemberaubende Naturerlebnis, das in ihm eine unauslöschliche Liebe zu diesen Tagen „in der thebaischen Wüste“ entstehen ließ, sondern auch und vor allem (und in Hesses Kopf wohl auf ewig damit verknüpft): „den Menschen“ auf diesen Felsen zu finden, ihn vor sich gehen und stehen zu sehen, so un-bedingt, ein Mensch, wie er sein kann, hineingesetzt in die Natur ohne Widerspruch zu ihr, Gräser in zärtlicher und bejahender Zwiesprache mit der Welt. Einen Menschen mit langen Haaren, lebensweise und uneitel, nichts als sich selbst besitzend und nicht einmal das; sich selbst davongebend an das Sprudeln des Lebens, das flirrende Licht, die unfassbare Luft und den Atem der Zeit. Einen Menschen, der mehr von den Tiefen der Seele wusste als jeder andere, dem Hesse zuvor begegnet war, der zurecht kam mit sich und der Welt, in der Einöde, und glücklich dabei war.

Einen ähnlichen Menschen hatte Hesse noch nie getroffen. Es gab sie nur in Büchern, und hier gab es das, wovon die Bücher schrieben, so unscheinbar, so leise und ohne Anspruch. In der Person Gräser sah Hesse erstmals einen Menschen, der lebte, was andere schrieben.

Hesse wäre das gern selbst gewesen - er hat Gräser nicht nur bewundert, er hat ihn auch um seine Stärke und seinen Willen, seine Absolutheit beneidet. Der mittlerweile doch etwas bekanntere Schriftsteller Hermann Hesse hatte ja einen gänzlich anderen Lebensentwurf. Er sah Bücher, Stuben, Stifte, Papiere, Zigaretten-

rauch und Weine vor, er sah Diskussionen, erhabene Gedanken und weise Sätze im Spaziergang nach einem guten Essen vor, ein bisschen Boheme, ein bisschen Bürger, ein bisschen Original - von allem ein bisschen, alles in einem wohltemperierten Gleichgewicht, damit es sich leben ließe.

Und nun stand dieser Gräser vor ihm, nicht mehr als ein mittelloser Vagabund, der tiefste menschliche Weisheiten nicht nur wusste sondern auch lebte! Eine entscheidende Konfrontation in Hesses Leben fand hier vor der Höhle bei Arcegno statt. Kaum ein anderer Kampf in seinem Inneren hat ihn je wieder so berührt wie der um die Entscheidung: lebe ich namenlos die Wahrheit im Augenblick oder zerschreibe ich mir die Angst und den Zweifel in vielen kommenden Jahren namhaften Künstlertums.

Hesse hat seine Wahl getroffen (und Gräser so gut wie nie erwähnt!). Und er hat sich diese Wahl nie wirklich verziehen. Vor sich selbst sah er sich jahrzehntelang immer nur als Abklatsch, als Sünder gegen sich selbst. War er doch so nah dran gewesen, so beinahe dran, hatte die Wahrheit des Lebens greifbar vor sich (und indem er glaubte, sie begreifen und über sie schreiben zu müssen, verlor er sie wieder). Er war im Eigentlichen angekommen, dort oben bei den Felsen von Arcegno, alles stand so klar vor ihm - und er verlor es. Hesse begriff, dass in der Person Gusto Gräsers mehr echtes Leben lag als in allen möglichen Wörtern, als in jeder Schreib- und überhaupt jeder Kunst. Er sah das tatsächliche Wesen der Wahrheit, blickte tief in den Brunnen und fand nicht den Mut, mit und nach ihr zu leben.

Das war, was wirklich sich zutrug bei Arcegno.

Gräser hat Hesse niemals in irgendeiner Weise bekehrt. Nichts lag ihm ferner, als solche Einflüsse auszuüben. Allein die Konsequenz seines vorgelebten DaSeins imponiert und zeigt den Weg (den Hesse damals und auch später nicht bereit war zu gehen: Hesse wollte Dichter sein, um jeden Preis - der schon als Kind gefasste Entwurf überdauerte diesen stärksten aller Anstürme). Seit der Jahrhundertwende entwickelten sich die seltsamsten, oft abstrusen Lebensentwürfe (Hesse kannte sie, bzw. lernte sie kennen), aber jener des Wandervogels Gusto Gräser war so stimmig, war im Lichte der Felsen bei Arcegno so echt und nah bei der Wahrheit, dass Hesse anerkannte, dass sein bisheriges Leben dagegen klein, ängstlich, spießig aussah - von wegen Dichter und Künder der Wahrheit - : „die Wahrheit war hier und flirrte mit dem Flügelschlag einer Libelle durch die Luft.“



Aus einem Interview mit Hermann Hesses Sohn Heiner:

Frage: Bei der Ausstellung auf dem "Monte Verità" bei Ascona ist Hermann Hesse auf einem Foto mit Gusto Gräser zu sehen. Sie schmunzeln schon ...
Hesse: Ja, Gusto Gräser ist ein schwieriges Thema. Es gibt ein Buch von einem Herrn Müller "Der Guru des Dichters Hesse". Müller behauptet, die ganze Weisheit Hesses stamme von Gusto Gräser. Und ich denke, Tatsache ist, daß die Begegnung meines Vaters mit Gusto Gräser - sie haben einige Tage zusammen in einer Höhle bei Arcegno verbracht - schon ein wichtiger Augenblick war. Ein Anstoß in einer Krisenzeit.  Aber was Herr Müller daraus  zu schliessen glaubt, dass von "Demian" bis "Kinderseele" und von "Narziss und Goldmund"  bis zum "Glasperlenspiel" ungefähr alles von Gusto Gräser vorgedacht war, führt ein bisschen weit.
Frage: Wann hatte dieses Treffen  stattgefunden?
Hesse: Dieses Treffen war 1907 auf dem "Monte Verità" bei Ascona. Und Gusto Gräser hat meinen Vater dazu inspiriert: "Komm' mal mit, wir wollen da in einer Höhle wohnen." Ich hab' diese Version schon früher gekannt, war aber nur halb sicher und habe neuerdings einen Brief meines Vaters zu sehen bekommen - ein Brief der jetzt aufgetaucht ist und nach dem ich 20 Jahre  gesucht habe und der nicht zu finden war - darin fand ich die Bestätigung, dass dieses Leben einige Tage in einer Höhle wirklich stattgefunden hat.
Frage: Ist die Erzählung "Eremit" (bzw. "Peter Matthias") der Niederschlag davon?
Hesse: Der "Eremit" fällt in diese Zeit, ist von 1911.
Frage: Und der "Weltverbesserer"?
Hesse: Es könnte sein, ja.

Auszug aus: Santen, Michael, Auf den Spuren von Hermann Hesse, Notizen einer Tessin-Reise, 1987 (Privatdruck Michael Santen, Meerbusch)

Aus einem Brief von Hermann Hesse an Jakob Schaffner:
Gaienhofen, 6. 5. 1907
…ich meine zu fühlen, daß Sie doch eben vor derselben Höhle stehen, in die auch ich und andere manchmal schauen müssen. … wohlgetan hat mir immer zweierlei: Allein sein in einer recht rauhen, urtümlichen Natur, Felsen oder Meer, und dann ein Gang in’s indische Land, namentlich zu Buddha, wo aus lauter Leid und bitterer Erkenntnis eine wunderbare Seelenstille aufblüht. …

In: Hermann Hesse. Die Briefe. Band 2, 1905-1915. Hgg. von Volker Michels. Berlin 2013, S.58.

... Ausserdem kann ich Ihnen berichten, dass meine 2007 verstorbene Mutter Heidi, Gustos Tochter, mir immer wieder erzählt hat, wie sie als kleines Mädchen im Haus von Karl (neben dem Demianhaus) unter dem Tisch gesessen sei, und einem Gespräch zwischen Gusto und Hermann Hesse zugehört habe, dessen Inhalt sie zwar in ihrem Kindesalter zwar nicht begriffen hätte, das ihr aber grossen Eindruck gemacht hätte, weil sie gemerkt hätte, dass die beiden ein sehr tiefgreifendes Gespräch geführt hätten. ...

Aus einem E-Mail von Gusto's Enkel Reinhard Christeller an das Museo H. Hesse vom 21.2.2020

Vor dem Sprung in den Abgrund

Hermann Hesse schreibt an Hans Sturzengger

Als Hesse im September 1916 Gusto Gräser nach langjähriger Entfremdung wiedersieht, da tritt er einem Mann gegenüber, der eben erst seiner Erschießung ins Auge geblickt und quälende Verhöre in Kasernen und Irrenanstalten mit gelassenem Mut überstanden hatte. Sein Freund hatte den Kriegsdienst offen verweigert, war zum Tode verurteilt worden, der Hinrichtung aber in letzter Minute entgangen, weil man ihn für verrückt erklärte.

Bis dahin war Hesse, der ehemals Kriegsfreiwillige, immer noch schwankend gewesen. Jetzt erst, um die Jahreswende 1916/17, entschließt er sich zu einer klaren Stellungnahme gegenüber Krieg und Kriegsdienstverweigerern. In einem bekennenden Brief an seinen Freund Hans Sturzenegger vom 3. 1. 1917 kommt diese neue Haltung erstmals zum Durchbruch.

Lieber Sturz! ... Das, was du mich fragst, fragen mich zugleich mehrere in ihren Briefen: „Was sollen wir nun eigentlich tun?“ Darauf muß ich sagen: Der eine wird sich begnügen, da und dort wohlzutun, der andre wird sich mit Freunden zusammentun, einer wird den Militärdienst verweigern ... Fähig muß man natürlich zum entsprechenden Opfer sein. Ich z. B. bin mir seit langem darüber klar, daß meine Stellungnahme (auch innerhalb meiner amtlichen Tätigkeit) mich eines Tages zum Bruch mit Heimat, Stellung, Familie, Namen etc, führen kann, und ich bin entschlossen, es darauf ankommen zu lassen.

Gesammelte Briefe. Erster Band. Frankfurt am Main 1973, S. 342f.

Er fühlt sich vor „die Wahl zwischen Jesus und dem Mörder“ gestellt und will jetzt nicht mehr für den Barrabas stimmen. Erstmals stellt er sich auf die Seite der Militärdienst-verweigerer, die ihm nun „das allerwertvollste Symptom der Zeit“ bedeuten. Und er fügt hinzu: „Alles das wäre nie gekommen, wenn nicht zuerst eine Anzahl Menschen den Mut gehabt hätten, einem starken Gefühl zulieb gegen die Allgemeinheit zu protestieren und den Dienst zu verweigern“ (GB I, 344).

Daß die Völker scheinbar für den Krieg schwärmen, ist mir einerlei. Die Völker sind immer dumm gewesen. Sie haben auch, als sie die Wahl zwischen Jesus und dem Mörder hatten, mit großem Eifer für den Barrabas gestimmt. Sie werden vielleicht immer für den Barrabas stimmen. Aber das ist doch kein Grund für mich, mitzustimmen. GB I, 344

Gräser war schon im November 1916 nach Bern gekommen, vermutlich auch bei Hesse gewesen, war verhaftet worden – vor Hesses Haustür sozusagen – und nach Ascona zurück-gebracht. Von dort aus wendet er sich, nachdem er sich auch noch eine Verletzung zugezogen hat, „bettgebunden und staatsgeschunden“, am 18. Dezember brieflich an den Freund mit der Bitte, seiner frierenden und hungernden Familie zu helfen. Hesse wird sein Möglichstes getan haben. Er konnte jedoch mit seinen Mitteln eine zehnköpfige Familie, neben der eigenen, nicht über Wasser halten. Gräser musste sich also nach Weihnachten erneut auf den Weg nach Bern machen in der Hoffnung, in der reicheren Nordschweiz Unterstützung und Hilfe zu finden. Er kommt auch zu Hesse (Aufzeichnung im Archiv von Harald Szeemann). In den folgenden Wochen häufen sich die Anzeichen eines entscheidenden Durchbruchs in dessen Anschauungen. Seit Januar 1917 betreibt er seine Beurlaubung aus dem Dienst bei der Botschaft. Damit sollte der erste Schritt getan werden für den endgültigen Absprung (Brief von Walter Schädelin an Hesse vom 2. 2. 1917 im Literatur Archiv Marbach, unveröffentlicht).

Hesses Ablehnung nicht nur des Krieges sondern des ganzen gesellschaftlichen und kulturellen Systems treibt auf einen Höhepunkt und eine Entscheidung zu. Für einen Augenblick sieht es so aus, und Hesse kämpfte sichtlich darum, als wolle er dem Weg seines Freundes folgen.

Es kommt nicht dazu. Aber die seelische Anspannung in dieser Gewissensfrage ist für Hesse so groß, dass er auch aus diesem Grund – krankheitshalber – sich vom Dienst befreien lassen muss.

Eruptiv brechen jetzt Grundpositionen hervor, die den ‚Demian’ und letztlich sein ganzes Leben prägen werden. Sie sind offensichtlich mitbestimmt von seiner neuen Stellung zur Gewaltfrage.

Von nun an ist ihm „Gott wichtiger als jeder Staat“ (Brief an Martin Buber vom 24. 1. 1917; GB I, 345). Von nun an fühlt er sich einem „vorgeschobene(n) Posten der Menschheit“ zugehörig, von Menschen, „welche zuerst das werdende Neue wittern“ (Brief an Sturzenegger vom 3. 1. 1917; GB I, 343). Von nun an zählt er sich zu denen, die „in sich selber die Stimme vernehmen“ und ihr folgen wollen (ebd., S.342).

Ein Apostel der Gewaltlosigkeit ist geboren.

Jedes begrenzende Gruppendenken, jede nationale, selbst übernationale Bindung ist ihm abhanden gekommen. „Auch ‚Europa’ ist mir kein Ideal“, schreibt er an Romain Rolland. „Ich glaube nicht an Europa“, ruft er aus, „nur an die Menschheit, nur an das Reich der Seele auf Erden“ (GB I, 358). Das ist nicht mehr der alte, das ist schon die Stimme eines neugetauften Hesse, die Stimme Emil Sinclairs.

Seine neue Position entspricht der Gusto Gräsers auch darin, dass er – wie dieser – trotz aller Kriegsfeindschaft dem organisierten, politisch operierenden Pazifismus mit großen Vorbehalten gegenübersteht. Es sind die mutigen, die todesbereiten Einzelnen, denen er vertraut, nicht die Programme und Organisationen. Sich selbst fühlt er herausgefordert und will seine Verantwortung nicht mehr auf andere abwälzen. Deshalb wird auch der humanitäre Dienst an den Kriegs-gefangenen für ihn zu einer schweren moralischen Belastung. Was seine Biographen ihm zur hohen Ehre anrechnen, den opfervollen Einsatz für die Gefangenen, das hat er selbst eher als faulen Kompromiss empfunden.

Wie sein „Steppenwolf“ es sagt: Er hatte nicht, wie sein Freund, während des Krieges sich „an die Wand stellen und erschießen lassen, wie es die eigentliche Konsequenz seines Denkens gewesen wäre, sondern hatte irgendeine Anpassung gefunden“ (GW VII, 318).

Hesse verzichtet auf die Tat und schreibt stattdessen einen Roman - den ‚Demian‘.

Traum von der Mühle

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Aus den Träumen alter Menschen spricht oft eine Lebensbilanz. Kürzlich bin ich auf einen späten Aufsatz von Hesse gestoßen, in dem von einer „Neuen Mühle“ die Rede ist. Er erzählt einen Traum. Einen „Traum im Tessin, in einem etwas fremden, überhöhten, übersteigerten Tessin“ (GW VIII, 421). Er geht mit einem Begleiter durch eine unbekannte Gegend, wo ihn ein Gebäude besonders beeindruckt, „das ‚Neue Mühle‘ hieß, es war sehr viele Stockwerke hoch und hellrot bemalt“. Das Haus hat für den Träumer „einen eigentümlichen Reiz“. Er muss es immer wieder ansehen. Sein Begleiter ist „ein sehr naher Freund und Vertrauter, einer der zu mir und meinem Leben gehörte“. Er geht mit ihm in einer etwas gehetzten Unruhe durch fremde Gärten und Höfe und sieht „unter andern Gestalten auch einen alten Freund von mir kommen, er war ganz unverändert und in den vielen Jahren, die wir uns nicht mehr gesehen hatten, scheinbar um nichts älter geworden. Es war mir aber, weil wir Eile hatten und auch aus anderen, unklaren Gründen, nicht lieb, ihn zu begrüßen, ich blickte beiseite und tat fremd, und siehe, er ging an uns vorbei, oder vielmehr, er verschwand schon, ehe er uns erreicht hatte, als errate er meinen Wunsch und komme ihm entgegen“ (422).

Die Szene erinnert an eine ähnliche in ‚Demian‘. Emil Sinclair schlendert in den Ferien durch seine alte Vaterstadt, „da kam mir mein ehemaliger Freund (Demian) entgegen. Kaum sah ich ihn, so zuckte ich zusammen. Und blitzschnell musste ich an Franz Kromer denken. Möchte doch Demian diese Geschichte wirklich vergessen haben! Es war so unangenehm, diese Verpflichtung gegen ihn zu haben“ (GW V, 85).

Sincclair hat gegenüber Demian, seinem ehemaligen Freund, ein schlechtes Gewissen, so wie auch der Träumer gegenüber seinem alten Freund ein schlechtes Gewissen hat. Die Wieder-begegnung in ‚Demian‘ spiegelt Hesses Wiederbegegnung mit Gräser im September 1916. Warum hat er ein schlechtes Gewissen? Ganz klar: Hesse hatte seinen Freund 1910 öffentlich in der Zeitschrift ‚Jugend‘ angegriffen, hatte ihn als in den Bäumen hangelnden Orang-Utan verspottet (‚Doktor Knölges Ende‘). Zwar ohne seinen Namen zu nennen, aber durch das Umfeld des Monte Verità, in dem der Affe auftritt, für Eingeweihte durchaus zu erkennen.

Wir wissen auch von Hilde Neugeboren, dass Hesse seinen Freund in ihrer Gegenwart verleugnete. Eine solche Situation und ein solches Verhalten von ihm wird es mehr als einmal gegeben haben, ja es war kennzeichnend für sein Verhalten gegenüber der Öffentlichkeit überhaupt: Er hat seine Freundschaft zu Gräser zeitlebens versteckt.

Darum kommt ihm dieser Traum im Alter. Er berührt sein typisches Verhalten in dieser Beziehung, tausendmal durchexerziert sogar gegenüber engen Freunden, sogar gegenüber seiner dritten Frau Ninon. Schuldgefühle mussten ihn drücken, zumindest eine peinliche Scham. „Es war so unangenehm, diese Verpflichtung gegen ihn zu haben“ (GW V, 85). Darum musste er im Traum ihm ausweichen.

Wie geht die Begegnung weiter? Dem Träumer tut sich eine bezaubernde Landschaft auf. „Das ist ja unerhört schön!“ ruft er aus (VIII, 422). Die Landschaft ist ihm „ein großes Geschenk, eine seltsame Wunscherfüllung“. Und zwar ist das Eigentümliche an dieser Landschaft, „daß sie zugleich Wirklichkeit und Kunst, zugleich Landschaft und gemaltes Bild war“ (VIII, 422). Und nun schwärmt er von all den warmen Farben dieses Bildes, von Farben, wie sie auch in seinen eigenen Malereien nach 1919 vorherrschen: „Ocker, Neapelgelb, Englischrot, Weiß, ganz heller Krapplack und so weiter“ (VIII, 423).

Wir erinnern uns, dass Hesse, nachdem er sich 1919 von Gräser getrennt hatte, sich geradezu rauschhaft in die Malerei stürzte. Sie gab ihm wieder einen Halt nach der Höllenfahrt der doppelten und dreifachen Trennung, die er erlebt oder vollzogen hatte: die von seiner Frau, die von seinen Kindern und die von Gusto Gräser. Die Malerei, mehr noch als seine Dichterei, wurde ihm zur Rettung.

Das erzählt auch sein Traum in leuchtenden Farben. Aber im Erwachen kommt dem Träumer dann doch ein Bedenken und eine Ernüchterung: War diese „Zauberlandschaft“ nicht „ein klein wenig allzu schön, ein klein wenig allzu rosig, ein klein wenig allzu harmonisch, ein klein wenig allzu nah am Süßen, ja am Kitschigen“? (424). Hesse übt Selbstkritik.

Und wieder erinnern wir uns an seine vielen hübschen Gemälde tessiner Landschaften mit ihren hell- und starkfarbigen Bauklötzchenhäuschen, die heute in Tausenden von Bildpostkarten verbreitet sind und sich einer ungeheuren Beliebtheit erfreuen.

Seine „Zauberlandschaft“ ist ihm, so wiederholt Hesse, „nach dem Erwachen und beim Versuch, sie mir wieder genau vorzustellen, ein wenig zu schön, ein bißchen zu hübsch, ein bißchen zu ideal ... und diese heimliche Kritik will sich nicht wieder zum Schweigen bringen lassen“ (424).

Mit anderen Worten: Der Träumer erkennt, dass seine Malerei eine Flucht war, eine Ausflucht vor dem Freund. Die unangenehme Erinnerung an seine Untreue gegenüber dem Menschen, der ihm ein Helfer und naher Vertrauter gewesen war, der zu ihm und seinem Leben gehört hatte, übermalt der Träumer und übermalt Hermann Hesse mit lieblichen niedlichen Bildchen.

(Siehe HH: Traumgeschenk. In: Gesammelte Werke, Band 8, Frankfurt am Main 1970, S. 419-424)

*

Der Traum beginnt bei der „Neuen Mühle“. Wir dürfen uns vorstellen, dass damit die „untere Mühle“ gemeint ist, die später Hesses Sohn Heiner bewohnen sollte. Wir dürfen uns weiter vorstellen, was anzunehmen ist: dass Gräser und Hermann Hesse sich öfter mal bei oder in dieser Mühle getroffen haben. Ob sie damals, 1917-18, schon im Besitz seines jungen Freundes „Köbi“ war? Jedenfalls kam dieser „Köbi, alias Jakob Flach, rund fünfzig Jahre später aus der unteren Mühle und zog aus der Innentasche seiner Jacke einen lang bewahrten Schatz hervor: ein Gedicht von Gusto Gräser. Fünfzig Jahre hatte er ihn aufbewahrt, obwohl er diesen Gräser nicht mochte. Er mochte ihn vermutlich auch deshalb nicht, weil er spürte oder wusste, dass der von ihm bewunderte Hermann Hesse in Gräser einen Freund hatte, der ihm näher stand als er.

Jene „Neue Mühle“ ist ein sehr hohes Gebäude, es scheint fast in den Himmel zu reichen. Der Träumer kommt mit einem sehr nahen Freund dahin, und die Bewunderung für diesen Freund scheint sich auf das Gebäude zu übertragen. (Der Freund tritt gleich doppelt auf, was zeigt, wie viel er dem Träumer bedeutet). Die Mühle ist hellrot bemalt und trägt damit jene Farbe an sich, die in der geträumten Landschaft und in Hesses Gemälden häufig widerkehrt. Es ist, als wolle er in seinen Aquarellen den lichten Glanz und eigentümlichen Reiz bewahren, der von diesem kolossalen Mühlenturm ausgeht. Aber er muss erkennen, dass dieser Glanz, diese warme Farbigkeit nicht ganz echt ist. Schön sind die Bilder, ein wenig allzuschön. Es fehlt ihnen das Dunkel der rauen Wirklichkeit.

Gusto Gräser, "Barfußpoet", Inspiration für Hermann Hesse und Urbild seiner Wanderergestalten.    

Henri Colomer 1997

Gustav hatte verschiedenen Boheme-Kreisen in Deutschland angehört. Später wird Hermann Hesse sein Schüler.  

Marcela Sanchez 2001

Gusto strahlt Gesundheit aus, physisch wie psychisch. Er ist eine Mischung aus Naturbursche und Geistesaristokrat, bei dem alles eine Bewandtnis zum Höheren hat.
... Man kann sein Felsenheim immer noch besichtigen. ... Hier wohnte einer, der nicht nur äußerst genügsam war, sondern der Ungeduld und Unduldsamkeit, die man seinem Bruder nachsagte, ein Denken in großen Zeiträumen entgegensetzte. ... Gusto Gräser ist ein Vorläufer der wandernden Sucher und Gurus.

Stefan Bollmann 2017

Die Beziehung Hermann Hesses zu Gräser blieb lange im Dunkeln, obwohl man hier mit Sicherheit von einer persönlichen Begegnung ausgehen kann.

Peter Sprengel 2001

Zu Beginn des Jahrhunderts war Hesse beeindruckt worden durch Gustav Gräser, einem langhaarigen, rauhbärtigen Dichter, Bildhauer, Maler, Naturfreund, Pazifisten und vagabundierenden Outsider, einem selbsternannten Gesellschaftskritiker und Propheten in Kutte und Sandalen.

Joseph Mileck 1977

In den Sommern 1906 und 1907 zieht Hesse zu Gusto Gräser, einem Mitbegründer der Lebensreform-Kolonie am Monte Verita, mit dem er vermutlich auch einige Wochen in einer Felsengrotte bei Arcegno lebt. ... In den Bergen um Arcegno ist der Hut das letzte Kleidungsstück des Naturmenschen: „Als ich herkam und meine Kleider in den Rucksack steckte und nackt, nur mit Sandalen und einem Hut bekleidet, meine Kur begann, hatte ich sehr unternehmende und fröhliche Gedanken.“ (SW 11,312) Was dann kommt, ist allerdings schon in der kleinen Erzählung In den Felsen von 1907 mehr Selbstkasteiung als Erlösung.    Heike Gfrereis 2013

Der erfolgreiche Jungautor floh in eine Felsenhöhle auf dem Monte Verita.

Alois Prinz 2000

Er fühlte sich zu dem Naturmenschen Gustav Gräser hingezogen.

Klaus Walther 2002

Zu seiner persönlichen „Morgenlandfahrt“ macht er sich 1907 von Gaienhofen aus auf den Weg. In jenem Frühling pilgert er zum ersten Mal auf den Monte Verita, den Berg der Wahrheit, seinen Zauberberg im Tessin. ...

Hesse begegnet dort Gusto Gräser, dem langhaarigen, Sandalen und Stirnband tragenden Propheten der Monte-Verita-Kultur. Einige Tage lebt er ein Eremitenleben abseits des Hüttendorfes und Sanatoriumsbetriebs in Gräsers Felshöhle und Laubhütte. ... Hesse klettert nackt in den Felsen, gräbt sich bis zum Hals in die Erde ein, trinkt Quellwasser, fastet, meditiert, führt Gespräche, versucht, die Körperpanzerung abzustreifen und in der Wildnis eine Visionssuche und Bewusstseinserweiterung in Gang zu setzen.

Ulrich Grober 2006

Calw und Arcegno, Schwimmen, Bergwandern und Skifahren, Konstanten des Lebens zumindest für eine Zeit. „Hier ist mein heiliges Land, hier bin ich hundertmal / Den stillen Weg der Einkehr in mich selbst / Im Sinnbild einsamen Geklüfts gegangen / Und geh ihn heute neu, mit anderem Sinn, / Doch altem Ziel, und geh ihn niemals aus. / Hier atmen falterhaft Gedanken fort, / Die ich vor Jahren hier in Fels und Ginster, / In Sonnenhauch und Regenwind erjagt“ (SW 10, 248), schreibt er 1917 über Arcegno.

Heike Gfrereis 2013

As a young man, Hesse was given to Rousseauesque experiments, an expression of ‘back to nature’ longings inspired in part by the Gräser brothers’ advocacy of nature worship. ... The mystical and anti-modernist basis for the philosophy of these ‘Naturmenschen’ informs his early works. In further echoes not only of monism and the Gräser brothers, but also the teaching of St Francis of Assisi, he wants to preach a kind of nature religion.

Colin Riordan 2005

Die individualistisch-anarchistische Revolte hatte auf dem Monte Verita dasselbe Heimatrecht wie die Frauenemanzipation, pazifistische Ideen wurden hier ebenso vertreten wie die sexuelle Befreiung aus den Fesseln lebensfeindlicher Prüderie und puritanischer Muffigkeit. Ja, wie in einem Schmelztiegel kristallisierten sich in diesem subkulturellen Sammelplatz all die lebens- und kulturreformerischen Sehnsüchte, Experimente und Visionen des frühen 20. Jahrhunderts.

Volker Michels 2002

Hesses Zauberberg ist der Monte Verita, der Berg der Wahrheit im schweizerischen Tessin. Ascona ist ein Sammelpunkt freier Geister aus ganz Europa.

Ulrich Grober 2002

Hermann Hesse kam damals aufgrund einer Kur in das Land. Dort lernte er Gusto Gräser, einen Naturmenschen, Philosophen und Dichter, kennen.

Jocelyne Kittel 2002

Der erschien ihm unter allen Wahrheitssuchern als die markanteste Gestalt: Naturmensch, beeinflusst von östlichem Gedankengut, ein Verehrer alles Lebendigen. 

Eveline Hasler 2002

Er war ein radikalerer Verkünder des Friedens und eines natürlichen Lebens, und in dieser Funktion als ein unterirdischer "Guru" scheint er Hesses Weg mehr als einmal an entscheidenden Wegpunkten gekreuzt zu haben.  

Ralph Freedman 1979

Angeregt durch Arthur Schopenhauer, dem ersten mit indischem Denken geprägten europäischen Philosophen, beginnt Hermann Hesse ab 1907 mit Yoga, Askese und Selbstkasteiung zu experimentieren. Er vertieft sich mit Herzklopfen, wie er sagt, in die esoterischen Erkenntnisse der Bhagavadgita und die bis dahin nur ins Lateinische übersetzten "frühlingshaften Gleichnisse" der Upanishaden.

Volker Michels 2002

Hesse scheint sich eine Zeitlang sehr ernsthaft mit theosophischen Schriften auseinandergesetzt zu haben, wozu der Aufenthalt auf dem Monte Verita den Anstoß gegeben haben mag.    

Christoph Gellner 1997

Auf dem mit Edelkastanien bewachsenen Berg über dem Lago Maggiore bezog er eine kleine Bretterbude, lebte dort 7 Tage ohne feste Nahrung, grub sich bis zu den Achseln in den Erdboden ein, um die so gepriesene „Heilkraft der Erde“ zu erfahren ... Vierzehn Jahre nach seiner asketischen Abstinenz auf dem „Berg der Wahrheit“ wird er in seiner Buddhalegende Siddharta auf diese Exerzitien wieder zurückkommen und der durch Askese gewonnenen Selbstdiziplin, der Fähigkeit zu „denken, warten und fasten“, eine für die Entwicklung seines Helden wegweisende Bedeutung einräumen. Sein dreißigstes Lebensjahr mit ... der Expedition zu den Lebensreformern des Monte Verita empfand Hesse als eine Zäsur in seinem Leben.

Volker Michels 2003 in HH, Sämtliche Werke, Band 11, S. 762f.

Hesse schloss sich einem Wanderprediger an, Gustaf (Gusto) Gräser, der so etwas werden sollte wie sein Guru. ... Die Kehrseite seines Mutterkomplexes war der Hang zur Wanderschaft, zum Ausreißen, zum Eremiten. Diese Seite hatte er in Gusto Gräser gefunden, von dem wir gleich hören werden, und im Knulp, im Siddharta, in der Morgenlandfahrt gestaltet.

Jörg Rasche 2003

1906 [1907!] kam Hermann Hesse zum ersten Mal nach Ascona. Zum einen wollte er offenbar eine Alkoholentziehungskur im Sanatorium Monte Verita machen, zum anderen zog es ihn zu Gusto Gräser, um etwas von ihm zu lernen, was in seinen Büchern immer wieder eine Rolle spielt: den Rückzug in die Einsamkeit, das Ausgesetztsein in der Natur, die Askese, die radikale Außenseiterrolle. ... Die Erfahrungen, die er dort machte, sind vielfältig in seine Bücher eingegangen.

Ulrike Voswinckel in: Mythos Heimat. Dresden 2016. S. 498

In realta il vero ideologo del gruppo - o, per dirla in maniera meno alta, la persona che piu radicalmente coltivava il sogno di una vita alternativa, di un utopica communita di uguali che doveva rompere con tutti i compromessi e i costumi borghesi - era anche il personaggio piu difficile e orginale di tutti loro: Gustav Gräser; predicatore, scultore e pittore. ... E sara li, nel suo ashram ticinese, che anni dopo lo incontro .Hermann Hesse ... E fu li che Hesse penso di scoprire nella signora Elisabetta, moglie di Gusto, il prototipo della Grande madre terra, una figura e un’idea di cui molti discutevano in quegli anni da quelle parti, tanto da fare di Ascona il santuario “intellettuale” del suo culto.

Irene Bignardi 2003

Hesse zog es zu seinem Freund Gräser, der auf seinem Grundstück im Tessin eine Felsspalte hatte, in die man sich, abgeschottet von der Umwelt, zurückziehen konnte.

Jocelyne Kittel 2002

Mit Gräser teilte er, wenn auch nur für kurze Zeit, die Erfahrung der Einsiedlerschaft in einer Höhle. Auch nach dem Abschluss dieser Periode hielt er seine engen Verbindungen bis 1919 aufrecht.  

Roberto Albanese 2003
Diversita di posizioni e ruolo di Hermann Hesse
L’esperienza di Monte Verita fin dall’inizio fu caratterizzata da un fortissimo dibattito tra le posizioni, si potrebbe dire, del "partito dei realisti" e quello invece dei "fondamen-talisti". Al primo si richiamarono i fondatori, coloro che apportarono il capitale che rese possibile l’acquisto del colle e l’avvio dell’esperienza. Questi operarono perche il progetto del gruppo, per darsi una stabilita, si qualificasse come casa di cura, centro naturista e di arte. Gusto Graser - un altro componente del gruppo dei fondatori -invece sostenne sempre una linea intransigente di richiamo ad una proposta culturale e politica estranea ad ogni convenzione, che non poteva trovare compromessi con le esigenze razionali espresse da Henri e Ida, volte sostanzialmente a programmare la sopravvivenza economica dell’esperienza.
Il dibattito si trascino per non pochi anni e vide coinvolto lo stesso Hermann Hesse, che si schiero con le posizioni di Gusto Graser. Hesse infatti soggiorno a Monte Verita nel 1907 per svolgere una cura di disintossicazione dall’alcool. Con Graser condivise, anche se per poco tempo, l’esperienza di eremitaggio in una spelonca, mantenendo anche alla conclusione di questo periodo ancora stretti contatti sino al 1919.
Hesse restera comunque sempre un suo discepolo e ancora, evidenzia Janos Frecot, "ne media l’influenza nell’odierna disputa sul superamento della razionalita" (JANOS FRECOT, Monte Verita quale campo centrale di esperimenti per modi di vita alternativi fra l’inizio del secolo e la prima guerra mondiale, in AAVV, Monte Verita, Armando Dado Editore Locarno / Electa Editrice Milano, 1978, p.61).

Roberto Albanese: I nonni dei verdi

In Ascona erlebte Hermann Hesse seine Bekehrung im 'Ashram' des 'Guru' Gustav Gräser; hier liegen die Wurzeln seines Indien-Mythos!  

Ulrich Linse 1978

All das mitunter kauzig, ja bizarr anmutende Suchen Hermann Hesses nach Naturverbundenheit, Nacktwandern und vegetarischer Diät (Anm.: 'In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen'.) ... findet unter diesen Vorzeichen seine Legitimation, ja innere Notwendigkeit.  

Eugen Drewermann 1994

Hesse gelingt es nicht, die erhoffte Wandlung zu vollziehen. Er fühlt sich „krank und rastlos, von törichten Träumen, Reue und Vorwürfen heim-gesucht, von Schmerzen belästigt, kaum zum Stehen und Gehen fähig und vom Hunger belagert wie eine Stadt im Krieg“. Er kehrt nach Gaienhofen und in die bürgerliche Existenz zurück. Aber das Erlebnis war stark und wirkt nachhaltig.  

Ulrich Grober 2006

Hermann Hesse wurde wohl von allen Besuchern dieser Bergsiedlung am nachhaltigsten berührt, besonders aber von Gusto Gräser. ... Wir wissen heute, daß Hesse eine Zeitlang in Gräsers Höhle gewohnt hatte ... daß er darüber zum echten Jünger dieser Bewegung wurde. Diese Erfahrung zieht sich von nun an durch fast alle seine Romane und Erzählungen. ... Und wenn einer hierin, im Suchen nach sich selbst, ein Vorbild war, wenn einer, ohne Proselytenmacherei, ganz nur auf sich und die eigenen Seelennöte bauend, beispielhaft voranging, so war es Gusto Gräser.

Michael Skasa 1986

II. Zweites Zusammensein 1916-1918

In der schweren Lebenskrise der Jahre 1916/17 ... wandert Hesse wieder zum Monte Verita und sucht abermals die Begegnung mit Gusto Gräser. Der Berg ist zum Sammelpunkt freier Geister und kulturrevolutionärer Aussteiger aller Richtungen geworden ... Das Monte-Verita-Erlebnis und die Begegnung mit Gräser helfen ihm, die großen Stoffe und Figuren seiner späteren Werke zu formen: den Weisheitslehrer Demian im gleichnamigen Roman von 1919, den alten Fährmann Vasudeva in Siddharta, Leo, den geheimnisvollen Führer des Bundes in der Morgenlandfahrt, Tito, den jungen Wanderer im Glasperlenspiel.  

Ulrich Grober 2006

Hesse kam in den Jahren 1917 und 1918 zu Gräser zurück und bekannte sich jetzt mit großer Leidenschaft zu dessen Ideen.  

Joseph Mileck 1977

Er war sich einig mit den Menschen auf dem Monte Verita; einer von ihnen, der Einsiedler und Urhippie Gusto Gräser, mit dem Hesse von 1907 bis 1919 Kontakt hatte, ist wohl Vorbild für Hesses Wanderer, Einsiedler und Gurus, vor allem für den Roman "Demian", geworden. Hesse erlebte auf dem Monte Verita jenes natürliche, unstädtische und unmodische Leben, das er suchte.

Rüdiger Bernhardt 2002

Demian was also written at a time when Hesse renewed some of his contacts with the „guru“ Gustav Gräser. This man and his commune had by then drawn the fire of the authorities not only in Germany but in neutral Switzerland for their active involvement in antiwar activities. Perhaps at this point, when his decisions had ripened and his stand had become clear to him, Hesse no longer minded that the connection between him and the group might be known to some; most letters that have been preserved are dated from 1917 onward. Clearly, Hesse, looking everywhere for assistance, would have found in Gräser and his group welcome support.
Demian wurde auch zu einer Zeit geschrieben, als Hesse einige seiner Kontakte mit dem „Guru“ Gustav Gräser wieder aufnahm. Dieser Mann und seine Kommune hatten damals die Angriffe der Behörden auf sich gezogen wegen ihrer aktiven Beteiligung an den Unternehmungen der Kriegsgegner, nicht nur in Deutschland, auch in der neutralen Schweiz. An diesem Punkt, als seine Entscheidungen ausgereift waren und sein Standpunkt ihm klar geworden war, hat Hesse vielleicht keine Rücklsicht mehr darauf genommen, dass die Beziehungen zwischen ihm und der Gruppe bekannt werden könnten; die meisten der Briefe, die sich erhalten haben, stammen aus der Zeit ab 1917. Es ist klar, dass Hesse, der sich überall nach Hilfe umsah, bei Gräser und seiner Gruppe willkommene Unterstützung gefunden hätte.  

Ralph Freedman 1979

Gusto Gräser, der insgesamt sicherlich zu den facettenreichsten, die verschiedensten intellektuellen und religiösen Einflüsse zusammen bringenden und daher auch zu den am schwersten greifbaren Figuren der Bewegung gehört.

Hans-Jörg Sigwart

Die notorisch geschichtsferne Deutung, mit der das Werk Hesses bis auf den heutigen Tag überzogen wird, hat sich auch im Fall des Demian nicht nach zeitgenössischen Verhältnissen umgesehen, die Hesses immer wieder den Kitsch streifenden Beschwörungen von Mütterlichkeit und Weiblichkeit erklären helfen könnten. Hesse war durch seine Aufenthalte auf dem Monte Verita der Kult der "Großen Mutter” bekannt. Die antiwilhelminische Opposition versammelte sich im Tessin, eine Alternativbewegung größten Ausmaßes und von beeindruckender Vielfalt. ...
Die Kolonie von Lebensreformern hing einem Indien-Kult an, der im mutter-rechtlichen Mythos von der "Mutter Erde" eine Gegenwelt zur "Väterkultur" des Wilhelminismus zu errichten suchte. Gustav Gräser war einer der "Gurus" dieser Bewegung, und Hesses Reise 1911 nach Indien dürfte auch durch die Eindrücke auf dem Monte Verita motiviert worden sein.

Heribert Kuhn 2000

Hesse diente in seiner Erzählung Demian (1919) das Boheme-Refugium auf dem Monte Verita als Vorbild seines mutterrechtlich organisierten „Paradieses“.

Heribert Kuhn 2007

Hesse setzt seinem "Freund und Führer" ein literarisches Denkmal in seinem Demian, dem Roman des Monte Verita.  

Hans-Dieter Mück 1991

Gräsers Predigt vom "Entschlossenen zum reinen Reich", zum "Herzgottreich", zum "Menschenreich" strukturiert zweifellos Hesses Demian.

Bernhard Gajek 1979

Dieser Demian ist mit Sicherheit unser Gusto Gräser.  

Michael Skasa 1985

Demian: Zentrale Einflüsse: Gusto Gräser und Carl Gustav Jung.

Volker Frederking 2002

Zwei Quellen belegen, dass auf dem Monte Verita Yogaübungen praktiziert wurden. An erster Stelle sei wiederum Hermann Hesse genannt. Auch sein Roman Demian ist von der Szene des Monte Verita inspiriert. Darin heisst es: "[ ... ] unter ihnen waren Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anhänger des Grafen Tolstoi, und allerlei zarte, scheue, verwundbare Menschen, Anhänger neuer Sekten, Pfleger indischer Uebungen, Pflanzenesser und andere."

Pfleger indischer Uebungen: Es liegt nahe, hierbei an Yoga zu denken. ... Die ersten bezeugten Yogis auf Schweizer Boden, wenn auch eher ohne Schweizer Pass: Wer immer sie waren, was auch immer genau sie praktizierten und warum, woher auch immer sie ihr Wissen über Yoga bezogen, sie fühlten sich offensichtlich durch die Atmosphäre des Monte Verita angezogen. Vielleicht fanden sie hier einen nötigen Freiraum, um mit Yoga zu experimentieren, und Bestärkung durch ähnlich Gesinnte.

Martin Merz 2006

Die aus dem Buddhismus entstammende Konzentrationsübung des Yoga spielt bei Hesse eine Rolle: zunächst 1907 in den Notizen eines Naturmenschen, In den Felsen, dann im Siddharta und programmatischer noch im Gasperlenspiel.

Volker Michels 2002

Gusto Gräser, Hesses Begleiter und Lehrer auf dem Monte Verita ... versteht sich nicht als Guru, eher als Initiator der Selbstfindung: „Hüt - dich - vor - mir - du - komm - zu - dir.“ Seine Botschaft ist eine neue Synthese von Natur und Kultur im Geiste der Besitzlosigkeit und Gewaltlosigkeit, des Einklangs zwischen innerer und äußerer Natur, der Rückbindung an die Urphänomene und Urrhythmen des Lebens.

Ulrich Grober 2006

Mitte April 1919 ... quartiert sich Hesse in Minusio bei Locarno ein ... Als sich der Schriftsteller im Bannkreis des Monte Verita installiert, erscheint unter Pseudonym sein Roman Demian, darin er die bunte Schar der Monte-Veritaner als „Kainiten“ auftreten lässt. Der Monte Verita ist zu Recht als Gegenpol, die dort gelebten Erneuerungskulte und lebensreformerischen Programme als Gegenkultur des Wilhelminismus begriffen worden. Hesse wird also genau zu dem Zeitpunkt, als das deutsche Kaiserreich zusammenbricht, in jener Gegend sesshaft, die zwei Jahrzehnte lang als eine Art Utopie des kaiserlichen Deutschlands existierte. Nicht genug damit liefert er genau zu diesem geschichtlichen Augenblick mit dem Demian das Buch zu dieser Utopie.

Heribert Kuhn 2002

Die prätentiösen Reisen Keyserlings und Ossendowskis entsprachen Hesses Neigungen und Bestrebungen weniger als der legendäre Zug einer Gruppe idealistischer und ekstatischer junger Reformer, die im Jahre 1920 durch Bayern und Thüringen wanderten, um Gusto Gräsers Evangelium von Natur, Liebe, Freude und Selbstverwirklichung zu verbreiten.

Joseph Mileck 1979

Hermann Hesse wird später in der Morgenlandfahrt diesem glücklichen Sommer ein Denkmal setzen. ...
Die "Neue Schar" in Thüringen, der Aufstieg zur Leuchtenburg 1920. Die Neue Schar hatte dort ihr Winterquartier. Es ist ein Teil der Wandervogel-Bewegung. Der Initiator dieser Gruppe war ein Freund Gräsers, genannt Muck. "Mit 25 jungen Männern und Mädchen zieht er singend, tanzend und predigend durch Thüringen und reißt Zehntausende in seinen Bann. Eine Tanzepidemie breitet sich aus, die mit den Geschehnissen der Wiedertäufer-Zeit verglichen wird. Die Tore der Kirchen öffnen sich für die tanzende und blumengeschmückte Schar und ihren feurigen Prediger. ...
Mucks ,Kreuzzug der Liebe’ wird als mutigste Tat der Jugendbewegung gefeiert, dann aber, nach seiner Unterdrückung, vollständig tabuisiert. Erst Hesse wagt es, zehn Jahre später, den Aufbruch um Gräser und Muck ins Gleichnishafte der Legende zu erheben -nämlich in der „Morgenlandfahrt". Es war ein Zeitzeichen, zugleich ist es eine Parabel für eine Etappe von Hesses Individuationsweg.

Jörg Rasche 2003

Hesses Morgenlandfahrer sind "ein Bund". Wir wissen heute, was es tatsächlich mit diesem Bund auf sich hatte und wen Hesse selbst dazu zählte. Eine Elite: Ernst Bloch, Hans Arp, Klabund, Claire und Iwan Goll, Georg Kaiser, Oskar Maria Graf, Leonhard
Frank, Erich Mühsam, Toller, Else Lasker-Schüler. Hesse hätte auch den geographischen Ort benennen können, an dem sich diese Elite traf: ein kleiner Ort in der Nähe von Ascona in der Schweiz. Eine Siedlung auf einem Berg, den sie Monte della Verita nannten. Der Gründer war ein Mann namens Gusto Gräser, ein sehr seltsamer Mann aus Siebenbürgen, 1879 geboren, Maler, Dichter, Wanderer, Bettler, Pazifist, Kriegsdienstverweigerer, religiöser Sozialist, Schulreformer, Gesprächspartner für Lenin und Trotzki.
Ascona wurde zum Treffpunkt von Reformern und Revolutionären, und besonders von Kriegsgegnern. Es wurde zur Zuflucht politisch verfolgter Kriegsdienstverweigerer und Kriegsgegner. Hort der Alternativbewegung, von guten Bürgern verdächtigt des anarchischen Kommunismus und der Libertinage. ... Dieser Gräser ist sicher Pate gestanden zu mehreren Guru-Figuren in Hesses Werk.

Luise Rinser 1990

Leo ist nach dem lebenden Vorbild des Alternativen Gusto Gräser geformt. Asien und Alternativkultur verschmelzen hier in einer Person; Hesse bezeugt es.

Ulrich Linse 1991

Ein wesentliches Bindeglied zwischen jener ersten Siedlergruppe unter Oedenkoven und Hofmann und der rund siebzig Jahre jüngeren Hippie-Genration ist zweifellos Hermann Hesse. ... Siddharta, Demian, Steppenwolf und das Glasperlenspiel. Diese Zeugnisse von Hesses eigener geistiger Entwicklung und seinem persönlichen Werdegang, der vom Leben auf dem Monte Verita, vor allem erst durch Gusto Gräser, dem vielleicht unbändigsten Naturmenschen der ganzen Gemeinschaft, und später durch C. G. Jung beeinflusst wird, werden in millionenfacher Auflage und in zahlreichen Übersetzungen zur Offenbarung für die Aussteiger aus der modernen Konsumgesellschaft.

Klaus Seeland 2000

Wenn man dazu nimmt, wie sehr gerade von solchen Hesse-Geschichten dann seit den ausgehenden Sechzigern die Hippies und alle von diesen ausgegangenen Jugendbewegungen beeinflusst wurden, die wiederum zu Urweisheiten, Landkommunen, gesunder Ernährung in paradiesischer Umwelt vorzustoßen versuchten, so haben wir damit in ihnen eine unglaubliche Ausstrahlung jener Welt um den damals so ursprünglichen Tessiner "Wahrheitsberg".

Sergius Golowin 1979

So partizipieren sie am Mythos des heiligen Berges, eines Ortes, an dem die Götter wohnen oder wo sie sich den Menschen zeigen und ihre Gebote verkünden, prädestiniert für Meditation, Einsiedelei oder alternative Gemeinschaftserlebnisse. An solchen Schauplätzen lassen wir die Alltagswirklichkeit hinter uns und gehen in einer neuen Ordnung auf, von der wir erwarten, sie sei unseren wahren Bedürfnissen gemäßer als das bisher geführte Leben.

Stefan Bollmann 2017

Er war eine auffällige Gestalt - nicht zu übersehen! Mit seiner groben Kutte, schulterlangen Haaren und Rauschebart, Sandalen und einem Bündel über der Schulter war er der Prototyp des Bürgerschrecks, ein Aussteiger und Naturmensch, der an Rübezahl, Robinson Crusoe oder Johannes den Täufer erinnerte. Gusto Gräser - Dichter, Künstler, Prediger - war Anfang des letzten Jahrhunderts eine der bekanntesten Figuren der aufkommenden Lebensreform-Bewegung, der durch seine kompromisslose Lebensweise auf Schriftsteller, Politiker und Intellektuelle wie Gerhart Hauptmann, Theodor Heuss und Thomas Mann eine große Faszination ausübte. Hermann Hesse sah in ihm seinen Guru.

Christoph Wagner 2008

Gräsers Aufgabe als Hesses Lehrer bestand darin, immer genau auf die wunden Punkte zu zeigen, die Hesse von seiner Wahrhaftigkeit trennten — dies ist ein wichtiger Teil der Arbeit eines echten Meisters. Dabei ging es um Angst, verdrängte Wut und Sexualität, sowie um Eitelkeit. Gerade Eitelkeit ist ein zentraler Bestandteil von Hesses Ego gewesen: diese Eitelkeit führte ihn zu einem störrischen Beharren auf seinen eigenen Vorstellungen von Richtigkeit und Wahrheit und machte ihn von einem gewissen Punkt an unempfänglich für das offene Zulassen einer umfassenderen Wirklichkeit.
Die Beziehung zu seinem Lehrer war zweigeteilt: Einerseits liebte und verehrte er ihn, denn Gräser vertrat für ihn alles, wonach er sich sehnte: Kraft, Würde, Wahrhaftigkeit. Das spricht aus vielen seiner Bücher, in denen er Gräser in Form von eindrucksvollen Meisterfiguren verewigte und über ihn nachsann (z.B. Demian, Vasudeva, der Fährmann in „Siddhartha“, ebenso vergleichbar der Leo in „Morgenlandfahrt“, oder besonders herausragend: der Magister Ludi Josef Knecht im „Glasperlenspiel“).
Gleichzeitig fürchtete er ihn aber auch und zog sich zweimal von seinem Einfluß zurück, als es für ihn an die praktische Verwirklichung ging (das erste Mal 1907, nachdem er mit Gräser nackt und fastend in den Wäldern um die Grotte bei Arcegno lebte, zum zweiten Mal und endgültig 1919, als Gräser von ihm Unterstützung für seine eigenen Veröffentlichungen erbat und nie erhielt).

Marco Holmer 2008

1952 besuchten meine Frau und ich Hermann Hesse in Montagnola. Er erzählte in seiner langsamen Sprechweise folgende Anekdote: Gräser sei mit seinen langen Haaren, dem wallenden weißen Gewand und den Heilandssandalen mit schwingenden Armen durch das hohe Kornfeld eines Bauern geschritten. Der Bauer sei ihm wutenbrannt nachgelaufen und habe ihn von hinten her beschimpft. Gräser habe sich hoheitsvoll umgewandt und gesagt: „Was willst du, mein Sohn?“ Da sei der Bauer zitternd in die Knie gesunken, habe die Hände gefaltet und gestammelt: „Das ist ja unser Herr und Heiland!“ >>> Analyse

Uli Münzel 1987

Verehrt von Hermann Hesse, der sich als sein Schüler fühlt, stirbt Gräser 1958 in Freimann bei München.  

Mara Folini 1998

Die Lehren dieses einsamen Predigers sind aufgehoben im Werk Hermann Hesses.

Ulrich Linse 1986

„Zärtlich blickte er in das strömende Wasser, in das durchsichtige Grün, in die kristallenen Linien seiner geheimnisreichen Zeichnung. ... Wie liebte er dies Wasser, wie entzückte es ihn, wie war er ihm dankbar. ... Wer dies Wasser und seine Geheimnisse verstünde, so schien ihm, würde auch vieles andere verstehen, viele Geheimnisse, alle Geheimnisse.“ So steht es in Hermann Hesses „Siddharta“.
Diese und manch andere indische Weisheit verdankte der Sohn eines baltendeutschen Missionars einem Manne, der just hier in Freimann, am Ufer der Isar, als „Kohlrabi-
Apostel“ und „nackerter Kerl“, wie der „Münchner Merkur“ spöttisch schrieb, seinen Lebensabend verbrachte. Er lebte in spartanischer Einfachheit in einer Art Hütte, umgeben von Kräutern und Blumen - gerade so wie Siddharta, der auch „am Flusse“, wie eines der Romankapitel bei Hesse heißt, seine Erleuchtung erfährt. Aber nicht nur für die literarische Gestalt des indischen Weisen stand der spätere Eremit aus Freimann Pate, sondern auch für die Figur des Demian in der gleichnamigen Erzählung. Seine Gedanken, seine ganze Lebensphilosophie floß ein in Texte von Hesse wie „Der Weltverbesserer“ oder „Zarathustras Wiederkehr“.  

Bernhard Setzwein 1993

Magier haben Wissen, Magier sind anders. Magier wirken auf Zeitgenossen und Mitmenschen oft unheimlich - oder sie werden ganz einfach für Spinner gehalten. ...

So wundert es nicht, dass einer der Urväter der sogenannten Esoterik ausgerechnet in München, seiner Wirkungsstätte, zum Spinner erklärt wurde. . Gusto Gräser war ein Magier, dessen Denk- und Lebenskonzepte bis heute auf die Esoterik wirken und die selbst Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann nachhaltig beeinflusst haben. . Um die Wende zum 20. Jahrhundert, die so viele Magier und Symbolisten hervorgebracht und wirkmächtig hat werden lassen, hatte Gräser alle gesellschaftlichen Kontakte abgebrochen, lebte als Wilder und Hexer und wurde von der bürgerlichen Welt zumeist als „Streuner“ oder „Landstreicher“ abgetan. Daher wurde sein Wirken als „Guru“ oft weit unterschätzt - beeinflusste er doch Hermann Hesse nachhaltig zur Dichtung des Demian.

Fritz Fenzl 2009

Aus mehreren Staaten und Städten polizeilich vertrieben, in Gefängnisse und Irrenhäuser gesteckt, zum Tod verurteilt, als Narr und Messias der Rückgewandten von den einen verlacht und verspottet, hatte er durch andere als Botschafter einer Lebensorientierung außerhalb der Norm Zuneigung und Schutz erfahren. Der Literaturnobelpreisträger 1912, Gerhart Hauptmann, hatte ihn zum Vorbild seines Romans von 1910, „Der Narr in Christo Emanuel Quint“, genommen. Der Nobelpreisträger 1929, Thomas Mann, hatte 1926 seine Ausweisung aus dem Deutschen Reich verhindert. Der Nobelpreisträger 1946, Hermann Hesse, hatte ihm die Hauptgestalt der Erzählung „Demian“, 1919, nachgebildet und den zwei Jahre Jüngeren seinen „Meister“ genannt. Der Philosoph des Prinzips Hoffnung Ernst Bloch, der russische Revolutionär Fürst Kropotkin, der spätere Gründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin, der Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie von 1868 August Bebel suchten das Gespräch mit ihm. .

Eine der eigenartigsten und bemerkenswertesten Gestalten der deutschen Kulturszene aus den Epochen um die beiden Weltkriege, ein Einzelgänger und Unbehauster, der in bayerischen Berghütten, in einer Höhle der Schweizer Alpen, in einem Wohnboot auf einem der Berliner Seen und Gott weiß wo sonst noch gelebt hatte, beständig heiteren Gemüts, furchtlos, unbeirrt und ohne ideologische Anmaßung den eigenständigen philosophischen Lebensentwurf in die Tat umsetzend.

Hans Bergel 2009

Einem Freund verdanke ich einen bedeutsamen Brief, der mich heute beschäftigte. Er führte mich zu den „Kindermenschen“ des Siddharta, zu Hermann Hesses „Morgenlandfahrt“ und zur Gestalt Gusto Gräsers. .
„Aufschlüsse finden wir am Extrem“, schrieb ich vor einer Woche. Gusto Gräser zum Beispiel. * 16. 2. 1879 Kronstadt/Siebenbürgen.
Dieser Mensch erschien an einem Tag auf der Welt, wo die schicksalsgebenden Archetypen in mächtigen Weltresonanzen unterwegs waren, wo seltene Menschen seltene Kinder gebären.

Mundanomaniac 2008

Der Monte Verita war ein Flop, aber eben ein produktiver Flop, findet Enzensberger: Hermann Hesse, der hier einen vierwöchigen Alkoholentzug antrat, arbeitete sich ein Leben lang an dem charismatischen Gusto Gräser ab, dem Spiritus Rector des Monte Verita.

ZEIT online 25. 3. 2013

Sein erster Lehrer in einer längeren Reihe von Meister-SchülerBeziehungen wird der Gründer der Lebensgemeinschaft auf dem Monte Verita Gustav Arthur (Gusto) Gräser (1879-1958).    ... Auf seine
Erfahrungen in der alternativen Kolonie Gräsers hat Hesse in Siddharta und im Glasperlenspiel zurückgegriffen. ...
Das bei Hesse durchgängige Motiv des älteren Freundes und Meisters, der zur Selbstfindung führt, ist in seinem Verhältnis zu Gusto Gräser präformiert.

Volker Wehdeking 2014

Den größten Einfluss auf Hermann Hesse hatte der Dichter Gusto Gräser, ein Einsiedler, der in einer Felsgrotte in Ascona lebte, zu dem sich Hesse bald gesellte. Diese Erfahrungen mit der Abgrenzung von Welt, Mensch und Sein, als ein Leben in der Wildnis, spiegelten sich bald darauf sowohl in seinen Gedichten als auch in seinem Spätwerk „Das Glasperlenspiel" wider. Gräser brachte Hesse den Buddhismus nahe, der sein Werk stark veränderte.

Lexikon Universal-Wissen.de, Abruf 27. 4. 2014

Im überregionalen Rückblick erschien Arthur Gusto Gräser als „Gandhi aus Siebenbürgen“, als Großvater der Grünen, als Urvater der Alternativbewegung. ... Hermann Hesse sammelte für ihn. 1912 protestierten gegen seine Abschiebung aus Sachsen Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Ferdinand Avenarius, Max Klinger, Friedrich Naumann, Johannes Schlaf, Hans Thoma u. a.

Ulrich Holbein 2016

Anders als Diefenbach sammelt Gräser keine Anhänger und fordert auch keine Unterwerfung, sondern will durch sein Beispiel wirken. Was damit gemeint ist, drückt der Frühromantiker Schleiermacher am besten aus:

„ [...] an einer heiligen Person ist alles bedeutend. So mögen sie denn das Wesen derselben darstellen in allen ihren Bewegungen [...] die heilige Innigkeit, mit der sie alles behandeln, zeige das auch bei Kleinigkeiten. Die majestätische Ruhe, mit der sie das Große und das Kleine gleichsetzen, beweise, dass sie alles auf das Unwandelbare beziehen, und in allem auf die gleiche Weise die Gottheit erblicken [...] der immer rege und offene Sinn, dem das Seltenste und das Gemeinste nicht entgeht, zeige, wie unermüdet sie das Universum suchen und seine Äußerungen belauschen. Wenn so ihr ganzes Leben und jede Bewegung ihrer inneren und äußeren Gestalt ein priesterliches Kunstwerk ist, so wird vielleicht durch diese stumme Sprache manchen der Sinn aufgehen für das, was in ihnen wohnt.“ ...

Gräser lässt sich auch als eine Art moderner Franz von Assisi beschreiben. Mit seiner einfachen Lebensweise, mit seiner Braut, der Armut, seinem Sonnengesang, dem Respekt vor allen Kreaturen hätte Franz von Assisi gut zu den Propheten der Lebensreform gepasst. .

In vielen seiner Texte beschäftigt sich Hermann Hesse entweder direkt mit Gusto Gräser oder mit Menschen, die wie dieser ihren individuellen Lebensweg suchen, so dass sich vielleicht sagen lässt, dass der Geist der Lebensreform in den Schriften Hermann Hesses für uns heute noch am lebendigsten ist.

Kai Schupke in: Kai Schupke und Daniel J. Schreiber (Hg.): BRÜCKE und die Lebensreform. Buchheim Stiftung, Feldafing 2016, S. 22f.

Ohne die eigene Überheblichkeit zu bemerken, vergleicht er (Hermann Hesse) ihn (Gusto Gräser) mit Franz von Assisi. Wenn es stimmt, was die Leute von Gräser erzählen, gibt es einige Gemeinsamkeiten: die Umkehr nach einer Krankheit oder Krise - Gräser hat sich angeblich mit zwanzig von der begonnenen Malerei abgewendet und seine Bilder zerstört -, der Gedanke, nicht länger Staat und Geld untertan zu sein, sondern innere Freiheit zu gewinnen durch den Verzicht auf weltliche Güter. Gelegentlich bei den Leuten arbeiten, um etwas zu essen zu haben, Spott und Feindschaft friedfertig zu begegnen, sind weitere Parallelen. Aber Franziskus folgte einem göttlichen Gesetz, Gräser folgt eher seinen eigenen Regeln.

Thomas Lang: Immer nach Hause. Roman. Berlin 2016, S.158f.

Una vida sencilla a mas no poder. A menudo comendaba su version del Tao, en la que no dejaba nunca de trabajar, con el escritor Hermann Hesse. Hesse, un tipo ma leido, mas inteligente y con mas talento que Gusto, no tema ningun reparo en reconocerlo como maestro suo. Hubiera querido imitarle, pero no encontraba la valentia suficiente para eliminar de su vida el deseo de agradar y de tener exito. Gusto jamas tomo en cuenta lo que los otros pensaran de el. Ninguno de los intelectuales o bohemios de Monte Verita tuvo ni por asomo su humildad ni su coraje.

Ein Leben, so einfach, wie es einfacher nicht sein könnte. Oft besprach er seine Wiedergabe des Buches vom Tao, an der er unablässig arbeitete, mit dem Schriftsteller Hermann Hesse. Hesse, ein Vielbelesener, intelligenter und talentierter als Gusto, scheute sich in keiner Weise, ihn als seinen Meister anzuerkennen. Er hätte es ihm gerne nachgetan, hatte aber nicht den nötigen Mut, den Wunsch nach Aufstieg und Erfolg aus seinem Leben zu verbannen. Gusto kümmerte sich nicht darum, was andere von ihm dachten. Keiner der Intellektuellen oder Bohemiens des Monte Verita hatte im Entferntesten seine Bescheidenheit noch seinen Mut.

Jose Morella: Como caminos en la niebla. Roman. Barcelona 2016

Zu einer Art „Lichtgestalt" erhoben, folgten ihm Intellektuelle, Künstler, Dichter und Aussteiger, um Antworten auf die Fragen zu bekommen, die durch ein ins Wanken geratenes neues Weltbild aufgeworfen wurden oder die aus persönlichen

Krisen herausführen sollten. Zu den Suchenden gehörte auch Hermann Hesse. Einige Figuren seiner Romane, zum Beispiel in Siddharta (1919/1922) und Demian (1919), erzählen von dieser Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.

Jutta Mattern in: Genese Dada. Zürich 2016, S. 218f.

An der Figur Gusto Gräsers und seiner Wirkung auf Zeitgenossen und Nachfolger ließe sich exemplarisch die große Bedeutung von charismatischen und Prophetenpersönlichkeiten, der „auserwählten, begnadeten Führer“ innerhalb der Lebensreform, besonders innerhalb ihres radikaleren Flügels studieren.

Hans-Jörg Sigwart 2006

Ein eigenartiges Bild taucht immer wieder am Ende von Hesses Werken auf: die Verschmelzung des Ich mit der Gestalt eines Freundes, der symbolisch für den Schatten, das Nicht-Ich, manchmal aber auch für das Selbst zu stehen scheint. ...

Gräser wurde eine Art Heiliger. Er hatte den Kriegsdienst verweigert, worauf man ihn mit Erschießung bedrohte. .

War Gräser "individuiert" im Sinne der reinen Lehre? Vielleicht war er ein Heiliger.

Jörg Rasche 2003

The Asconans were mystical, but not in a gothic sense. The dark relationships among men were not of interest; instead, they focused on a spiritual life-changing approach to work, life and play. They developed small collectives, but the famous figures who came to Ascona were not there to build one large community. Hermann Hesse, D. H. Lawrence, Otto Gross, Gusto Graser, Mary Wigman and Rudolf Laban were all in Ascona.

Karen K. Bradley: Rudolf Laban. 2008, S. 7f.

Ein neuer Menschenschlag: Der tanzende Vagabund.

Seine Lebensmaxime war gelebte Freiheit anstelle von Abgrenzung, Menschlichkeit anstelle von Religion, Herzlichkeit anstelle von Frömmelei. ... Man tat, was man tat, schlicht und einfach aus Freude und zur Feier des Lebens. ...

Die Idee von einem Leben auf Wanderschaft, einer Vagabondage, scheint sich erst mit Gräser herauskristallisiert zu haben (in Asien hatte es sie natürlich schon seit spätestens Buddhas Zeiten gegeben). Auch Hesse, der ohnedies einen Hang zum Vagabundieren hatte, war davon beeinflusst. .

Der Monte Veritä war Gräser zur Heimat geworden. Die Bauern boten ihm ein Stück Land an, in der Hoffnung, dass er Gleichgesinnte anlocken würde, doch er lehnte das Geschenk ab. Er wollte nichts besitzen.

Peter Watson : Das Zeitalter des Nichts. 2016, S. 62-65

Er hatte alles vorausgesagt, vorausgemalt, vorausgesungen in seiner prophetischen Kraft - die Ereignisse auf dem Monte Verita. Es war eine besondere Zeit gewesen, voll von Zauber, Klängen und Gelächter, und ich war dabei gewesen und daran gewachsen. Gusto hatte mich aufgerichtet, mein Bewusstsein geschärft, war mir aber nie ein Meister geworden, kein Führer, aber - ein Freund.

Oliver Prange : Das Sonnenfest. Roman, Basel 2016, S. 310