Gusto Gräsers Jesusbuch

     

Ende Februar 1951 schreibt Gusto Gräser aus Freimann an seine Tochter Heidi in der Schweiz:

Auszüge aus dem Buch von Albert Nachtigal:

Das Christentum ist nicht Lehre, sondern Leben. Was für eine befreiende Wahrheit das ist, ahnen die wenigsten Menschen. In Jesus war alles Leben; und solange wir nicht einsehen, daß er nicht belehren sondern beleben wollte, solange bleibt uns auch der Glanz, der von seinem Haupte strahlt, verdunkelt. Sobald wir aus Jesus einen Sitten-prediger machen und seine Worte hinstellen als neues Gesetz und als eine allgemein gültige Norm, nach der jeder Mensch zu leben habe, sobald haben wir aus dem Christentum ein Judentum gemacht, aus Jesus einen Pharisäer. (28f.)

Von Jesu Geiste empfängt die Menschheit durch Predigen, Lehren und Organisieren nie eine Vorstellung, sondern nur durch Persönlichkeiten, die etwas von Jesu Art an sich haben. Lehren und Organisieren zielt ab auf Ethik, auf sittliche Vorschriften. Nach Christi Auffassung aber ist alles das, was wir kurz Ethik nennen, also alle sittliche Betätigung des Menschen, nichts weiter als Oberflächenkultur, d. h. etwas, was der Mensch äußerlich annimmt. Es tritt ein unpersönliches Gesetz an ihn heran, dem er sich unterwirft, und zwar kommt es von außen, das ist das Wichtige dabei. Und gerade deshalb ist es tot. (34)

Frömmigkeit ist etwas Genialisches im Menschen und deshalb nicht Sache des guten Willens, sondern eben der Erleuchtung. … Unser Christentum ist eine große, öffentliche Besänftigungs- und Verwaltungsanstalt geworden, der Obrigkeit untertan. (37)

Von diesem Gesichtspunkt aus muß man den Kampf Jesu gegen die Pharisäer betrachten. Von ihm kann man lernen, sich auch von den höchsten Idealen nicht blenden zu lassen: denn sein Kampf mit den Pharisäern war ein Kampf gegen Idealismus als Lebensquelle, ein Kampf gegen die prinzipiellen Menschen, ein Kampf gegen alles, was den Menschen in Fesseln schlägt und bändigt, ohne ihm echtes Leben mitzuteilen. (44f.)

Das eine aber wollen wir uns jetzt schon klarmachen, daß jedes Leben immer etwas Werdendes, also etwas Unfertiges, Relatives ist.  (48)

Wir glauben, wir brauchten bloß die Theorie auf das Leben anzuwenden, dann hätten wir mit dieser Anwendung schon das Leben selbst. Als ob Leben in der Befolgung von Vorschriften und in der Anwendung von Idealen bestände und nicht viel mehr unter Schmerzen geboren würde! (64f.)

Er belehrte die Menschen nicht über das Leben, sondern ging umher und steckte sie sozusagen mit Leben an. Und was er so auf sie übertrug, das nannte er Himmelreich. (75)

Darum gerade bekämpfte Jesus die Pharisäer, weil ihre Seele keine Ahnung davon hatte, daß es Taten und Werke des Menschen gibt, die geboren werden wie Lebendiges, die wie eine Naturgewalt in Erscheinung treten wollen und müssen, mit einem Zwange, dem der Mensch sich einfach beugen muß, um nicht zu vergehen; weil sie nichts wußten … davon, daß ein solcher Mensch immer nur ein Ding auf einmal tun kann, nämlich das, was er gerade tun muß. (105f.)

Gott wird nur im Wachsen erkannt, nach und nach. (115)

Es geht durch viele Menschen heutzutage ein wahrer Heißhunger nach Leben. … Nicht Gedanken und Systeme sucht man mehr, sondern Taten, die Leben sind. (122)

Aus Dr. Albert Nachtigal: Wenn das Leben erwacht. Gedanken beim religiösen Verfall unserer Zeit. Ca. 1910

Verlag Otto Rippel, Hagen (Westfalen), o. J.

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