Klingsor, Meistersänger und Seher aus Siebenbürgen






Klingsors Zaubergarten, von Christian Jank ca 1883-1884

O Wald am Berggelände,
Du rauher, trauter Wald,
wo von der Felsen Wände mein Echo widerhallt!
Es schauert mir im Grunde - o Wald, mein Heimatland -
wo all die weite Runde umschlingt der Ruhe Band!
Zu Dir, zu Dir getragen fühl ich den Busen hin -
in Deinen Grund zu schlagen, was ich im Grunde bin.
Zu Deinem Urgeschlechte schlag ich mit rauhem Bart -
und nit zu dem der Knechte, fein, glatt und ohne Art!
Dem Redlichen, dem Rauhen, das in der Wetter Wucht
erwuchs, will ich mich trauen in all der Tage Flucht.
Dem gleissnerischen Glatten, das durch Paläste kriecht
wie Viperwurm und Ratten - schlägst Du ihm nach?!
Ich nicht!
*
Oh du wunderheller Raum - heilge Berge, heilger Baum!
Bergland, deine Roheit, oh wie wohl die tut,
wunderliche Froheit schauert mir durchs Blut,
Gottheitodem haucht mich an, raunt um rauhe Föhren -
und ich fühl in mir den Mann
höher sich empören.
*

                                                                                                                                                         Gusto

Klingsor oder Klingsohr ist die Faust-Figur des Mittelalters, Klingsor der siebenbürgische Faust. Allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen: Während Goethes Faust (in der Figur des Mephisto) die wissenschaftlich und technisch experimentierende Moderne verkörpert, steht Klingsor für die Wiederkehr der wilden Ursprünglichkeit. In die hochkultivierte Künstlichkeit des höfischen Rittertums mit seiner asketischen Ideologie bringt er den Sturmwind der Gebirge und Wälder seiner Heimat. „Her machte vel wunders, wan her was wise und vornunfftig in allen naturlichin kunsten, eyn zcouberer, eyn meister der swarczen kunst und eyn großir sternluger und ouch eyn meister yn den sobin frien kunsten.  - Er vollbrachte viele Wunder, denn er war gelehrt und kundig in allen natürlichen Künsten, ein Zauberer, ein Meister der schwarzen Kunst und ein großer Sternkenner und auch ein Meister in den sieben freien Künsten.“ (WEIGELT, Sylvia (Hg.), Thüringische Landeschronik und Eisenacher Chronik, Berlin 2007, S.105).

Es ist das Muster, das wir auch von Faust kennen: Was nicht verstanden oder nicht akzeptiert werden kann, wird als Zauberei und Schwarzkunst verteufelt. Die feinziselierte höfische Welt konnte diesen Wildling aus dem Bärenland nur ablehnen, musste aber seine überlegene geistige Kraft gleichwohl anerkennen. Immerhin rettet Klingsor den Dichterkollegen Heinrich von Ofterdingen aus der Hand des Henkers. Er siegt durch seine Meisterschaft in allen natürlichen Künsten und in den sieben freien Künsten, d. h., durch seine intuitive Verbundenheit mit der Natur und durch freisinniges Philosophieren.

Der siebenbürgische Klingsor war mit Sicherheit eine historische Gestalt. Darauf weist, dass man sogar sein Einkommen kennt: jährlich 3000 Gulden vom ungarischen König. Wenn man nun bedenkt, dass die deutschen Siedler erst rund 50 Jahre vor dem Sängerkrieg auf der Wartburg (um 1200) ins „Ungarland“ gekommen waren, dann erstaunt erstens der sagenhafte Ruf, den dieser Dichter bis nach Deutschland hin hatte, dann verwundert zweitens, warum sich seine Gedichte nicht erhalten haben, und dann fragt sich drittens, wie das alles zu erklären ist.

Vieles weist in die Richtung, dass Klingsor ein Selbstdenker, ein Freigeist, ein Ketzer war, der eben deshalb nach Ungarn ausgewandert ist, um den Zwängen der streng regulierten christlich-ritterlichen Kultur zu entkommen. Es sind immer die Abenteurer und Abweichler, die es zur Auswanderung drängt. Also werden unter den Sachsen, die ins Karpatenland zogen, auch solche gewesen sein, denen es weniger um neues Land als um neue Freiheiten ging.

Sein freies, offensichtlich heidnisch gefärbtes Denken musste den Alteingesessenen im Reich ein Dorn im Auge sein, deshalb wurde er als Zauberer und Schwarzmagier verketzert und sein dichterisches Erbe vernichtet.

Klngsor war ein Rebell gegen die christlich-asketische, insofern naturfeindliche Kultur des Hochmittelalters, er war ihr Antipode. Siebenhundert Jahre später kam ein anderer Dichter aus dem Bärenland nach Thüringen gezogen, einer, der sich gern als „Bär“ bezeichnete und humorig-sarkastisch also von sich sprach:

Der will doch lieber noch barbarisch wahr, barsch wie ein Bär durch unsern Weltwald trollen, mitbummelbäumen mit Urlebewelt,
 tiefheimsichträumen, in samtner Sommernacht Sternliederlicht Cultur versäumen!

Er wollte die bestehende Cultur versäumen und eine neue sich erträumen – und hat es in seiner Dichtung wie in seinem Leben getan.



„Hier kämpften mit Liedern Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschtlbach, Reiman der Alte, der tugendhafte Schuber, Heinrich von Ofterdingen und Klingesor von Ungerland.“

 

Die Klingsorsage hat offensichtlich zwei verschiedene Quellen. Der eine Klingsor kommt aus Siebenbürgen, ist Dichter, Zauberer und Seher und pflanzt einen Wald. Er tritt auf der Wartburg als Meistersänger auf und prophezeit dem Landgrafen von Thüringen eine ungarische Prinzessin Elisabeth als künftige Schwiegertochter. Der andere kommt aus Kalabrien, ist ein gefräßiger Frauenverführer, der entmannt worden ist und sich an Männern und Frauen rächen will. „Zwölftausend meiner Frauen“, schreibt im Titurel Str. 2428 der König von Marroch, „hat er sich unterwunden; an Mannes Lid verhauen wird er zu einem Diebe, und er stiehlt die Frauen von Ungunste; alle Geehrten will er von hoher Würde kehren mit seiner Zaubereien Gaukelwunder, weil er selbst der hohen Ehre ist ein Waise.“ Der Kalabrier pflanzt auch einen Wald, ein Motiv, das auch dem Siebenbürger zugeschrieben wird: Klingsors Zaubergarten.

Der eine also ein seherischer Dichter, an Orpheus und Krishna erinnernd, der andere ein rachesüchtiger Wüstling.

Was verbindet die beiden, wie konnten sie zu einer Figur verschmelzen?

Gemeinsam ist ihnen die Zauberkraft und der Wald. Der Wald steckt auch im Namen von Klingsor, auch Klingsohr geschrieben. Als Klinge wird im Schwäbischen eine Waldschlucht, eine Klamm, ein Gießbach bezeichnet. Ein Ortsteil meines Dorfes heißt Hohenklingen: die Waldschlucht auf der Höhe, in deren Stille das Rauschen des Baches zu hören ist. „Klingsor“ könnte also bedeuten: das Ohr des Waldes. Gemeint: der Dichter, der die Stimme aus der Tiefe, die Sprache des Unbewussten hört. Von dorther seine Kraft, von dorther aber auch seine Gefährdung: er kann der rohen Triebwelt, dem inneren Chaos verfallen. Dann wird er zum Verführer, zum Schwarzmagier.

Das Bild von Klingsor changiert zwischen diesen Polen: der weise Magier und Seher hier, der teuflische Schwarzmagier dort. Klingsor hat die Ambivalenz, die Doppeldeutigkeit eines echten Archetyps, des Dichterarchetyps. Er ist dem Merlin verwandt und dem Rübezahl: Naturgeist, waldverwandt, mal wohltätig, mal boshaft, immer irgendwie bezaubend, faszinierend, geheimnisvoll.

Als Rübezahl hat Gräser sich gerne gesehen und bezeichnet, auch mit Absicht sich rübezahlmäßig gewandet: mit einem Troddelschwänzchen an seinem Wams. Waldverwandt ist er zweifellos, dieses Wort hat er vielleicht sogar erfunden. Er hat sich auch „Urohr“ genannt – eine anderes Wort für „Klings-Ohr“. Und er war ein Dichter mit charismatischer Ausstrahlung.

Merkwürdigerweise kommt noch hinzu, dass Gräser wie Klingsor aus Siebenbürgen, aus „Ungerlant“ stammt und wie Klingsor mit Thüringen eng verbunden war. Dort hat er jahrelang gelebt, dort hat die von ihm inspirierte Neue Schar eine „Tanzepidemie“ entfacht, dort wurde 1913 seine zweite Tochter Heidi geboren. Seine Lebensgefährtin, die Mutter seiner Kinder, hieß dazuhin Elisabeth und wurde, weil sie den Armen beistand, von diesen als „heilige Elisabeth von Thüringen“ bezeichnet. Gusto und Elisabeth haben dazuhin 1911 die Wartburg besucht. Wahrscheinlich weniger Luthers wegen, eher Klingsors wegen. Denn Gusto kannte Richard Wagners Oper ‚Tannhäuser‘, er hat 1897 zusammen mit seiner Mutter eine Aufführung in Wien besucht.

Am bekanntesten dürfte jedoch die dramatische Umsetzung durch Richard Wagner sein (Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg 1843), die gegen die mittelalterliche Überlieferung zum ersten Mal den Tannhäuser-Stoff mit dem Wartburgkrieg verschmilzt, wobei sich das Sängerkriegsthema dem Erlösungsthema ganz unterordnet. Der mythische Zauberer Klingsor als Widerpart christlicher Gesinnung ist die Figur, die diese Anlagerung ermöglicht hat, weil sie dieselbe dämonisch-sinnliche Lebens- und Liebesauffassung verkörpern konnte, die den spätmittelalterlichen Tannhäuser in den Bann der Frau Venus zwang. (Wikipedia)

Wundersame Entsprechungen, die es wohl erlauben, Gräser als den modernen Klingsor aus Siebenbürgen zu bezeichnen. Zumal auch ihm – gerüchtweise! - erotische Verführungskraft zugeschrieben wird. Ein beliebtes Klischee und Vorurteil lautet ja, dass auf dem Monte Verità Männlein und Weiblein wahllos miteinander verkehrt hätten. Unverkennbar eine sexuelle Wunschphantasie, die auf den Berg projiziert wird. Etwas von dieser Wunsch- und Angstphantasie ist auch in der Gestalt des Klingsor enthalten: es ist die Angst vor dem ebenso chaotischen wie schöpferischen Unbewussten. Damit auch vor dem Dichter, der in diese Tiefen getaucht ist und aus ihrer Tiefe spricht.

Das Hauptmotiv, das ihn vor andern Sängern auszeichnet, ist aber zweifellos der Wald und die Zauberkraft, verbildlicht in Klingsors Zaubergarten. Da Transsilvanien schon vom Namen her an Wald erinnert, Kalabrien dagegen nicht gerade als Waldland bekannt ist, dürfen wir annehmen, dass die Assoziation mit dem Wald dem Siebenbürger zu danken ist. Man wusste, er kommt aus dem „Bärenland“ der Karpaten, er wird von daher seine Zauberkraft haben – Kraft aus dem Wald.

Kraft aus den Wald schöpfte aber auch Gusto Gräser, als er wegen einer Fünf in Mathematik am Gymnasium von Hermannstadt scheiterte:

Endlich schwänzt ich in die Wiesen, nach dem Bächlein, in den Wald:
Da gab's keine Analysen, da gewann mein Geist Gestalt. Da entschied ich:
Hol's der Geier! Und - so - ward - ich - frei - und – freier.

 

Der Wald wurde sein Retter. An ihm konnte er sich aufrichten. Zum Lehrling eines Kunstschmieds degradiert, schnitzt er nicht von ungefähr eine Almhütte und gewinnt damit eine Goldmedaille der Weltausstellung von 1896. Von nun an ziehen sich Baum und Wald als Dauermotive durch sein Dichten und Zeichnen. Und das mit zunehmender symbolischer Aufladung. Am Ende werden ihm Baum und Wald zu Weltsymbolen. Gräser ist der Dichter des Waldes, und zwar nicht in einem romantisch-sentimentalischen Sinn sondern in einem spirituellen und mythischen.

Klingsor siegt im Sängerstreit nicht durch seine dichterische sondern durch seine geistige und seherische Kraft. Auch Gusto Gräser hatte nach den üblichen literarischen Maßstäben neben den bürgerlichen Dichtern keine Chance, überragt sie aber alle als Seher und Prophet.

Im Jahre 1206 soll Klingsor aus Siebenbürgen auf die Wartburg von Eisenach gekommen sein. Rund 700 Jahre später zog Gusto Gräser mit einer singenden und tanzenden Schar durch Thüringen, er bestieg auch die Wartburg. Im Januar 1930, als vornehmlich in Thüringen der Aufstieg der Nationalsozialisten begann, wurde er aus Eisenach ausgewiesen. Verbannt, verfemt. Den Wettkampf mit dem „Trommler“ - das „Große Ohr“ gegen das „große Maul“ – hatte er zu dieser Zeit schon verloren. Aus Weimar sollte „Buchenwald“ werden – ein Schandmal. Heute steht im thüringischen Nationalpark Hainich, dem größten Buchenwald Deutschlands, ein schlichtes Denkmal aus Holz, ein Ehrenmal für Gusto Gräser, der „das heilige Waldlied gedichtet“ hat (Hermann Hesse). Ein Denkmal für den neuen Klingsor aus Siebenbürgen.


Gedenktafel im Nationalpark Hainich, 2019


Ein paar  Gedanken zu Klingsor
von Hermann Müller
 


Um es kurz zu sagen: ich halte diese Doppelsage für ein Verleumdungsprodukt christlicher Kleriker. Der siebenbürgisch-sächsische Klingsor war zweifellos ein Wissenschaftler, Astrolog, Dichter und Diplomat am Hofe des Königs Geza. Ein Freigeist, der sich sogar mit der Weisheit der Muselmanen beschäftigte. Also des Teufels. Vor solchen Ketzern musste das Volk geschützt werden. Deshalb die Fake News: man setzte ihn mit einem kalabrischen Wüstling gleich (der vielleicht namensähnlich Klinius Orvi hiess) und machte ihn damit unmöglich. Pure Verleumdung, klerikale Strategie.  
 
Das ist so offensichtlich, dass es doch längst bekannt sein müsste. Gibt es da wirklich keine kritische Untersuchung? Wenn nicht, dann  würde das heissen, dass die Siebenbürger Sachsen bis zum heutigen Tage ihres freiesten Geistes durch Verleumdung beraubt worden sind.

Nein, es brauchte gar keine siebenbürgisch-sächsischen Kleriker, die Arbeit hat ihnen ein anderer abgenommen: Wolfram von Eschenbach persönlich. Der erfand oder verbreitete die Geschichte von einem kalabrischen Wüstling und Frauenschänder, den er Clinschor nannte oder der so oder ähnlich hiess. Wahrscheinlich aber hat Wolfram den Namen so formiert, dass er an Klingsor erinnern musste. Denn er hatte ein Motiv: er war von Klingsor, dem echten aus Siebenbürgen, im geistigen Wettkampf besiegt und öffentlich verspottet worden. Der hatte die Worte „Wolfram ist ein Laie“, will sagen: ein ahnungsloser Provinzler, ein beschränkter Kopf, in eine Mauer einritzen lassen. Sachlich gesehen mit gutem Recht: denn als weitgereister Gelehrter, Diplomat und Freigeist, der in Paris, Istabul oder Bagdad mit den Gebildetsten seiner Zeit verkehrte, war er als Denker dem kleinen Ministerialen aus Eschenbach haushoch überlegen. Klar, dass Wolfram sich rächen musste.
 
Ich will ihm nichts unterstellen. Aber Tatsache ist, dass die Historiker und Philologen naiv genug waren, seinen bösen Clinschor mit dem edlen Klingsor gleichzusetzen. Beide waren ja Zauberer und bedienten sich angeblich des  Teufels. Aber das taten alle, die sich ausserhalb kirchlicher Dogmen und gesellschaftlicher Tabus bewegten, ob Genies oder Scharlatane. Das kaum zu glaubende ist, dass die gelehrte Welt dem Trick des Wolfram auf den Leim gegangen und bis zum heutigen Tag an ihm kleben geblieben ist.
 
Wie könnte denn der italienische Frauenquäler und der berühmte Meistersänger aus Siebenbürgen ein und die selbe Person sein? Ob nun Absicht von Wolfram oder nicht, ob sturzdumme Verwechslung oder schlaue Manipulation – jedenfalls kam die Verunglimpfung auch den Siebenbürger Glaubenshütern gerade recht, den bis zur Ketzerei freisinnigen Klingsor zum Teufelsdiener zu machen und damit auszuschalten. (Der sprach ja sogar mit dem Erzfeind, mit den Sarazenen!)
 
Verwunderlich ist nur, dass auch im 20. Jahrhundert sich niemand dagegen aufgebockt hat. Oder hatte Zillich etwa derartiges im Sinn, als er seine Zeitschrift KLINGSOR nannte? Es wäre interessant zu wissen, wie er seine Namenswahl begründet hat. KLINGSOR wurde 1924 gegründet, im Frühjahr 1920 war Zillich mit Gräser in Berlin zusammen gewesen. Der hatte ihn dazu gebracht, mit ihm zusammen in vegetarischen Restaurants zu essen. Offenbar war  Zillich von seinem Kronstädter Landsmann stark beeindruckt. Ich halte deshalb durchaus für möglich, dass Gusto ihn auf diese Namenswahl gebracht hat. Für Gusto musste Kllingsor ja ein Vorbild oder jedenfalls eine Bestätigung und Ermutigung sein. Durch Klingsor war er nicht mehr allein mit seinem irregulären Denken und Leben. Sieh her, konnte er zu Heinrich sagen, solche wie ich hat es in Siebenbürgen schon vor bald tausend Jahren gegeben. Wir sollten diese Tradition zu Ehren bringen, damit wäre auch mir geholfen, damit würde eine Brücke gebaut für die Verständigung mit meinen Landsleuten. Aber dazu muss dem Namen Klingsor erst mal die Ehre zurückgegeben werden, die ihm gebührt.
 
Zillich hat das getan. Mit dem Erfolg, dass heute zwar ständig von seiner Zeitschrift die Rede ist aber kaum je von seinem Namenspatron, dem hochberühmten Minnesänger (siehe das Artikelregister der SBZ).
 
Der war ein eigenwilliger Denker und als solcher seines Wertes wohl bewusst. Denn so spricht er von sich selbst:
Jâ, meister, lœse uns baz den haft, daz gît der werlte maniger sælden hôhen kraft; swer ez merken wil, der lâzet mange sünde. mîn sin was al der werlte ze tief ê daz mir von Ofterdingen Heinrîch rief. Nû vindest dû die hœhe und ouch die gründe. Driu tûsent marc in Ungerland, die hân ich von den rîchen; welle ich die habe vor dir sparn, wilt dû mit mir gegen Sibenbürgen varn, sô müeze got an sælden mir geswîchen.
Den Hauptpunkt glaube ich richtig zu erfassen: sein Denken war der Allgemeinheit viel zu tief, sagt er, man verstand ihn nicht und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Erst als dem Ofterdingen der galgen drohte, hatte der den Mut, den aussergewöhnlichen Kollegen um Hilfe zu bitten, der für seine überragenden Fähigkeiten bis nach Thüringen bekannt war. Klingsor rühmt sich seiner hohen Kraft und seines Reichtums (wahrscheinlich in Ländereien), den er seinem Gegenüber zeigen werde, wenn  er mit ihm nach Siebenbürgen fahre.
 
Klingsor muss ein Universalgenie gewesen sein. Der hochbegabte Siebenbürger Sachse, der anscheinend in Paris studiert hatte, wurde vom ungarischen König an seinen Hof gezogen und als Diplomat eingesetzt. Wenn Klingsor bis nach Konstantinopel, nach Damaskus und Bagdad kam, dann sicher nicht als Fussgänger sondern als Botschafter des Königs, als sein Aussenminister. Klingsor muss mehrere Sprachen beherrscht haben, konnte wohl arabisch. Er war Wissenschaftler, Astrolog und Spiritist und wird manches von den Sarazenen übernommen haben. Dem König war er ein hohes Salär wert, mit dem Klingsor in seiner Heimat Siebenbürgen Ländereien aufkaufen konnte. Er war dazuhin als Dichter, als Minnesänger berühmt aber anscheinend nicht Profi genug, um es mit Eschenbach aufnehmen zu können. Dafür überwand er ihn leicht mit seinem Denken und Wissen.
 
Er war auch freier, sozial unabhängiger als seine Kollegen auf der Wartburg, die sich von einem eitlen Landesherren als Hofdichter missbrauchen liessen. Was für ein erniedrigendes Spektakel war doch dieser von uns so bewunderte Sängerkrieg: wer den Fürsten am wenigsten lobte, sollte gehenkt werden. Klar, dass alle Beteiligten ihren gnädigen "Ceaucescu" bis über den siebten Himmel rühmten. Wer möchte schon gern hängen? Ofterdingen aber, als österreichischer Untertan, befand sich in einem Loyalitätskonflikt. Er entschied sich dafür, seinen Landesherrn zu loben und dichtete sich damit um Kopf und Kragen. In dieser Notlage sein Hilferuf an Klingsor im Ungarland. Der hat ihn dann auch gerettet durch seinen Sieg über Eschenbach. Zum Dank hat der Gedemütigte den Ruf Klingsors für alle Zeiten ruiniert.
 
Warum haben die Siebenbürger Sachsen ihren genialen Landsmann nicht längst rehabilitiert? Warum schreibt der grosse Kkklein über Kelpius aber nicht über Klingsor? Warum ist kein sächsischer Umberto Eco auferstanden, um diese mittelalterliche Skandalgeschichte in einen furiosen Edelkrimi zu verwandeln, der ein Welterfolg werden könnte? Wahrscheinlich doch, weil der verleumdete Klingsor der kirchlichen Obrigkeit so sehr zupass kam, dass ein Aufmucken dagegen wenig Erfolgsaussicht hatte, jedenfalls in der alten Heimat.
 
Jetzt aber, unter den anderen, freieren Umständen, wäre doch wohl die Zeit gekommen, mit falschen Mythen aufzuräumen und ein Genie zu rehabilitieren, das schon um 1200 ein anderes Siebenbürgen als möglich erscheinen liess: eines, das statt mit Kreuz und Schwert mit geistigen Waffen dem Islam gegenüber trat, das Brücken baute statt Kirchenburgen.
 
Dergleichen mag zu damaligen Zeiten tatsächlich unrealistisch gewesen sein. Heute liegen die Dinge anders. Heute käme es darauf an, nicht einem "Orban" zu folgen sondern einem  Klingsor redivivus. Vielleicht ist er  genau der Held, den wir heute brauchen. Auch als ein Befreier aus der Erstarrung in christlich-abendländischen Traditionen. Klingsor, das scheint mir offensichtlich, hatte eine geistige Weite, die die provinzielle Enge seiner binnendeutschen Kollegen glorios überstieg.
 
Bekanntlich geriet der Sängerkrieg zusammen mit der Wartburg im 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt nationaler Selbtbespiegelung. Das musste zu entsprechenden Übermalungen führen. Dass nun meine Sicht die richtige ist, will ich nicht behaupten. Bin ja blutiger Laie. Sie könnte aber anregen zu einer kritischen Überprüfung.