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Der „Leut“
Eine Begegnung mit Gusto Gräser 1908 in München


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Fast ebenso bekannt wie Münchens Kunststätten, seine Pinakotheken und sein Glaspalast und wie sein Bier und seine Brauereien war die kleine Künstlerkneipe 'Simplizissimus'. ...

Eines Abends saß ich mit Francois in einer Ecke des Lokales. An unserem Tisch saß noch ein uns fremder Herr, seiner Sprache und seinem Aussehen nach zu schließen ein Kaufmann oder Fabrikant, der - vielleicht auf einer Geschäftsreise - das Münchner Nachtleben kennenlernen wollte. Vor der uns gegenüberliegenden Wand war ein Podium; darauf stand ein Klavier. Wer sich von der Muse geküßt fühlte, konnte dort vor die Öffentlichkeit treten und etwas zum besten geben: ein eigenes Gedicht vortragen oder sonst etwas deklamieren, singen, Klavier spielen, oder auch einen Solotanz vorführen. Manche überspannte, von ihren Fähigkeiten eingenommene junge Menschen traten da auf. Man sah und hörte manch gute Leistung neben Kitsch und Plattheiten in buntem Wechsel.

Wir hatten gerade einen Klavierspieler, dessen Künstlermähne tief in sein Gesicht fiel, so daß er seine schwarzen Locken immer wieder mit energischem Aufwerfen des Kopfes nach rückwärts schleuderte, zugehört, wie er das Instrument in rasendem Furioso bearbeitete, da trat ein neuer Gast ins Lokal, der aussah, als sei er einem Bild aus einer illustrierten Bibel entstiegen. Trotz des strengen Winters, der draußen herrschte, kam er barhäuptig mit langem, blondem Haar und Vollbart, mit Sandalen an den nackten Beinen, einem togaartigen Überwurf aus grobem Stoff, den er genial um die Schultern geworfen hatte, herein und lenkte sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er war ein schöner, stattlicher, jüngerer Mann. Ich erkannte ihn gleich. Es war ein Landsmann, der Mediascher Gusto Gräser [Gött hielt Gräser wahrscheinlich seines Nachnamens wegen für einen Mediascher; Anm. d. Red.], Maler und Naturheilapostel. Ich hatte ihn im Sommer vorher in Kronstadt in seiner testamentarischen Aufmachung gesehen. Die Dienstmädchen nannten ihn den neuen Christus. Im Schützenhaus unter der Zinne hatte er eine Bilderausstellung veranstaltet. Die hatte ich mir auch angesehen. Es hing ein einziges Bild in dem großen Saal. Was dieses Gemälde vorstellen sollte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich, daß Menschen und viele Tiere darauf zu sehen waren, die da in einer heroischen Landschaft herumwimmelten. Das Bild war - ob mit Absicht oder wegen mangelndem Können - primitiv gemalt und hatte echt grelle Farben. Gusto Gräser stand dabei und 'erklärte' es.

Nun sah ich also meinen Landsmann wieder in München. Im 'Simplizissimus' wurde er von mehreren Gästen, die ihn offenbar schon kannten, mit Hallo empfangen. Er stieg direkt auf das Vortragspodium, sah sich im Raum um und sagte, er wolle eine kurze Ansprache halten. Er wolle über den 'Leut' sprechen.

Was ist 'der Leut'? Der 'Leut' ist der elende Durchschnittsbürger, die Einzahl der Leute, der Mensch, der sich davor fürchtet, anders zu sein als Kreti und Pleti. Und dann erging er sich in abfälligen Äußerungen über die Masse der Leute, der der eigentliche Einzelmensch gegenüber stehe, wobei er keinen Zweifel darüber ließ, daß er unter Persönlichkeiten nur solche verstanden wissen wollte, die, wie er, schon durch ihr Äußeres ihre Sonderstellung in der Welt betonen zu müssen glauben. Manche gute und zutreffende Bemerkungen, auch humoristische, die mit Beifall aufgenommen wurden, wechselten mit einem Wust krausen und überspannten Zeuges, das an seinem Geisteszustand zweifeln ließ. Zum Schluß seiner Rede erklärte Gusto Gräser, er nenne sich nicht mehr Gräser, sondern Gras, denn er sei eine einmalige Persönlichkeit und könne daher nicht mehr Gräser, sondern nur Gras heißen.

Stolz und mit bedeutsamen Mienen stieg er vom Podium herunter und kam direkt auf unseren Tisch zu. Ich fürchtete schon, er habe mich als Landsmann erkannt. Das war aber zum Glück nicht der Fall, und ich gab mich nicht zu erkennen. Seine Aufmerksamkeit galt weder mir noch Francois, in denen er offenbar gleich die wenig bemittelten Studenten erkannt hatte, sondern unserem Tischgenossen, dem offenbar sehr wohlhabenden Kaufmann oder Fabrikanten aus Sachsen.

Gräser alias Gras fragte ihn, ob er sich neben ihn setzen dürfe. Als der das bejahte, nahm er Platz und fragte, ob er sich ein Schnitzel und ein Glas Bier bestellen dürfe. Etwas verwundert bejahte der Sachse auch dieses. Gräser erzählte, daß er sich demnächst an den Luganer See begeben werde. [Ein Irrtum. Gemeint war sicher der Langensee, der Lago Maggiore, an dessen Asconeser Ufer Gräser mit seinen Freunden sich angesiedelt hatte; Anm. von H.M.] Er, seine Freunde und Freundinnen, mit denen sie in 'freier Ehe' als 'naturverbundene Menschen' an den herrlichen Gestaden des Sees leben, seien schon im vergangenen Herbst dort gewesen, seien jetzt im Winter nach München und Wien gekommen; die Frauen, die sie für ihre Ideen begeistert hätten, seien Wienerinnen; nun wollten sie wieder in ihre Wahlheimat zurückkehren. Dort werde er dann wieder vegetarisch leben.

Einstweilen bedankte er sich bei seinem Tischgenossen für Schnitzel und Bier, die der in gutmütiger Weise bezahlte, und verließ stolz erhobenen Hauptes das Lokal der 'Leute', um wieder als 'Leut' [hier müßte es sinngemäß heißen: als 'Kerl', als 'Eigener' und 'Eigentlicher'; Anm. von H.M.] durch die Welt zu wandern."


Fritz Gött in: Neue Kronstädter Zeitung, Jg.5, Folge 3. Seite 4; 1.Juli 1989
[Hervorhebungen durch Fettschrift von H.M.: Hermann Müller]