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Auszug aus den Hamburger Nachrichten von Dienstag, den 4. Juli 1911 Gusto
Gräser
Von Johannes Schlaf, Weimar
Ein
neuer Dichter! Ein sehr eigenartiger. Den man aber
nicht als eine
„Kuriosität“ ansehen darf, weil man ihn auf den
ersten Blick für
einen „Naturmenschen“ halten könnte, und weil ihm
nichts so fern
liegt, wie „ästhetische Kultur“, Theoretisiererei
und
Artistentum! –
Vor nunmehr zwei Jahren empfing ich hier in meinem Weimar an einem schönen Frühlingsnachmittag, an dem unten im Hausgarten die Rosen blühten und die Amseln sangen, einen seltsamen Besuch. Ein schlankkräftiger, mittelgrosser, schöngewachsener junger Mann trat bei mir ein. Er nannte sich Gusto Gräser und stellte sich mit wohllautender, tief und dunkeltönig frischer Stimme ausdrücklich als jemand vor, der Walt Whitman liebe. Sofort Grund genug, dass ich ihn willkommen hiess. Obgleich mich sein Äusseres anfangs reichlich so befremdete, wie anzog. Ich lud ihn ein, Platz zu nehmen; und dann sassen wir einander gegenüber, wobei sich seine so ungewöhnliche Erscheinung in dem Klubsessel sehr eigenartig ausnahm. Er wiederholte, dass er Walt Whitman liebe, dass er mein Interesse für den Dichter der „Grashalme“ kenne, und dass er mich aus diesem Grunde aufgesucht habe. Weiter teilte er mir mit, dass er ein geborener Siebenbürger Sachse sei. Später erfuhr ich gelegentlich, dass er aus guter Familie stamme, dass einer seiner Brüder Offizier, der andere Maler sei. Gusto Gräser selbst war zuerst Kunstschlosser gewesen, alsdann Bildhauer und Maler, hatte indessen in all diesen Berufen nicht gut getan, bis er schliesslich seinen Beruf zum Dichter und noch besser: seinen Beruf, Mensch und nichts als Mensch zu sein, erkannt hatte. Er pries die Not, den Mut und die Einfachheit ländlichen Lebens als Urheber jedes wahren Glückes, und mehr als seine Worte bezeugten sein gesundes, frisches, kräftiges Aussehen, seine elastischen und doch ruhigen Bewegungen, seine freie und ungezwungene Äusserungsweise, dass er sein wahres Element gefunden hatte. – In verstandesgemässer Rede drückte er sich nicht besonders glücklich aus; förmlich gebannt, gebannt von der unmittelbaren Offenbarung einer durchaus eigenartigen Wesenseinheit, lauschte ich ihm aber, sobald er in seine eigentliche Äusserungsweise, die emotionale, überging und gar in Versen zu sprechen begann. Es will etwas sagen, nicht im mindesten peinlich oder wohl gar pathologisch berührt zu werden, wenn jemand in der Unterhaltung sich auf eine derartige Weise mitteilt, und gar davon hingerissen zu werden. Kurz: ich merkte sofort, dass mein anfängliches Misstrauen, es mit so einer Art von „Naturmenschen“ vom Schlage der Gustav Nagel zu tun haben, ungerechtfertigt war. Seither sind mehr als zwei Jahre vergangen. Gusto Gräser hat ein ihm vollständig gleichgesinntes Weib gefunden, das ihn zum glücklichen Vater gemacht hat und das, wie ich beurteilen darf, da Elisabeth Gräser – eine geborene Rheinländerin und gleichfalls guter Familie entstammend – mich inzwischen gleichfalls besucht hat, genau den gleichen Eindruck einer wesensechten Ausnahmenatur bietet.
Ja, man kann diesem Gusto Gräser gegenüber staunend empfinden, wie viel Wahrheit in dem „vandalischen“ Verdikt enthalten ist, das der alte Tolstoi über alle Kunst und Dichtung ausgesprochen hat! Wir empfinden und begreifen wirklich und das bedeutet ein ganz eigenes Erlebnis, wie ungleich viel mehr es wert ist, ein ganzer Mensch, der wirklich den äussersten Mut zu sich selbst hat, als ein noch so grosser Dichter, Künstler, Denker zu sein! Denn ist nicht aller Entwicklung und Kultur Endziel der vollkommene und der Natur wieder geeinte Mensch? Liessen wir uns aber so recht von diesem Erlebnis durchdringen, so würden wir sicherlich immerhin auch noch zu einer organischen, lebendigen, notwendigen, grossen, modernen Kunst und Dichtung gelangen, die aus unserem wahrsten und lebendigsten Wesen heraufwüchse und nicht aus ästhetisch-artistischen Observanzen. Von Gusto Gräser als Dichter kenne ich hauptsächlich eine Form: die des kurzen, spontanen Spruchs: Er weiss hier von keiner Kunstgemässheit. Diese prächtigen Leitsprüche quellen als eine unmittelbare Äusserung aus dem innersten Kern seines Wesens hervor. Er gehört keiner „Schule“ an, bekennt sich zu keinem Programm, weiss nichts von einem Streit der Theorien, und erst recht ganz und gar fern ist ihm aller raffinierte artistische Snobismus und alles künstlerische Dandy- und Feinschmeckertum von heute; ihm, dem beispellosesten aller heutigen Österreicher! – Er hat auch keinen Verleger. Er lässt seine Sprüche auf schönem, starken Buntpapier in seiner schwungvoll kräftigen Handschrift lithographieren, vereinigt sie zu Bündeln und „Briefen“ und verteilt und verkauft sie so auf seinen Streifereien durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, auf denen ihn Weib und Kind begleiten: ein freier Mensch und Wanderer, der überall und nirgends Wohnsitz und Heimat hat und die beste und wahrste, unverlierbarste und dem Menschen eigenste in sich selbst und seinem frohen, gesunden, naturgeeigneten Leben und Wesen, im wiedergefundenen Paradies naturwüchsiger, in sich fester und sicherer Eigenständigkeit. Weit abseits und glücklich losgebunden von allem, was wir mit seinen Überfeinerungen und Raffinements heute künstlerische oder sonstige „Kultur“ nennen.
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