Gräser war mir
seit langem bekannt. Oft sah ich ihn in der Bayerischen
Staatsbibliothek in München. Aber auch in anderen Bibliotheken
Münchens wurde er mir zum vertrauten Anblick. Seine ganze äußere
Erscheinung, besonders sein langes Haar und die an das griechische
Vorbild erinnernde Kleidertracht machen ihn auch allen jenen bekannt,
die weder seinen Namen noch seine Geschichte kennen. Es wird schwer
sein, ihn ohne seine Mappe mit Manuskripten anzutreffen. Persönlich
kannte ich ihn nur aus einigen Gesprächen, in denen er mir den
Sinn und Aufbau seines Hauptwerkes erläuterte. Seine gerade,
ernste und männliche Erscheinung beeindruckte mich stark.
Seine eigentliche
Bedeutung wurde mir erst später bekannt. Das
Siedlungsunternehmen auf dem Monte Verità, das zu Beginn
dieses Jahrhunderts gegründet wurde, wurde von Are Waerland in
zwei spannenden Artikeln beschrieben: „Der Zauberberg im
Sagenland“, Waerlands Monatsmagazin Heft 10, 1952, und „Der
vollständige Bankrott der Fruchternährung auf dem Monte
Verità“ im darauffolgenden Doppelheft. Bei diesem
Unternehmen spielten die Gebrüder Gräser eine nicht
unbedeutende Rolle.
Gusto Gräser mit Are
Waerland im Englischen Garten von München |
Waerland schildert
darin in begeisterten Worten seine Bekanntschaft mit jenem
sagenhaften Berge bei dem Städtchen Ascona am Lago Maggiore in
der südlichen Schweiz. Die Eigenschaft dieses Berges ist es,
jeden Besucher in Bann zu schlagen und mit einem geheimnisvollen,
nicht zu beschreibenden Zauber zu umgeben. Heute steht auf diesem Berg
ein Hotel.
Die Geschichte
beginnt jedoch 1899, als sich in der Naturheilanstalt Rikli in
Österreich um den Sohn eines holländischen Industriellen,
Henry Ödenkoven, eine Gruppe junger begeisterungsfähiger
Menschen scharte. Sie erkannten und verwarfen die krankmachenden Übel
der Zivilisation und beschlossen, ein neues und unabhängiges
Leben zu führen. Im Oktober 1900 versammelte man sich in München
und zog von dort auf der Suche nach einem geeigneten Siedlungsraum
südwärts. Am Lago Maggiore angekommen, gerieten unsere
Siedler in den Bann des Monte Verità. Hier wollte der
Frugivore (Fruchtesser) Ödenkoven und seine Anhänger den
Grundstein zu einer neuen Menschheit legen. Außer Früchten
waren den Siedlern alle anderen Lebensmittel verboten. Nach zwei
Jahren lagen an den Folgen dieser Einseitigkeit die meisten
Mitglieder krank darnieder. Die meisten dieser hoffnungsfrohen Jugend
starben jung.
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Gustav Gräser
ist mutmaßlich der einzige Überlebende jenes denkwürdigen
Ereignisses. Als Are Waerland durch mich von Gräser erfuhr, war
er über diese Mitteilung sehr erstaunt und bat mich, eine
Zusammenkunft mit Gräser zu veranlassen. Mit Gräser in den
Gängen der Staatsbibliothek promenierend, tastete ich mich
langsam vor. Als das Stichwort „Monte Verità“ fiel, blieb
er erstaunt stehen. Mir war, als hätte er seit langer Zeit
dieses Wort zum ersten Male vernommen. „Monte Verità?“,
wiederholte er mit tiefer Stimme. Langsam brach sich dieses Mahnwort
durch den Schutt der Ereignisse eines halben Jahrhunderts die Bahn.
Am
6. März 1953 machte ich die beiden im Foyer des Feldhüter-Hotel
in München bekannt. Waerland, obwohl weißhaarig, war
aufrecht, fast jugendlich. Sportlich gekleidet, machte er den
Eindruck eines weltgereisten Europäers von Format. Gräser
gebeugt von der Last der Jahre, doch innerlich voll männlicher
Stärke und Trutzes. Bei Are Waerland ließen wir uns zum
Gespräche nieder. Waerland gab sehr dem Bedauern Ausdruck, daß
er zur selben Zeit, als auf dem Monte Verità Ödenkoven
und seine Siedler ihr Fruchtregime aufrechtzuerhalten versuchten,
nicht weit von jenem Orte an der Riviera weilte. Nur zu gerne wäre
er damals zu den jungen Menschen gestoßen.
Waerland erzählte
Gräser von dem heutigen Aussehen des Monte Verità mit
seinem Hotel. Für Gräser, einen Diogenes unserer Zeit, der
„seinen“ Berg noch in einer gewissen Verklärung sah, war
dies Ernüchterung und Enttäuschung. Jedoch war die
Begegnung herzlich.
Leider
konnte Gräser sich nicht mehr auf viele Einzelheiten erinnern,
die Are Waerland brennend interessiert hätten. Mit gewisser
Genugtuung vernahm er jedoch, daß Gräser der einzige war,
der sich nicht streng dem Fruchtregime unterordnete. Strenge Regeln
um den Kochtopf habe er immer verworfen, um sich mehr um das Siedeln
als solches zu kümmern. Während der Anwesenheit auf dem
Monte Verità machte er lange Wanderungen in die Berge, wobei
er sich mit Milch, Käse und Schwarzbrot versorgte. Dieser seiner
Eigenmächtigkeit verdankt Gräser sein langes Leben. ...
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Mit Waerland im Feldhüter-Hotel
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In
jungen Jahren verließ er seine Heimat auf der Suche nach der
„Urheimat“. Nach der Episode auf dem Monte Verità hat er
nicht mehr gesiedelt, sondern sich in freiwilliger Armut ganz seinem
Werk gewidmet. Mit seiner tiefen Stimme und seinen langen Haaren
mutet er mich an wie ein guter Berggeist. Das Rauschen eines Quells
oder der kühle Geruch eines Waldes scheint ihn zu umgeben. Das
Erdig-Standhafte ist sein Element. Und frohgemut wie er ist,
überschreibt er sein Werk: „Hier denk dich froh, betrübte
Welt“ und „Laßt uns mit Leben all das Elend töten“.
...
Zum
Mittagstisch waren wir Gäste Waerlands. Herr Gräser
interessierte sich sehr für die Einzelheiten der Waerlandkost.
Dieses gemeinsame Essen, zu dem auch Herr Batscheider geladen war,
ist Höhepunkt und Abschluß dieser Begegnung gewesen.
Aus
Wolfgang Schuldes: Are Waerland – Gustav Arthur Gräser. Eine
Begegnung.
In: Waerland Monatshefte 1956, S. 147-148