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Im Wandervogelnest
Harry Wilde
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Noch von einem anderen "Heiligen" muß ich erzählen, der bei mir sozusagen den Schneeball warf, welcher dann die Apostellawine auslöste; von dem "Privatgelehrten", Dichter und Sproß einer Münchner Offiziersfamilie [??], Gustav Gräser. Auch auf Plievier übte er einen starken Einfluß aus, wenn auch mehr in Äußerlichkeiten. Gusto, wie ihn seine Freunde nannten, hatte mir einige Tage lang über den Monte Verità, den "Berg der Wahrheit", bei dem kleinen Fischerdörfchen Ascona gelegen, interessante Dinge erzählt. ...

Bei dem "Durchpilgern" der Städte war Gusto also auch nach Weimar gekommen und hatte in unserem Wandervogelnest Quartier bezogen. Daß er von Stadt zu Stadt zog und sich füttern ließ ... nahm ich Gusto nicht übel, im Gegenteil, mir imponierte das mächtig. Auch sein Äußeres machte auf mich einen starken Eindruck. Die Haarsträhnen, die ihm bis auf die Schultern herabhingen, wurden durch ein farbiges Stirnband zusammengehalten, über der Mönchskutte trug er einen tunika-ähnlichen Überwurf, und an der Seite die härene Reisetasche, weil er als überzeugter Vegetarier auch Leder verabscheute. In dieser Tasche trug Gusto seine Gedichte mit sich herum ...

Die ganze Nacht erzählte er unserer Wandervogelhorde aus seinem Leben, besonders vom Monte Verità. Daß man ihn dort hinwegkomplimentiert hatte, konnten wir nicht ahnen. Die Namen der Besucher breitete er auf eine Weise vor uns aus, daß wir ganz still wurden. ...

Ascona und der Monte Verità übten in der Tat vor und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg eine einzigartige Anziehungskraft aus, der in gewissem Sinne zwei Jahrzehnte später auch Theodor Plievier erlag. Daß er sich 1949 in Avegno im Tessin, in unmittelbarer Nachbarschaft von Ascona, ein ihm angebotenes Haus kaufte, ging sicher weitgehend auf die Berichte von Gusto Gräser, Johannes Nohl und mir zurück. ...

Nach den ersten Berichten von Gusto Gräser wollte auch ich den "Berg der Wahrheit" sehen, doch ich kam nur bis Kronstadt in Oberbayern, wo Pfingsten 1920 gerade die erste große Wandervogeltagung nach dem Kriege stattfand. Am Schluß dieses Treffens saß eine Anzahl Gleichgesinnter, die es ebensowenig wie ich eilig hatten, wieder nach Hause zu kommen, im Schloßhof unter einer Linde (hoffentlich war es keine Eiche oder Buche). Es dämmerte schon, als plötzlich aus der Runde ein Mann aufstand und eine Ansprache hielt. Viele kannten ihn und wußten seinen Spitznamen: Muck. ...

Erst dreißig Jahre später begegnete ich Gusto Gräser wieder, auffallend angezogen wie in seiner Jugend und noch immer Objekt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er wandelte, diesmal in Sandalen, durch die zerbombte Bahnhofshalle von München. Ich war so verblüfft, daß ich laut ausrief: "Gusto!" Mein Begleiter, der mich vom Zug abgeholt hatte, war entsetzt und fragte mich, warum ich diesen Mann verhöhne, der ein bedeutender Gelehrter sei, mehrere Sprachen spreche und nur wegen seiner komischen Kleidung sonderbar wirke. Umso erstaunter war dann mein Bekannter über die Wiedersehensfreude Gusto Gräsers.

Harry Wilde

(In Harry Wilde: Theodor Plievier, Nullpunkt der Freiheit. München 1965, S. 111ff.)


Wilde nahm am Zug der NEUEN SCHAR von 1920 teil, war sozusagen ihr Presseoffizier. traf Gräser dann in den 50-er Jahren wieder in München.