Ein wandernder Königssohn


Es gibt ein Gedicht von Hauptmann, in dem eine Erinnerung an Gräser festgehalten sein könnte. Das Gedicht hat den Titel 'Legende' (CA IV, 163) und wurde am 8. Dezember 1909 niedergeschrieben.

Am 13. April des selben Jahres war Gusto Gräser durch Weimar gewandert und hatte dort unter anderen Johannes Schlaf aufgesucht. Er war auf der Suche nach Gönnern, die ihm eine Behausung für seine neugewonnene Familie finanzieren sollten. Wenn er schon in Thüringen war, ist anzunehmen, dass er auch ins nicht allzu ferne Schlesien kam und dort den seit langem mit Schlaf befreundeten Gerhart Hauptmann aufgesucht hat. Schlaf könnte ihm die Adresse gegeben haben. Da Gräser vor allem Dichter aufzusuchen pflegte, konnte er den damals bekanntesten nicht auslassen.

Wie eine Bestätigung dieser Vermutung erscheint nun, dass Hauptmann ein halbes Jahr später ein Gedicht niederschreibt, das die Begegnung mit einem Wanderer erzählt, einem Wanderer von ungewöhnlicher Art. Hauptmann legt die Begegnung ins Dämmerlicht des Legendären, offenbar um dem Wunderbaren, Märchenhaften, ja "Überirdischen" der Erscheinung gerecht zu werden.

Das Gedicht ist mit 'Legende' überschrieben und erzählt von einem armen Holzfäller, der in stürmischer Nacht Schritte vor seiner Hütte hört.


Da hob er sich auf und dachte bei sich:
Da draußen ist einer, ärmer als ich!
Und sieh: des Kienspans Flackerlicht!
leuchtet einem ins Angesicht.
Der war halbnackt und schwieg und stand
und regete weder Fuß noch Hand.
Aber er war von solcher Statur,
daß unser Holzfäller bei sich schwur:
hier winke ein weidlicher Gotteslohn,
er sei ein verirrter Königssohn! -
Die Wasser tosten zu Tale hinab.
Der Fremde kratzte die Sohlen ab,
schritt durch den holprigen Flur so leis
wie einer, der alle Wege weiß,
saß nieder am qualmigen Herde zur Rast
und ward des armen Konzen Gast. ...

Was ist das Besondere an diesem Wanderer und Gast? - Wie erfahren nicht mehr als: er ist arm, ärmer als ein Holzknecht, der immerhin seine eigene Hütte hat; er ist halbnackt, aber er wirkt wie ein verirrter Königssohn. Er lässt sich nicht herab zu bitten, er steht nur und schweigt. Er ist offenbar von großer Statur, alles andere als kümmerlich. Und er hat eine Art sich zu bewegen, die ebenfalls königlich ist: er schreitet auch dort noch, wo es holprig ist, und sein Gehen ist ein wissendes, ein bewusstes, ein tänzerisches Gehen: ein "Wandeln" fast.

Gräser ist ein besitzloser Wanderer, der allenthalben darauf angewiesen ist, an den Türen anzuklopfen und um ein Nachtlager zu bitten. Er ist hoch gewachsen und er geht halbnackt, wie gerade ein Dokument aus dem Sommer 1909 bezeugt. Am 24. Juli meldet die 'Tessiner Zeitung':

Gusto Gräser in Locarno verhaftet.

In der Via Romagna wurde gestern nachmittag der bekannte Propagandist der Nacktkultur Gustav Gräser verhaftet. Er trug eine allerdings im höchsten Grade auffällige "Bekleidung", die einen großen Teil des Körpers unbedeckt ließ. Obwohl wir für eine zweckmäßige Körperkultur und Natürlichkeit sehr eingenommen sind, eine derartige Herausforderung der Sitte empfinden wir als sinnlos und unmoralisch.

Auch das Feuilleton von Schlaf erwähnt die nackten Arme Gräsers, der offenbar kein Hemd trägt, sondern lediglich einen gelblichbrauenen Chiton sich über die Schultern geworfen hat. Und auch Schlaf betont, wie Hauptmanns Gedicht, die "hohe, schlanke, stattliche Gestalt von tadellos freier und ansprechender Haltung", hebt die "anmutigen Bewegungen" seines Gastes hervor und nennt sein Gehen ein "Schreiten".

Und die hohe Gestalt schreitet mit schönstem und ungezwungenstem Anstand freischrittig und freundlich in mein Arbeitszimmer hinein; schreitet bis mitten ins Zimmer, schwingt schnell, mit einer sicheren und anmutigen Bewegung das netzförmige Bündel von der Schulter, und halb wirft, halb legt er es ohne weiteres auf die Chaiselongue. (Frankfurter Zeitung vom 25. April 1909)

Gräsers Auftreten hatte ohne Zweifel etwas Königliches, auch in der Sicht von Schlaf. Gräser selbst sieht sich so:

Wandrer – wer ist's?
Freih wie der Wind, wie der Sonnenschein,
so - tritt - er - ein.
Wir fragen woher, wir fragen wohin? Von hier,
heisst es heiter, gradher wo ich bin!
Gibt frisch uns ein Lied, einen Ohrenschmaus -
Wahrhaftig - sind wir oder er hier zu Haus?...

Selbstbewusst tritt er auf, nicht wie ein Bettler sondern wie einer, der zu geben hat:

Wir fragen, wir drängen, wir wollen verstehn - - -
da sehn wir schon ferne den Wonnigen gehen.
Doch in uns fühlen wir uns selber bewährt –
uns Alle hat seine Nähe genährt.

Er, der "Wonnige", ist der Schenkende, der Nährende, tritt auf in der Gewissheit, dass er, weil "ichverloren, Urlebens König ist"! Ein königliches Selbstgefühl durchdringt nicht wenige Gedichte Gusto Gräsers.

Alle Schilderungen Gräsers stimmen auch darin überein, dass sie von seinem tänzerischen Schreiten berichten. So auch Hermann Hesse in der 'Morgenlandfahrt' von dem "Diener Leo", dessen Gestalt zweifellos auf Gusto Gräser zurückgeht. Die Szenerie von Hauptmanns Gedicht zeigt den Gast aber nicht nur als eine königliche, Ehrfurcht gebietende Erscheinung, sie deutet ihn geradezu als einen Sohn des Allerhöchsten, als den wandernden Gottessohn Jesus. So nämlich spricht des armen Conzen Gast:

"Dein Brot war gut! Dein Trank war rein!
Viel reiner strahlt deines Herzens Schrein.
Du hast mich an Leib und Seele erquickt,
Gott selber hat dir ins Auge geblickt.
Nun muß ich weiter, gedenke mein,
es soll dir, Bruder, vergolten sein!
Denn siehe, ich schreite durch Nacht und Graus
In meines Vaters goldenes Haus."

Die bescheidene Bewirtung, die der arme Hüttler und Holzfäller dem Wanderer bieten konnte, wandelt sich, wenn auch unausgesprochen, durch die Gegenwart des verborgenen Gottessohns zum heiligen Abendmahl von Brot und Wein. Es ist ein Geschehen, das nicht von ungefähr an ein Gedicht von Georg Trakl erinnert, im Geschehnis sowohl wie in seiner Deutung: Ein Winterabend. Denn auch dieses Gedicht dürfte durch einen Besuch Gräsers inspiriert worden sein. Dass Gräser Georg Trakl besucht hat, wissen wir von ihm selbst. Und dieser Besuch in oder bei Innsbruck ist in jenem Jahr 1913 geschehen, in dem Ein Winterabend entstanden ist.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden ...

So auch nach Schlesien. Aber auch abgesehen von einer solchen Parallele: Es bedarf kaum einer Begründung, dass das Anklopfen eines Armen, der um Kost und Nachtlager bittet, bei jedem christlich erzogenen Menschen sofort die Erinnerung an den anklopfenden Jesus wachruft - selbst dann, wenn es sich um einen gewöhnlichen Bettler handelt. Wieviel mehr in dem Falle, wenn einer sichtlich vom Geist getrieben umherwandert, eintritt, spricht und auftritt mit der Würde eines solchen? Dass Gräser als ein Nachbild des wandernden Jesus erlebt werden musste und erlebt wurde, ist gar keine Frage und auch mehrfach ausdrücklich bezeugt.

Wir haben allen Grund, auch in Hauptmanns Gedicht den Niederschlag einer solchen Erfahrung zu sehen - auch wenn dies, wie immer bei poetischen Schöpfungen, nicht bis ins Letzte beweisbar ist. Zumindest einen bestätigenden Hinweis in dieser Richtung können wir darin sehen, dass Hauptmann innerhalb vierzehn Tagen nach jener Niederschrift eine Planskizze zu 'Quint' entwirft, dem Roman eines Wanderers, der Jesus nachfolgt und als "Kohlrabiapostel" verspottet wird (siehe CA XI, 298-301). Und in diesen Entwürfen findet sich auch die Notiz: „Die Kolonie in Locarno“ (Sprengel: Mythen 127). Gemeint ist der Monte Verità, gemeint ist dessen Sendbote Gusto Gräser.