„Wenn der
Schnee ans Fenster fällt … „
Zu einem Gedicht Georg Trakls
Ein
Winterabend Wenn der Schnee
ans Fenster fällt, Lang die
Abendglocke läutet, Vielen ist der
Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der
Wanderschaft Kommt ans Tor
auf dunklen Pfaden. Golden blüht
der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft. Wanderer tritt
still herein; Schmerz
versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in
reiner Helle Auf dem Tische
Brot und Wein. Die zwei letzten Verse der
zweiten Strophe und die dritte Strophe lauten in der ersten Fassung (Brief an
Karl Kraus vom 13. 12. 1913): Seine Wunde
voller Gnaden Pflegt der Liebe sanfte Kraft. O! des Menschen
bloße Pein. Der mit Engeln
stumm gerungen, Langt, von
heilgem Schmerz bezwungen, Still nach
Gottes Brot und Wein.
Gusto Gräser erzählte meinem Freund Julius Kirchner,
er habe auch Trakl besucht. Dem sei aber nicht mehr zu helfen gewesen. Mehr ist nicht bekannt. Das einzige Nähere,
was wir dieser Aussage entnehmen können, betrifft den Zeitpunkt und das
Ergebnis dieses Besuchs. Er muss nicht allzu lange vor Trakls Ende geschehen
sein, als die Katastrophe sich schon abzeichnete, mithin in den Jahren 1913/14.
Gräser wollte ihm helfen, wollte ihn aus seiner Verzweiflung ziehen, aber der
in sich selbst Ertrinkende war nicht zu retten. Gibt es Spuren dieses Besuchs in Trakls
Biographie, in Trakls Dichtung? Tritt da vielleicht ein Wanderer auf, einer von
der Art Gusto Gräsers? Gewiss. Es ist eines der schönsten und mit
Recht berühmtesten Gedichte Trakls, in dem eine solche Gestalt uns vor Augen
gestellt wird. Und während sonst die traumhaft-wahnhaften Stimmungen des
Dichters alles Außen zugleich glühend und schattenhaft werden lassen –
schwebende Szenerie eines Traums im Hauch der Verwesung - , lässt diese Text –
darin allein schon hebt er sich heraus aus seiner Umgebung – klar, kühl und
nüchtern ein objektives Geschehen erkennen, eine Person, eine Tat, bestimmbar
in Raum und Zeit. Umso mehr so, wenn man die erste Fassung und die
Entwurfsvarianten sich vor Augen führt. Ein Winterabend. Es schneit. Die Abendglocke
läutet. Ein Wanderer tritt herein, langt, „von heiligem Schmerz bezwungen“ nach
dem, was auf dem Tisch steht: Brot und Wein. Ein ausgehungerter Bettler, möchte man
meinen: „O! des Menschen nackte Not“ – so im Entwurf. Aber dies ist kein
Bettler der üblichen Art, auch kein erschöpfter, verirrter Tourist, sondern
einer, „der mit Engeln stumm gerungen“ – wie Jakob. Ein „Gottesmann“ also. Sein
Schmerz ist ein heiliger Schmerz, die Wunde seiner nackten Not ist „voller
Gnaden“. Man hat die Szene meist auf Jesus und auf das
Abendmahl hin gedeutet. Aber der hier eintritt, ist nicht selbst Brot und Wein
– er langt nach Brot und Wein; er gibt nicht „der Liebe sanfte Kraft“ (Entwurf)
- er braucht der Liebe sanfte Kraft: ganz konkret, in der Form eines
sättigenden, wärmenden Essens. Er ist nicht mystische Gestalt, er „langt …
in den weißen Arm dem Tod“ (Entwurf). Gemeint ist: in den Arm dem weißen Tod. Dieser
Mensch ist, ganz konkret, dem Erfrieren nahe. Brot und Wein retten ihn: nicht
metaphorisch, nicht religiös, ganz leiblich. Und doch ist hier mehr ausgesagt als eine
Rettung aus leiblicher Not. In der zweiten Fassung dringt der Dichter zu einer
tieferen Schicht und Sicht der Szene durch: Da ist ein Wanderer, dessen Schmerz
heilig, dessen Wunde oder Blöße „voller Gnaden“ ist, weil er mit Engeln, mit
sich selbst gerungen hat - bis zu einem Schmerz der Überwindung hin, der die
hölzerne Schwelle zu Stein werden, ja, der Brot und Wein „in reiner Helle“
erglänzen lässt. Dass hier die Ehrfurcht vor der
Menschlichkeit eines Menschen die Dinge aufleuchten lässt, bestätigt Trakl
selbst in seinem Begleitschreiben an Karl Kraus vom 13. Dezember 1913. Die
Verse seien entstanden „als Ausdruck der Verehrung für einen Mann, der, wie
keiner der Welt ein Beispiel gibt.“ Ganz abgesehen von dem Präsens: „der … ein
Beispiel gibt“ – so spricht kein gläubiger Christ von Jesus, dem Gottessohn.
Der kann auch kaum als der Hungernde und Frierende gedacht werden, der „nach
Gottes Brot und Wein“ langt. Noch weniger kommt Trakl selbst in Betracht, der
ja von sich sagt, dass er „in diesen Tagen rasender Betrunkenheit und
verbrecherischer Melancholie“ seiner Verehrung für einen Anderen Ausdruck geben
wollte. Aber wer ist dieser Andere, wer der „heilige“
Wanderer, der in den eisigen Tagen des Dezembers 1913 an Trakls Tür gepocht
hat? Keine Frage ist, dass das Bild, wie es Trakl von dem Unbekannten
entwirft, auf Gusto Gräser wie auf kaum einen anderen passt. Wir wissen zudem,
dass dieser Dichter „auf der Wanderschaft“ den mit sich zerfallenen Lyriker
besucht hat. Aber gibt es – außer dem groben Zeitraum – nähere Hinweise darauf,
dass dies im November oder Dezember des Jahres 1913 geschehen sein könnte? Es gibt sie in der Tat. Sie bezeichnen
Möglichkeiten und mehr noch: hohe Wahrschein-lichkeiten. Am 2. November 1913 hält Gräser seine letzte
„Waldandacht“ im Bopserwald von Stuttgart, „bei der Schillereiche“. Ein
späteres Auftreten in diesem Jahr wird nicht mehr angekündigt, ist auch aus
Witterungsgründen unwahrscheinlich. Könnte Gräser in dieser Zeit nach Tirol
gereist, gar gewandert sein? Welche Gründe dafür hätte er haben können? Er war damals intensiv mit seiner
Nachdichtung des ‚Tao Te King’ von Laotse
beschäftigt. Im Sommer 1913 hatte er Teile daraus in einem Lokal der
Stuttgarter Königsstraße erstmals öffentlich vorgetragen. Er war zugleich ein
Verehrer Walt Whitmans, dessen Kamerado-Pathos er in seine Dichtung übernimmt.
Und er war zu dieser Zeit eng befreundet mit dem Stuttgarter Rechtsanwalt und
späteren „Christrevolutionär“ Dr. Alfred Daniel, einem Kierkegaard-Verehrer,
der einige Jahre später schreiben wird: (Emil) Gött wiederum reicht die Freundeshand dem Kameraden treu – Walt Whitman und seinen beiden unter uns lebenden Brüdern Gusto Gräser und Carl Dallago. All das sind Menschen geschlossener Polarität, nicht leidzerrissen wie Tolstoj oder Dostojewski, nicht Kranke, nicht Verzweifelte, nicht Verlorene, aber der Glanz der Gotteskindschaft ruht auf ihrem Leben und irgendwie sind sie Brüder Jesu. … Nicht zufällig ist, dass sowohl Dallago als
Gräser sich Laotse als ihren
geistigen Urahn erlesen haben. Beide haben den Tao te King ins Deutsche
übertragen. Zu Dallago schreibt Otto Basil in seiner
Trakl-Biographie, dass der Dichter (Trakl) in seinen letzten zwei Lebensjahren … in den Bannkreis der Innsbrucker Halbmonatsschrift „Der Brenner“ (1910-1954) kam. „Der Brenner“ war … eine kleine kämpferische Zeitschrift der expressionistischen Literaturavantgarde vom Schlage des „Sturm“ und der „Aktion“ … (die) … in der Person des Dichterphilosophen und Tao-Übersetzers Carl Dallago (1869-1949) einen Mitarbeiter besaß, der ein leidenschaftlicher Verfechter eines ethisch revolutionär gesinnten Christen-tums und ein ebensolcher Gegner des konventionellen, verweltlichten Kirchenchristentums, vor allem der Römischen Kirche, war. Dallago soll es auch gewesen sein, der Trakl mit Kierkegaards Schriften vertraut gemacht hat. (Otto Basil: Georg Trakl, S. 11f.) Kürschners Literaturlexikon kennzeichnet
Dallago weiterhin als einen “sehr naturver-bundenen” Lyriker und Philosophen,
der “Aphorismen im Geiste Nietzsches und Whitmans” verfasst habe. Wer Gräser kennt, der weiß, dass nahezu alle
diese Charakterisierungen auch auf ihn, den Wanderer und Dichter zutreffen.
Nietzsche, Whitman, Laotse – das waren auch seine Sternbilder. Der Kenner weiß
auch, dass sein enger Freund und Mitstreiter Alfred Daniel eben jenes
revolutionäre Tatchristentum im Sinne Kierkegaards gelehrt und nach dem Krieg
in seiner „Christrevolutionären Bewegung“ zu verwirklichen gesucht hat, für das
auch Dallago eintrat. Der einstige Rechtsanwalt ging, nachdem er wegen
Kriegsdienstverweigerung sein Anwaltspatent verloren hatte, ins Zuchthaus von
Ludwigsburg – als Helfer und Berater der Gefangenen. Im Jahre 1913 war von Dallago ein Jesus-Buch
erschienen. Vermutlich waren im „Brenner“ auch erste Nachdichtungen Laotses aus
seiner Feder gedruckt worden. Dallago hatte Laotse im Frühjahr 1911 für sich
entdeckt, also etwa gleichzeitig mit Gusto Gräser, seine dichterische Umsetzung
hat er im Dezember 1914 abgeschlossen. Doppelter Anlass also für Daniel und Gräser,
nach Innsbruck zu schauen. Da war offenbar ein Bruder im Geiste aufgetaucht,
ein Bruder im Geiste Nietzsches-Whitmans-Laotses und eines als Praxis
verstandenen Christentums. Und wenn man weiß, dass es immer schon Gräsers Art
gewesen war, geistesverwandte Menschen aufzusuchen, bei ihnen anzuklopfen, sich
ihnen vorzustellen, auch dann, wenn er weite Strecken zurück-zulegen hatte,
dann wird man kaum zweifeln, dass es für ihn im Dezember 1913 kein Halten gab,
sei es auch durch Kälte und Schnee, diesen unbekannten Freund im fernen Tirol
aufzusuchen und kennen zu lernen. Dallago aber wird ihn auf Trakl hingewiesen
haben: Hier sei ein Dichterkollege in seelischer Not, und wenn überhaupt einer,
dann werde ihn einer wie er, dieser Optimismus und Lebenskraft ausstrahlende
Wanderer, aus seiner Lethargie heraus-reißen können. Wir wissen, durch Gräser selbst, dass der
Versuch missglückt ist. Geglückt aber, in seinem Widerschein, ist ein Gedicht. Es könnte sein, dass dies nicht die einzige
Spur jenes Zusammentreffens geblieben ist. Denn in unmittelbarer Nachbarschaft
jenes Briefes an Karl Kraus, in dem Trakl die Erstfassung von ‚Ein Winterabend’ mitteilt, steht ein anderer Brief, der das
Zeugnis eines seelischen Zusammenbruchs enthält. Die Herausgeber haben ihn wohl
nicht ohne Grund vor den Kraus-Brief gestellt. Es ist, nach Basil, die Stimme aus einem
„Inferno, das bis heute mysteriös geblieben ist“ (S. 132). „Mein Leben ist in
wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden“, schreibt Trakl an Ludwig Ficker.
„Ich weiß nicht mehr ein und aus. Es (ist) ein so namenloses Unglück, wenn
einem die Welt entzweibricht. O mein Gott, welch ein Gericht ist über mich
hereingebrochen … wie klein und unglücklich bin ich geworden.“ Es liegt nahe, wie es auch die Herausgeber
tun, einen Zusammenhang anzunehmen zwischen diesem Zusammenbruch und jenem
Gedicht, das heißt, zwischen dem Wanderer, der über des Dichters Schwelle
tritt, und der Erschütterung, die ihn zusammenbrechen lässt. Er ist zerbrochen an Einem, der stärker war
als er. Er ist sich seiner Kleinheit und seines Unglücks bewusst geworden neben
einem, der so viel größer und glücklicher war als er. Ohne es zu wollen, war
der Wanderer, „der wie keiner der Welt ein Beispiel gibt“, zum Gericht geworden
über ein Leben, das „in rasender Betrunkenheit und verbrecherischer
Melancholie“ sich selbst verzehrte. „Den Anlass zu diesem Verzweiflungsausbruch
hat Trakl nie preisgegeben“, schreibt Otto Basil (S. 133). Spricht er nicht, genügend deutlich, aus
seinem Gedicht? |