Das Treffen mit Hermann Hesse in Monti

Nach seiner Entlassung aus der Haft in Gefängnissen und Irrenhäusern im Frühjahr 1916 war Gräser von Kronstadt aus quer durch Siebenbürgen gewandert, überall Reden haltend und seine Schriften verteilend. In Hermannstadt, Mediasch, Bistritz trat er auf, von fortschrittlichen Intellektuellen mit Begeisterung aufgenommen, von bürgerlicher und marxistischer Seite dagegen heftig angegriffen.

Meldung der Siebenbürgisch-Deutschen Tagespost vom 6. Mai 1916

Noch am 23. Juni 1916 antwortete er mit einem Leserbrief an die 'Bistritzer Deutsche Zeitung' auf solch einen Angriff. Rund zehn Wochen später finden wir ihn wieder in Ascona. In der Zwischenzeit hatte Rumänien Österreich den Krieg erklärt, Siebenbürgen wurde von den Rumänen besetzt. Gräser war gerade noch durchgeschlüpft. Wie er als verurteilter Kriegsdienstverweigerer sich durch österreichische, deutsche und schweizerische Gebiete durchgeschlagen hat, bleibt der Phantasie überlassen. Unbekannt ist auch, ob Hermann Hesse von seinem Kommen erfahren hat. Jedenfalls meldet er am 5. September mit einem Telegramm an Hilde Neugeboren seine Ankunft in Monti an. Am selben Tag, in der Nacht vom 4. auf den 5. September, kommt Gräser zu seiner Familie auf den Monte Verità zurück. In der selben Nacht bringt seine Gefährtin Elisabeth ihr drittes gemeinsames Kind zur Welt. Am Mittwoch, den 6. September, trifft Hesse in Monti ein. Am folgenden Tag, Donnerstag, 7. September, begegnet er dort nach langjähriger Entfremdung zum ersten Mal wieder Gusto Gräser.

Aufzeichnung von Harald Szeemann nach Angaben von Hesses Sohn Heiner: „7. Sept. 16 Trifft in Monti c/o Neugeboren Graeser“.

Am siebten September 1916 haben Hesse und Gräser ihren alten Freundschaftsbund wieder erneuert. Sie trafen sich in Monti della Trinità sopra Locarno im Hause der Gräserfreundin Albine Neugeboren, damals vertreten durch ihre Tochter Hildegard (1891-1979). An jenem Abend schon wird jenes denkwürdige Gespräch stattgefunden haben, das auch im Roman auf die Wiederbegegnung folgt. Demian spricht im dritten Kriegsjahr so, wie von dem Kulturrebell Gräser nicht anders zu erwarten war:

Er sprach vom Geist Europas und von der Signatur dieser Zeit. Überall … Herdenbildung, aber nirgends Freiheit und Liebe. … Sie fühlen alle, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben, weder ihre Religionen noch ihre Sittlichkeit, nichts von alledem ist dem angemessen, was wir brauchen. … Es wird ein Aufräumen mit steinzeitlichen Göttern geben. Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen, und sie wird es.” (GW V, 133f.)

Folgt man den Angaben im Demian-Roman, dann ist Hesse am folgenden Tag, also am 8. September, der Einladung seines Freundes gefolgt und hat ihn und seine Familie im Gräserhaus auf dem Monte Verità besucht. Hier trat ihm erstmals Frau Elisabeth, die Lebensgefährtin von Gusto und Mutter seiner Kinder, entgegen. Alles Nähere und Weitere ist nachzulesen im Roman von Hesse ab Seite 136 in Gesammelte Werke, Band 5:

Der neue Tag brach für mich als ein feierlicher Festtag an … So hatte ich als kleiner Knabe die Welt am Morgen der großen Feiertage gesehen, am Christtag und an Ostern.”

Die Begegnung mit der Familie Gusto Gräsers ist ihm wie Weihnachten und Ostern zugleich, ein Fest, ein Feiertag. Hesse erlebt sie als “Heimkehr”. Bei diesem ersten Besuch ist es nicht geblieben, das sagt uns Hesses Erzählung deutlich genug. Auch Frau Mia kam auf den Wahrheitsberg und freundete sich mit Elisabeth an. Nach rund drei Wochen Aufenthalt fuhr Hesse zurück nach Luzern und Bern, nachdem er zum Abschied Gräser noch einmal besucht und dabei dessen Zeichnungen angesehen hatte. Eine wünschte er sich besonders: die mit dem Sperber. Gräser, der vergessen hatte, ihm das Blatt mitzugeben, schickt es ihm noch am selben Tag, am 26. 9. 16, als Postkarte nach. Der Sperber sollte dann ein Leitmotiv in Hesses Erzählung werden.

Die Karte trägt gleich zweimal Gräsers Hauszeichen: den Fünfstern, das Pentagramm. Im Demian-Roman wird dieses Symbol oftmals wiederkehren als das Signum der „Gezeichneten“, derer „mit dem Zeichen“. Demian, Frau Eva und Sinclair – Gräser, Elisabeth und Hesse - tragen es, äußerlich oder innerlich, als Erkennungsmal ihres Bundes, des Bundes vom Monte Verità.

Wir, die mit dem Zeichen, mochten mit Recht der Welt für seltsam, ja für verrückt und gefährlich gelten. Wir waren Erwachte, oder Erwachende, und unser Streben ging auf ein immer vollkommeneres Wachsein, während das Streben und Glücksuchen der anderen darauf ging, ihre Meinungen, ihre Ideale und Pflichten, ihr Leben und Glück immer enger an das der Herde zu binden. … Für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft, nach welcher wir alle unterwegs waren, deren Bild niemand kannte, deren Gesetze nirgend geschrieben standen.” (Hermann Hesse: Demian. GW V, 142f.)

Das Werdenwollende ruft!” (Gusto Gräser)