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Die Reihe der Zeugen

Michael Georg Conrad, Thomas Mann und andere


Gräser kam zu Thomas Mann, um Beistand zu erbitten. Er hatte an demTag, am 30. November 1926, im Frauenvereinssaal einen Vortrag halten wollen, an dem sein Gegenüber seine Rede in der Tonhalle tatsächlich gehalten hat: eine Gerichtsrede über München, genauer gesagt über den damals herrschenden politischen Kurs in München und Bayern. Es ist, von den Daten und Fakten her, wie wenn Mann an die Stelle eines anderen getreten wäre, der inzwischen im Gefängnis saß.

Durch den Kapp-Putsch von 1920 hatte mit Gustav von Kahr eine rechtsgerichtete Regierung die Macht in Bayern an sich gerissen. Sie konnte kein anderes Ziel haben, als jede Spur des Aufstandes von 1918/19 zu tilgen. Als Gräser im Herbst 1926 in die Stadt zurückkam, konnte sie sich der noch gültigen Ausweisung aus Bayern von 1919 bedienen. Die aber genügte ihr nicht mehr. Gräser war inzwischen durch den Zusammenbruch Österreich-Ungarns zu einem Staatsbürger des neu entstandenen Rumänien geworden. Der Regierung galt er als Staatsfeind. Und als der "staatsfeindliche Rumäne Gustav Gräser" sollte er nun, nach Verbüßung einer 14tägigen Haft, aus ganz Deutschland ausgewiesen werden.

In der kleinen, meist bäuerlichen und streng kirchlich geprägten deutschen Minderheit Siebenbürgens hätte der aufrührerische Wanderredner keine Wirkungs- und damit keine Lebensmöglichkeit auf längere Sicht gehabt. Mit der Ausweisungsverfügung war die Axt an die Wurzel seiner Existenz gelegt.

Darum geht Gräser in den ersten Dezembertagen in München von Haus zu Haus, die Unterstützung von Menschen öffentlichen Ansehens zu erbitten. Mit einer Unterschriftenliste bekannter Namen will er die Ausweisung aus Deutschland abzuwenden versuchen. Da er offiziell als "Ausländer" gilt, muß er sein Deutschsein und seine "deutsche" Gesinnung betonen, dies umsomehr, als "deutsch sein und (einen guten) Charakter haben" inzwischen zur Gleichung, zum ethischen Gütesiegel erhoben worden ist. Ein "guter Deutscher" kann kein Staatsfeind sein, auf dieses selbstverliebte Vorurteil der Nationalreaktionäre setzen auch die Fürsprecher Gräsers, und dies, wie sich zeigen sollte, nicht gänzlich ohne Erfolg.

Welche Menschen waren es, die er kannte, die ihn schätzten, von denen er Beistand erwarten durfte? Wir wissen so gut wie nichts über Gräsers damalige menschliche Beziehungen in München, die vorliegende Bittschrift ist deshalb eine einzigartige Quelle.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis am 2. Dezember setzt Gräser zunächst ein Gesuch an die Regierung Oberbayerns auf, wendet sich dann am selben Tag noch an die Vertretung seiner Landsleute, die Siebenbürger Sachsengruppe in München, sucht dann an seinen alten Freund Conrad auf, den Nervenarzt Arthur Ludwig und den Schriftsteller Rudolf von Delius.

Von Michael Georg Conrad war schon die Rede. Gräser hat ihn nach seiner Ankunft von Dresden her sicher als ersten aufgesucht. Der über Achtzigjährige scheint einen Jüngeren, den Schriftsteller Norbert Stern, beauftragt zu haben, sich um die Unterbringung Gräsers zu kümmern. Dieser verschafft dem mittellosen Wanderer ein Quartier bei einer befreundeten Zimmerwirtin. Gräser hat, vermutlich mit finanzieller Unterstützung seiner Freunde, schon die Plakate für seine geplanten Vorträge drucken lassen, als er am 15. November in seiner Pension in der Liebfrauenpassage verhaftet wird. Nachdem Conrad davon erfahren hat, dürfte er sich um Hilfe an Thomas Mann gewandt haben, dessen ersten dichterischen Versuchen er einst "zum Licht" verholfen hatte. Der erinnert sich ein Jahr später, nachdem Conrad verstorben war, dankbar und ehrend seines Förderers und Freundes.

Unvergeßlich die drängende Neugier und junge Geisteslust, mit der der ungeduldig aus dem Pferch der Schule und des Heimatlich-Bürgerlichen Brechende einst die 'Gesellschaft' las! Unvergeßlich, wie hohen Herzens er durch die Straßen der Vaterstadt ging an dem Tage, da - sollte man's glauben - Verse von ihm selbst, unter seinem Namen, in der bewunderten Zeitschrift gedruckt standen! Als ich dann auch ein Münchner geworden, füllte gar ein erster erzählerischer Versuch des Neunzehnjährigen eine ganze Flucht ihrer jugendfreundlichen Seiten. (T. M. : Andenken 448)

Und dann rühmt er seinen verehrten Mentor, nicht ohne Spitzen gegen den unerfreulichen Zustand der Stadt:

Er riß Türen und Fenster nach dem Auslande auf, er stand an der Spitze derer, die aus München die europäische Zentrale machten, die es einst war. ... Er war wirklich der Mann dieser Stadt, und sie war wie er: bäuerlich volkhaft und weltoffen, und europäisch zugleich - das Ideal eines Mannes, das Ideal einer Stadt. (447f.)

Diese "aufrechte Reckengestalt" habe ihm durch dreißig Jahre immer nur Wohlwollen entgegengebracht, er, "der Einfache, Rüstige, Knorrige, der Frankenbauer dem menschlich und künstlerisch aus so ganz anderm Stoff Gemachten. Denn er war frei und gütig, ohne Feindseligkeit" (448). Er habe den Älteren, der ihm das vertrauliche "Du" geboten, ihn mit treuherziger Kameradschaftlichkeit umfaßt habe, "wundervoll" gefunden. Und er endet sein Gedenken mit den anrührenden Worten:

Während die Worte der Redner unterm Gewölb ineinanderhallten, stand ich lange in Ehrerbietung geneigt. Ich bedachte die Jugend, das Altern, den Tod, und ich wünschte, auch an meinem Sarge möchte einst jemand so stehen: das Haupt geneigt, um mein Altern und Sterben zu ehren, weil von meiner Jugend auf ihn, den Nachkommenden, weckende und weltöffnende Wirkungen ausgegangen. (448f.)

Auch das mußte dem so Sprechenden bewußt sein, als ihm Gusto Gräser gegenübertrat: hier stand ein wie er selbst von dem bewunderten Älteren Geförderter, mit dem Du und mit herzlicher Kameradschaftlichkeit Umfaßter. Ob und wann und mit welcher Empfehlung der in Not Geratene an den in der Fülle seines Ansehens Stehenden verwiesen worden ist, entzieht sich unserer Kenntnis, doch ergeben Beziehungen und Umstände naheliegende, leicht nachvollziehbare Wahrscheinlichkeiten. Die zum Beispiel, daß der sonderbare "Vagabund" ohne die Fürsprache eines Dritten (d. h. Conrads!) im Hause Mann wohl kaum empfangen worden wäre. Und die andere, die daraus folgt: daß das Bekanntwerden mit dem Schicksal Gräsers den politisch-moralisch ohnehin gegen die Macht der Reaktion gereizten Schriftsteller zum vollen Ausdruck seiner Wut und Verachtung in öffentlicher Rede getrieben haben könnte. Jetzt nennt er München offen - und er meint die politische Führung und die von ihr erzeugte Atmosphäre - "eine dumme, die eigentlich dumme Stadt", "Hort der Reaktion", "Sitz aller Verstocktheit", und er scheut sich nicht, er, der Bürger, der Konservative, mit Nietzschepathos den Aufstand auszurufen.

Was in der Luft liegt, ist etwas wie eine geistige Revolte, wie eine Erhebung, ein Aufstand. Es gärt in München. Ein Joch will abgeschüttelt sein ... (Kolbe: Zauber 388).

Solche Worte sind von Mann bis dahin nicht gehört worden. Es scheint so (und es scheint nicht nur so), als habe er sich zum Gegenspieler Hitlers und seiner marschierenden Horden aufwerfen, nein: ermannen wollen. Nicht nur in seiner Rede. Dem verführerischen Mythenspiel des Machtmenschen mußte ein anderer, ein humaner Mythos entgegengesetzt werden, die Geschichte eines Menschen, der, in die Grube geworfen, am Ende zum Segenspender für seine Brüder wird: die ewig sich wiederholende, die mythische Geschichte von der Auferstehung des in den Untergang Getriebenen. Thomas Mann hat für seinen Josefsroman mehrfach betont, daß es ihm nicht um irgendeine Zeit zu tun sei, sondern um den "Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft", der in dem Worte 'Einst' verborgen liegt, also um Zukunft, um "potentielle Gegenwart" (367). Was im Klartext nur heißen kann, daß er das Kommen eines neuen "Josef", die Befreiung des Gefangenen aus seiner Grube - und seine geistige Klärung und Hellwerdung! - dichterisch-mythisch ermöglichen wollte. Daß seine Fürsprache für den verfolgten Gräser schließlich dessen Verbannung aus Deutschland verhindert hat, wirkt wie eine kleine, reale Parallele oder praktische Vorübung zu seinem großen ideell-literarischen Entwurf.

Gräsers Bittgang führt ihn am ersten Tag, nach Conrad und der Siebenbürger Landsmannschaft, zu dem Nervenarzt Dr. Arthur Ludwig. Wer ist dieser Ludwig?

Der Gräserfreund und Schwabinger Hans Brandenburg sieht in seinen Erinnerungen neben den großen Namen "bescheidenere Talente" wirksam, die gleichwohl in München, "kristallisierend und organisierend" , Kreise gebildet hätten. "Dafür war Kathi Kobus mit ihrer Weinkneipe, Herr Fürmann mit seiner Pension ein Beispiel, und auf geistigerem Felde war es der Nervenarzt Doktor Artur Ludwig". (München leuchtete 268)

Jahrzehntelang ist sein ärztliches Familienheim an der Leopoldstraße ein Mittelpunkt gewesen. Ohne daß Geldmittel vorhanden waren, wurden an regelmäßigen Abenden in privaten Räumen große Gesellschaften vereinigt und bescheiden bewirtet, es wurde musiziert, ein Dichter las, ein Rezitator trug vor, ein Gelehrter sprach über irgendein Gebiet der Geisteswissenschaften, ein Denker oder Laienredner über eine Lebens- oder Erkenntnisfrage, und die Einladungen waren je nach dem behandelten Thema oder den sonstigen Darbietungen mit genauem Programm an wechselnde Kreise ergangen: eine große, Hunderte von Namen umfassende Kartothek mußte also, in Einteilung und Gliederung gemeinschaftlicher oder sich überkreuzender Interessensphären, verwaltet und immer wieder frisch ausgezogen werden.

Ist es anmaßend zu denken, unter den Gästen oder den "Laienrednern" könne auch ein Gusto Gräser gewesen sein? Wir werden sehen.

Die erste Sunde des Abends galt zwanglosem Plaudern in Gruppen bei einer Tasse Tee und einem kleinen Imbiß, dann erst nahm man zum Hören Platz. Und Doktor Ludwig verschmähte es nicht, Teller mit belegten Broten herumzutragen und zu vorgerückter Stunde Teppiche wegräumen zu helfen, damit die Jugend noch zu einem Tänzchen käme. Doch ein Höhepunkt des Abends, ja, seines Lebens war es jedesmal für ihn, wenn er in der Plauderstunde Gäste miteinander bekannt machte, die sich seiner Meinung nach etwas zu sagen hatten. Er tat das wie ein Heinzelmännchen, fast auf Zehen trat er von dem einen zu dem anderen, er gab höchstens das Stichwort oder wartete stillschweigend im Hintergrund, ob es von selber fiel, und entfernte sich dann wieder unmerklich, jedoch so strahlend, als habe er in seiner stummen Regie, mit seiner einzigen Leidenschaft, Menschen zusammenzuführen, einen Akkord in der ewigen Harmonie der Geister angeschlagen. (München leuchtete 268f.)

In diesem Kreis von feinen, gebildeten, kultivierten Leuten scheint ein Gusto Gräser kaum vorstellbar. Oder vielleicht doch? Lesen wir nämlich, daß Dr. Arthur Ludwig, nach Ausweis einer Polizeiliste, dem Schwabinger 'Tat'-Kreis angehörte, erscheint der liebenswürdige Gastgeber plötzlich in einem anderen Licht (Linse 94). Belegt ist auch, daß er den Otto Gross-Freund Franz Jung ärztlich behandelte. Vor seiner Hausgesellschaft durfte auch der Sufi-Mystiker und Musiker Hazrat Inayat Khan seine Botschaft verkünden. Und dann finden wir noch, daß dieser Arthur Ludwig schon mit Diefenbach korrespondierte. Von der Lebensreform über Anarchismus und Psychoanalyse bis zu östlicher Mystik spannte sich also sein Interessenkreis. Da passte ein Gusto Gräser bestens hinein.

Damit wird klar, daß der Mann, der einmal der Runde um Mühsam und Groß, Graf und Jung angehörte (oder ihr zumindest nahe stand) - aber ansonsten nicht weiter auffiel - , die dort noch heiß gekochten Ideen zwar ins harmlosere Kulturbürgerliche gemildert aber doch auf seine Weise weitergetragen hat. Daß Menschen in zwanglosen Gesellungen und in deren lockerer Vernetzung sich am besten entfalten und damit Gesellschaft gestalten können, hat er auf seine Weise umgesetzt. Herrschaftsfreie Kommunikation muß ihm ein Ziel bedeutet haben, für das es lohnte, seine Kräfte und Mittel einzusetzen.

Wir müssen folgern, daß Gräser und Ludwig "seit einer Reihe von Jahren", nämlich seit den Schwabinger Vorkriegszeiten sich gekannt und in verwandter Gesinnung sich gefunden haben. Gräser hat dem "Herrschen", der Tagesparole jener Zeit, immer das "Dienen" entgegengestellt:

Was taugt, das geht gedeihn,

geht wahrlich dienen ...

Dienen ist Wahrheit, wahret Uns wohl.

Herrschen ist hohl - ist herzmordende Pein.

Dienen ist Seeligsein. ...

Wo sich nit fügt ein Mein zu einem Dein,

wo nit gedient wird, da kann nichts gedeihn.

Wie Du willt - du Weib, du Mann - hier geht an:

Tiefeinanderdienen wie die Simsumbienen ...

Herrsche - so bist Du Sklave!

Diene, so bist Du freih!

Daran knüpft Arthur Ludwig an, wenn er seinem Besucher den Satz ins "Stammbuch" schreibt:

Da ich Herrn Gustav Gräser seit einer Reihe von Jahren als einen edel gesinnten Menschen kenne, der sich im Dienste der Gemeinschaft stehend fühlt, schliesse ich mich obigem Gesuche mit voller Überzeugung an.

Auch Arthur Ludwig fühlte sich im Dienste der Gemeinschaft stehend, wenn er Käsebrote herumtrug, Teppiche aufrollte, Gesprächsbande anzettelte, das hören wir aus der Beschreibung Brandenburgs heraus. Geistig-seelische Verbindungen, das heißt, Freundschaften und damit wahre Gesellschaft anzubahnen - das machte ihn glücklich. Im Nebenberuf hat Ludwig zu tun versucht, was Gräser im Hauptberuf tat.

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