Zurück Ein guter Berggeist              

Von Wolfgang Schuldes

Der Student Wolfgang Schuldes lernte Gräser in der Bayerischen Staatsbibliothek kennen, wo dieser gewöhnlich am Vormittag dichtend und schreibend im Lesesaal saß. Schuldes war ein Anhänger des schwedischen Ernährungsreformers Are Waerland (1876-1955). Er bemühte sich, Gräser mit dem Schweden bekannt zu machen, der schon früher über den Monte Verità geschrieben hatte. Am 6. März 1953 kam es zu einem Treffen in einem Münchner Hotel. Schuldes berichtet darüber in den 'Waerland Monatsheften' 1956, S. 147-148:

Gräser war mir seit langem bekannt. Oft sah ich ihn in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Aber auch in anderen Bibliotheken Münchens wurde er mir zum vertrauten Anblick. Seine ganze äußere Erscheinung, besonders sein langes Haar und die an das griechische Vorbild erinnernde Kleidertracht machen ihn auch allen jenen bekannt, die weder seinen Namen noch seine Geschichte kennen. Es wird schwer sein, ihn ohne seine Mappe mit Manuskripten anzutreffen. Persönlich kannte ich ihn nur aus einigen Gesprächen, in denen er mir den Sinn und Aufbau seines Hauptwerkes erläuterte. Seine gerade, ernste und männliche Erscheinung beeindruckte mich stark.

Seine eigentliche Bedeutung wurde mir erst später bekannt. Das Siedlungsunternehmen auf dem Monte Verità, das zu Beginn dieses Jahrhunderts gegründet wurde, wurde von Are Waerland in zwei spannenden Artikeln beschrieben: ...

Gustav Gräser ist mutmaßlich der einzige Überlebende jenes denkwürdigen Ereignisses. Als Are Waerland durch mich von Gräser erfuhr, war er über diese Mitteilung sehr erstaunt und bat mich, eine Zusammenkunft mit Gräser zu veranlassen. Mit Gräser in den Gängen der Staatsbibliothek promenierend, tastete ich mich langsam vor. Als das Stichwort “Monte Verità” fiel, blieb er erstaunt stehen. Mir war, als hätte er seit langer Zeit dieses Wort zum ersten Male vernommen. “Monte Verità?”, wiederholte er mit tiefer Stimme. Langsam brach sich dieses Mahnwort durch den Schutt der Ereignisse eines halben Jahrhunderts die Bahn.

Im Gespräch mit Are Waerland
6. März 1953 im Münchner Hotel Feldhüter

Am 6. März 1953 machte ich die beiden im Foyer des Feldhüter-Hotel in München bekannt. Waerland, obwohl weißhaarig, war aufrecht, fast jugendlich. Sportlich gekleidet, machte er den Eindruck eines weltgereisten Europäers von Format. Gräser gebeugt von der Last der Jahre, doch innerlich voll männlicher Stärke und Trutzes. Bei Are Waerland ließen wir uns zum Gespräche nieder. Waerland gab sehr dem Bedauern Ausdruck, daß er zur selben Zeit, als auf dem Monte Verità Ödenkoven und seine Siedler ihr Fruchtregime aufrechtzuerhalten versuchten, nicht weit von jenem Orte an der Riviera weilte. Nur zu gerne wäre er damals zu den jungen Menschen gestoßen.

Waerland erzählte Gräser von dem heutigen Aussehen des Monte Verità mit seinem Hotel. Für Gräser, einem Diogenes unserer Zeit, der “seinen” Berg noch in einer gewissen Verklärung sah, war dies Ernüchterung und Enttäuschung. Jedoch war die Begegnung herzlich.

Leider konnte Gräser sich nicht mehr auf viele Einzelheiten erinnern, die Are Waerland brennend interessiert hätten. Mit gewisser Genugtuung vernahm er jedoch, daß Gräser der einzige war, der sich nicht streng dem Fruchtregime unterordnete. Strenge Regeln um den Kochtopf habe er immer verworfen, um sich mehr um das Siedeln als solches zu kümmern.Während der Anwesenheit auf dem Monte Verità machte er lange Wanderungen in die Berge, wobei er sich mit Milch, Käse und Schwarzbrot versorgte. Dieser seiner Eigenmächtigkeit verdankt Gräser sein langes Leben. ...

In jungen Jahren verließ er seine Heimat auf der Suche nach der “Urheimat”. Nach der Episode auf dem Monte Verità hat er nicht mehr gesiedelt, sondern sich in freiwilliger Armut ganz seinem Werk gewidmet. Mit seiner tiefen Stimme und seinen langen Haaren mutet er mich an wie ein guter Berggeist. Das Rauschen eines Quells oder der kühle Geruch eines Waldes scheint ihn zu umgeben. Das Erdig-Standhafte ist sein Element. Und frohgemut wie er ist, überschreibt er sein Werk: “Hier denk dich froh, betrübte Welt” und “Laßt uns mit Leben all das Elend töten”. ...

Zum Mittagstisch waren wir Gäste Waerlands. Herr Gräser interessierte sich sehr für die Einzelheiten der Waerlandkost. Dieses gemeinsame Essen, zu dem auch Herr Batscheider geladen war, ist Höhepunkt und Abschluß dieser Begegnung gewesen.

Mit Are Waerland im Englischen Garten
Top